Woher kommt die Gewalt?

Cedric Fabre im Gespräch mit Estelle Surbranche
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Du hast das Buch in sechs Monaten geschrieben?

Ja, ich muss mich ganz in das, was ich schreibe, einfühlen. Dann schiebt die Wirklichkeit sich in die Narration, und der Roman wird gefüttert von dem, was ich erlebe … Ich kann den Schreibprozess des Buches nicht trennen von seinem Kontext. Zwischen der Wirklichkeit und dem Buch muss ein Austausch sein. Sechs Monate ist für mich eine gute Zeit, danach kann ich lesen, was ich geschrieben habe, und beurteilen, ob die Geschichte kohärent ist, bin aber noch in dem Flow, der es mir erlaubt hat, sie aufzuschreiben.

Was ist der Ausgangspunkt Deiner Bücher?

Als Erstes kommen mir Ideen für Szenen oder Situationen. Aber richtig los geht es erst, wenn etwas überquillt …. Ein kurzer Moment ist mein drittes Buch über Marseille, und als ich es 2016 geschrieben habe, war die Misshandlung durch die Politik gerade auf dem Höhepunkt. Ich war darüber so sauer, dass ich es einfach aufschreiben musste … Deswegen werden meine Figuren vom Leben genauso misshandelt wie die Einwohner von Marseille von der damaligen politischen Führung misshandelt worden sind. Dieser Gedanke der Misshandlung ist vom Team des „Printemps marseillais“ (Anm.d.Red. „Marseiller Frühling“, politisches Bündnis, das 2020 die Kommunalwahlen gewonnen hat) aufgegriffen und bekräftigt worden. Es geht nicht mehr nur darum, zu sagen, dass die Stadt schlecht verwaltet wurde, sondern dass man die Bevölkerung wirklich misshandelt hat. Als 2018 mitten in der Stadt ein Gebäude einstürzt, und man hinterher erfährt, dass einige Abgeordnete der Mehrheitspartei Wohnungen besaßen, die sie unter unwürdigen, gesundheitsschädlichen Bedingungen vermieteten, dann ist das eine unfassbare Misshandlung! Kann man sich das in einer anderen Stadt in Frankreich in so einem Ausmaß vorstellen?

Ist es besser, seit es eine neue Mehrheit gibt?

Ein bisschen …

Deine Figuren haben auch mit dem System zu kämpfen, das sie fertig macht, ähnlich wie die „Gilets Jaunes“ es zwei Jahre später an den französischen Kreisverkehren anprangern werden …

Die Frage „Woher kommt die Gewalt?“ steckt in allen meinen Büchern drin wie eine Obsession. Ich denke, sie beginnt oft mit einem Sozialplan in einem mit Teppich ausgelegtem Büro … Die Recherchearbeit hinter dieser Frage war dann: „Wie lehnt man sich auf?“, ohne gleich einen Krieg anzuzetteln. Das Happening war eine mögliche Antwort. Die Idee einer politisch motivierten Performance oder die Frage, wie man die Politik durch ein Happening oder eine direkte Aktion verändern kann, ohne einen Kollateralschaden anzurichten, zieht sich durch mehrere meiner Romane. Bei diesem fünften Roman fiel mir die Idee des Fight-Clubs wieder ein, oder wie Menschen, indem sie sich schlagen, darüber entscheiden, ihre Körper dem Kapitalismus zu entziehen. Für die „Fightmobs“ in Ein kurzer Moment habe ich mir vor allem bei der Organisation Act-Up Inspiration geholt. Leute, die sich mitten in politischen Versammlungen schlagen, damit diese nicht abgehalten werden können … und letztlich, um die Politiker daran zu hindern, sich im öffentlichen Raum zu äußern. Die gute Idee liegt darin, die simple Revolte, also die Lust, den Bullen eins in die Fresse zu hauen, in etwas Kreatives umzuwandeln. Das ist der Ausgangspunkt der Romanhandlung. Und dann wollte ich das Gefühl der „Entschlossenheit“ genauer untersuchen. Was bedeutet eigentlich Entschlossenheit? „Wie weit sind Menschen zu gehen bereit“, das hat mich ziemlich fasziniert. Man sieht es heute an dem, was in der Ukraine passiert: Entschlossenheit erlaubt einem, alles zu tun, vor allem wenn sie in den Dienst einer Sache gestellt wird, die offensichtlich und unumgänglich scheint.

Ist das Buch ein Roman noir?

Ja … Aber es ist nicht nur ein politischer Roman. Es geht auch um Verlust: Was verliert man? Um was weint man? Und ich habe ihn im Kontext der Attentate geschrieben. Die erste Szene spielt sogar in Tunesien während des Attentats am Strand von Sousse. Und dann war am 14. Juli 2016 noch das Attentat in Nizza … Das hat mich im Schreiben erstmal völlig gelähmt. Mein eigener Schmerz hat mich überwältigt … und ich hatte das Gefühl, der Gewalt noch mehr Gewalt hinzuzufügen.

Deine Hauptfigur, Grégoire Lang, stellt sich im Buch genau dieselben Fragen …

Ich hatte einem Freund davon erzählt, der auch Schriftsteller ist, dass ich wegen der Attentate nicht mehr schreiben konnte, und er hat mir gesagt: „Du musst dein Gefühl, von der Gewalt die Schnauze voll zu haben, in deine Figur reinlegen, dann kannst du weiterschreiben …“ Ich habe seinen Rat befolgt.

Ist dein Genre als Autor eher der Krimi oder der Roman noir?

Eher der Roman noir … Ich interessiere mich mehr für die soziale Gewalt.
Ich lese keine Thriller. Psychopathie interessiert mich nicht, bis auf wenige Ausnahmen. Der Kriminelle, der mich interessiert, ist eine ganz normale Person, bei der es plötzlich kippt. Auch Polizeiermittlungen interessieren mich nicht, weil ich nicht weiß, wie das funktioniert. Ich habe gemerkt, wenn was passiert im Leben, ist immer alles gleichzeitig …

Du meinst, wenn man sich irgendwo Ärger einfängt, fliegt einem alles um die Ohren?

(Lachen) Ich lebe mit dieser Idee … Wir kämpfen an so vielen Fronten gleichzeitig. Wie soll man da je wieder rauskommen?

Hast du nach diesem Buch etwas über die Gewalt verstanden?

Die Gewalt durchdringt uns. Wir erfahren jeden Tag Gewalt, ob das nun die soziale Gewalt oder die Gewalt in der Welt ist. Meine Figuren entscheiden sich dafür, diese Gewalt nicht weiterzuverteilen, indem sie sich gegenseitig schlagen …

Und ist das auch eine Art heroischer Moment?

Unter anderem! Es ist der Moment, in dem man die Schläge unter sich kanalisiert. Das hilft einem, sich lebendig zu fühlen. Die Gewalt ist eine Energie, etwas, das nicht aufhört … Und indem sie sie auf sich selbst umlenken, decken sie die Machtlosigkeit der Politiker auf, ihr entgegenzutreten. Man kann nicht einschreiten, wenn Leute sich untereinander schlagen. Das ist wie ein Schauspiel über die Gewalt, das sie aufführen, um zu zeigen, dass die Gewalt da ist … Und man kann eben unmöglich sagen, dass wir keine Gewalt erführen, damit würde man sich selbst anlügen, wäre in der Verleugnung und vor allem würde man riskieren, die Gewalt weiterzuverteilen, ohne es zu merken.

Wie kam dir die Idee zu dieser Figur des Abenteurers und Fotografen Grégoire Lang, der alles Mögliche durchgemacht hat?

Es gibt mehrere solcher Figuren bei mir. Ich kann eine Figur nur in der Bewegung erfinden. Eine Figur, der etwas passiert, obwohl sie sich nicht vom Fleck gerührt hat, so wie bei Raymond Carver, das kann ich nicht!

Wenn ich eine Figur konstruiere, stelle ich mir als Erstes die Frage: „Woran glaubt sie?“ Denn eine Figur, die an Gott glaubt, würde zum Beispiel nicht genauso handeln wie eine Figur, die nicht an Gott glaubt. Eine Figur charakterisieren heißt für mich nicht, erklären, was sie gemacht hat, sondern ihre Glaubenssätze erklären. Das lasse ich in einer Schreibwerkstatt oft als Übung machen: Eine Figur anhand ihrer Glaubenssätze charakterisieren.

Du warst selbst immer viel in Bewegung …

Ich bin im Senegal geboren und habe meine Kindheit in Paris verbracht. Später sind wir wieder weg, nach Gabun, nach Brasilien … Nach meinem Studium, in den 90er Jahren, bin ich wegen meines Berufs als Reporter nur herumgereist. Letzten Endes habe ich alles über die Welt nur durchs Reisen gelernt. Marseille ist mein Fixpunkt. Ich lebe hier wie meine Eltern und Großeltern, aber ich bin hier nicht aufgewachsen … Ich habe für das Funktionieren dieser Stadt genauso viel Zärtlichkeit wie Wut in mir. Es ist eine echte Stadt, weil sie alle Herausforderungen in sich trägt, die die Welt aushalten kann. Es ist keine Provence-Stadt wie Aix oder Avignon. Es ist eher die Dritte Welt. Sie erinnert mich an meine Kindheit in Afrika. Die Leute geben mir Orientierung, trotz ihrer Härte …

Marseille selbst ist trotzdem keine Protagonistin des Romans. Die Geschichte könnte so auch in einer anderen Stadt spielen …

Ich wollte in dem Buch bewusst nicht von den Einwohnern von Marseille und ihren Problemen mit Marseille sprechen … Wir haben hier eine Gemeinschaft von Individuen, deren Probleme die Probleme von Europäern sind, die mit dem Neoliberalismus zusammenhängen. Marseille ist dafür nur die Kulisse. Aber nach diesem Roman und dem danach hat mich das Team des „Printemps marseillais“ um Michèle Rubirola gefragt, ob ich den Clip zu ihrer Wahlkampagne schreiben wolle. Dadurch wurde ich zum Akteur meiner Stadt und das hat mir gefallen.

Deine Figuren schlagen sich und stecken einiges ein … und irgendwie machen sie das auch, um sich lebendig zu fühlen?

Ja genau, es ist eine Art und Weise, am Leben zu sein. Die letzte Würde der Leute liegt darin, sich schlagen zu können. Um lebendig zu sein, muss man die Waffen in der Hand haben … Was man Mut nennt. Die Ukrainer zeigen es im Moment.

Über deinen Roman hat man gesagt, es sei der französische „Fight Club“: Gefällt dir das?

Ich fand es von der Idee her richtig. Einer der zentralen Gedanken in Ein kurzer Moment ist der, dass man sich dem Kapitalismus entziehen kann, indem man die Gewalt mithilfe dieses geschlossenen Kreises umleitet.

Übersetzt von Corinna Popp