Ich erinnere mich noch gut an den Trailer, in dem wir damals lebten.

»Chris Harding Thornton im Gespräch mit Marcus Müntefering
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In Pickard County, der fiktiven Gegend von Nebraska, in der ihr Roman spielt, gibt es eine Straße namens Schleswig-Holstein. Wie kamen Sie auf diesen deutschen Namen?

Ich bin in Nebraska geboren und aufwachsen und lebe dort heute wieder. In der Gegend, in der ich als Kind eine Zeitlang mit meinen Großeltern – die übrigens noch Plattdeutsch gesprochen haben – gelebt habe, gab es einen Friedhof, der Schleswig-Holstein hieß. Nach Nebraska zog es viele Einwanderer aus Deutschland, auch meine Urgroßeltern stammen von dort, und zwar tatsächlich aus Schleswig-Holstein.

Basiert Ihr Pickard County auf einer tatsächlichen Region in Nebraska?

Ja, auf den Sandhills, einer Region im Westen des Bundesstaats, die recht bekannt ist, weil es die größte nur aus Sanddünen bestehende Fläche der USA ist. Vor gut zehn Jahren bin ich da durchgewandert und habe viele neue Bekannte gemacht. Und einige von ihnen kannten tatsächlich meinen Familiennamen noch. Ich habe aber nie dort gelebt.

Ihr Roman spielt im Jahr 1978, warum haben Sie gerade dieses Jahr gewählt?

Die Siebzigerjahre waren für Nebraska eine Zeit der Veränderung. Die Menschen begannen, massiv in die Stadt umzuziehen, was sich in den Achtzigern durch die Farmkrise noch verschärfte. Außerdem ist das Jahr 1978 das erste, an das ich Erinnerungen habe, damals war ich etwa fünf.

Was für Erinnerungen sind das?

Ich erinnere mich noch gut an den Trailer, in dem wir damals lebten. Es war übrigens ein doppelbreiter Trailer, wir lebten also auf großem Fuß (lacht). Ich habe aber später durchaus auch in kleineren Trailern gelebt.

Kennen Sie eigentlich die Punkband Wipers? Ich habe während der Lektüre von Pickard County an deren Song „Doom Town“ denken müssen.

Oh ja, ich liebe die Wipers, und der Song passt tatsächlich gut zu meiner Geschichte. Viele der Kleinstädte hier in Nebraska sind doomed, sie schrumpfen und verschwinden irgendwann ganz.

Eine andere Assoziation, die ich beim Lesen hatte, war Bruce Springsteens fantastisches Album „Nebraska“. Darauf findet sich der Song „Highway Patrolman“, der von zwei ungleichen Brüdern handelt, ähnlich wie Paul und Ricky in Ihrem Roman. Noch deutlich wird das bei Sean Penns Verfilmung des Songs, „Indian Runner“.

Jetzt, wo sie es erwähnen, fällt mir die Ähnlichkeit auch auf. Paul ist wie eine brennende Lunte, ähnlich wie Viggo Mortensen im Film, Ricky versucht vor allem, seine Familie zusammenzuhalten, wie der Polizist in „Indian Runner“. Ich mag den Film sehr, habe ihn aber schon eine Ewigkeit nicht gesehen. Das muss ich dringend ändern. Und zu Springsteens „Nebraska“: Das ist mein Lieblingsalbum von ihm.

Anders als in Song und Film ist der „gute“ Bruder aber kein Polizist, beide arbeiten für ihren Vater als Handwerker und reparieren Trailer …
… mein Großvater hatte übrigens einen kleinen Handwerksbetrieb und hat Trailer repariert, wie der Vater von Paul und Ricky, aber das nur nebenbei …

… der Polizist in ihrem Roman, Harley Jensen, ist alles andere als ein strahlender Held, eher ein Ritter der traurigen Gestalt, oder?

Ja, Harley ist ein Verlorener, weil er sich dem traumatischen Erlebnis seiner Kindheit nicht stellt, seine Mutter hat sich erschossen. Er hat sich eingeschlossen, und wie eigentlich alle Figuren im Roman hat auch er keine Ahnung, was in den anderen vorgeht.

Neben der üblichen Kleinkriminalität, die seinen Alltag bestimmt, scheint er sich vor allem um das Schicksal des wilden Paul zu sorgen, oder?

Ja, er fühlt sich verpflichtet, Paul vor sich selbst zu schützen, und alle anderen vor Paul. Er ist sozusagen der Sohn, den Harley nie haben wollte. Aber andererseits hält Paul Harley einen Spiegel vor, zeigt ihm, dass es okay ist, sich der Vergangenheit zu stellen.

Die Männer, sagt einmal eine der spannenden Frauenfiguren in Ihrem Roman, seien eigentlich nutzlos wie Babys, außer sie bringen Geld nach Hause. Auch wenn ihnen oft übel mitgespielt wird, man bekommt nie das Gefühl, dass Ihre weiblichen Figuren sich durch ihre Opferrolle definieren.

Das stimmt und hat bestimmt damit zu tun, dass die Frauen in meiner Familie sehr dominant waren. Sie haben die Haushaltskasse verwaltet, dafür gesorgt, dass Essen auf dem Tisch stand, die Kinder großgezogen – eigentlich haben sie alle wichtigen Entscheidungen getroffen. Und, wie Babe im Buch sagt, Männer waren weitgehend nutzlos.

Meine Lieblingsfigur ist Pam, die Frau von Ricky, die vor allem eines will: Aus der öden Gegend abhauen. Und am Ende trifft sie eine radikale Entscheidung, die hier noch nicht verraten werden soll.

Pam war die erste Figur, ich hatte sie im Kopf lange bevor ich den Roman begonnen habe. Eines Tages, es war 2008, setzte ich mich hin, um zu schreiben, was für mich oft heißt: Ich warte darauf, dass sich eine Geschichte von selbst erzählt. Doch dann hörte ich diese Stimme, die sich mordsmäßig aufregte, und daraus wurde Pam, von der ich wusste, dass sie eine junge Mutter sein würde, verheiratet, an ihrem Leben verzweifelnd. Alles andere hat sich daraus ergeben, es hat nur ein bisschen länger gedauert. Pam ist klasse, und die radikale Entscheidung, die Sie erwähnt haben, hat mir sowohl viel Zuspruch als auch heftige Kritik eingebracht. Meine Lieblingsfigur aber ist Paul.

Zu Beginn dachte ich, Paul wäre der Böse, ein Troublemaker, der nur Unheil anrichtet. Erst später fiel mir auf, dass Sie mit Kategorien wie Gut und Böse, die im Krimigenre weit verbreitet sind, überhaupt nicht arbeiten.

Tatsächlich ist Paul sogar fast der moralische Kompass im Roman. Er hilft seiner Mutter bei all den seltsamen Dingen, die sie tut, er hilft sogar Harley, der ihn immer auf dem Kieker hat, sich zu finden. Bei Paul hat es am längsten gedauert, bis ich ihn selbst als Figur verstanden habe. Schließlich habe ich ihn nach Iago aus Shakespeares „Othello“ modelliert, eine Figur, die immer falsch verstanden wird und die weit mehr ist als nur ein Bösewicht, der ohne Motiv handelt. Es ist nur nicht so einfach zu entdecken, was ihn antreibt, und Menschen neigen oft dazu, einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte zu suchen.

Es gibt ein paar popkulturelle Referenzen im Buch; Virginia, die Mutter von Paul und Ricky, hört zum Beispiel den Country-Star George Jones, Paul trägt ein T-Shirt der Band Led Zeppelin. Hat das mit Ihrer Vergangenheit als Plattenhändlerin zu tun?

Ich liebe einfach Musik, und ich würde auch heute noch liebend gern im Plattenladen stehen. Ich mag Sachen wie Crime and the City Solution, deren Musik den Sound meines Romans geprägt hat, ich finde auch Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten toll. Jede Figur im Roman hat ihren eigenen Soundtrack, aber der ist vor allem in meinem Kopf. Ich habe viele popkulturelle Referenzen wieder aus dem Roman entfernt, es war einfach zu viel.

Letzte Frage: Waren Sie schon mal in Schleswig-Holstein, um zu sehen, wo Ihre Vorfahren herkommen?

Nein, leider nicht, dafür fehlte mir immer das nötige Kleingeld. Aber vielleicht liest ja Blixa meinen Roman und beschließt daraufhin, mir ein Flugticket zu spendieren?