„Fühle mich zu Geschichten über selbstzerstörerische Frauen hingezogen“

Melissa Ginsburg im Gespräch mit Sonja Hartl
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„Sunset City“ ist Ihr erster Kriminalroman. Was reizt Sie an diesem Genre?

Ich habe als Dichterin angefangen und nicht-erzählende Lyrik geschrieben, aber ich habe immer gerne Romane gelesen, vor allem Krimis. Als ich anfing, Belletristik zu schreiben, wollte ich in einem Genre arbeiten, das eine straffe Struktur verlangt. Ich dachte, wenn ich mich mit den formalen Konventionen des Kriminalromans auseinandersetze, würde mich das davon abhalten, mich zu verzetteln oder mich zu sehr auf Bilder, Orte und Beziehungen zu konzentrieren, was auf Kosten der Geschichte ginge. Ich wollte lernen, wie man eine Handlung aufbaut, wie man sich durch die Zeit bewegt.

Sehen Sie Verbindungen zwischen Poesie und Kriminalromanen?

Ich betrachte Kriminalromane als eine bewährte Form, so etwas wie ein Sonett oder eine Villanelle. Ihre Beschränkungen lassen so viel Freiheit und Erfindungsreichtum zu. In meiner Lyrik und in der Belletristik geht es mir um dieselben Dinge: ein tiefes Gefühl für den Ort, komplexe Beziehungsdynamiken, Momente emotionaler Intensität, elegante Sätze.

Beeinflussen sich Poesie und das Schreiben von Kriminalromanen wechselseitig?

Ich glaube, die Poesie zwingt mich, auf Bilder, Sprache, Sätze, Rhythmus und Musikalität sowie auf die emotionalen Rhythmen von Szenen zu achten. Mein erstes Buch, „Dear Weather Ghost“, besteht aus kurzen, dichten Texten, und diese Verdichtung des Schreibens hat „Sunset City“ beeinflusst: es ist ein kurzer Roman mit großer emotionaler Dichte. Im Gegenzug hat das Schreiben von Romanen meine Lyrik breiter werden lassen; meine neueren Gedichte sind tendenziell länger, erzählerischer und vielstimmiger als früher, was ein Ergebnis des Raums ist, den das Schreiben von Romanen bietet.

Woher kam die Idee zu „Sunset City“?

Ich wollte einen Houston-Roman und einen Kriminalroman schreiben, in dem es um sexualisierte Gewalt, Traumata und die Beziehungen zwischen Frauen und Mädchen geht. Ich habe einen unstillbaren Appetit auf Geschichten über Frauen, Mutter-Tochter-Beziehungen, Frauenfreundschaften. Ich werde immer über Frauen und Mädchen schreiben.

Warum sollte es ein Houston-Roman werden?

Ich bin in Houston geboren und aufgewachsen – aber obwohl es die viertgrößte Stadt der USA ist, wurde im Vergleich zu New York oder Los Angeles nie wirklich viel über die Stadt nachgedacht. Houston ist ein interessanter Ort, voller seltsamer Gegensätze, und ich kenne ihn sehr gut. Dieses Wissen machte bestimmte Dinge beim Schreiben einfacher – ich musste nicht alles erfinden oder recherchieren. Außerdem war ich aus Houston weggezogen und vermisste die Stadt, als ich mit dem Schreiben von „Sunset City“ begann, es war also eine Möglichkeit, Zeit dort zu verbringen.

Kurz bevor ich Ihren Roman gelesen habe, habe ich Attica Lockes „Pleasantville“ gelesen, der im November 2022 in Deutschland erschienen ist. Und natürlich spielt er auch in Houston. Warum ist Houston ein guter Ort für Kriminalromane?

Houston ist ein Ort der Kollisionen, mit vielen interessanten Spannungen. Es gibt dort ein riesiges Einkommensgefälle – extremer Reichtum und extreme Armut – und so viele verschiedene Menschen aus der ganzen Welt. Die Stadt hat im Hinblick auf race die vielfältigste Bevölkerung aller amerikanischen Städte. Sie liegt an der Grenze zwischen dem amerikanischen Süden und dem amerikanischen Westen, nahe der mexikanischen Grenze. Es ist auch eine junge Stadt, die für Autos gebaut wurde, an einem Ort, an dem Land im Überfluss vorhanden und billig ist, so dass sich die Stadt ausbreitet. Es ist möglich, dort sehr anonym zu leben, sich darin zu verlieren, sich zu verstecken. Und man trifft zufällig auf so viele verschiedene Welten. All diese Elemente sind perfekt für Krimis.

Wie haben Sie die Figuren für „Sunset City“ entwickelt?

Einige von ihnen basieren zum Teil auf Menschen, die ich gekannt habe, und natürlich steckt in allen auch ein Stück von mir selbst. Charlottes Gefühl der Verlorenheit rührt daher, dass ich mir vorstellte, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich Künstlerin werden wollte.

Charlotte erinnerte mich manchmal auch an einen hardboiled-Detektiv: Sie trinkt zu viel, hat viel Sex und ist leicht selbstzerstörerisch.
Ich fühle mich sehr zu Geschichten über selbstzerstörerische Frauen hingezogen, Frauen, die sich abmühen. Außerdem wollte ich die typischen Elemente der Kriminalliteratur aus einer feministischen Perspektive adaptieren oder zumindest aus einer frauenzentrierten Perspektive – der hartgesottene Detektiv, die Femme fatale, die schöne Leiche. Ich wollte auch das schöne tote Mädchen in den Mittelpunkt stellen, das in so vielen Kriminalromanen nur ein Requisit ist, ein träges Objekt der Begierde, das dem männlichen Detektiv die Möglichkeit gibt, seine Brillanz und Härte zu demonstrieren. Die Geschichte aus der Sicht von jemandem zu erzählen, die Danielle liebte und sie verstand, ermöglichte eine komplexere und intimere Untersuchung von Danielles Leben.

Wie würden Sie Danielle beschreiben?

Danielle ist anziehend, charismatisch, schön, reich und beschädigt. Sie wuchs mit enormen Privilegien auf, wurde aber auch schwer traumatisiert. Jeder fühlt sich zu ihr hingezogen, was sie verletzlich gemacht hat. Sie ist sehr mutig, hat aber keine Ahnung von Selbstfürsorge. Und obwohl Charlotte und Danielle seit Jahren keine Zeit mehr miteinander verbracht haben, ist Danielle immer noch die wichtigste Person in Charlottes Leben.

Für mich ist „Sunset City“ ein Roman über Frauenfreundschaft und -trauer. Stimmen Sie dem zu?

Ja, dem stimme ich zu. Es geht sehr stark darum, wie diese Mädchen sich gegenseitig verletzen und retten. Charlotte trauert um Danielle, aber auch um ihre eigene Mutter und um die Frau, die sie hätte sein können, wenn ihr früheres Leben anders verlaufen wäre. Ich würde sagen, dass es in dem Buch auch um Trauma geht, was ich manchmal als eine übersteigerte Form der Trauer betrachte.

Am Ende hatte ich das Gefühl, dass ich Ihre Figuren besser kenne – vor allem Danielle und nicht Charlotte,
obwohl sie die Erzählerin ist. Warum ist es schwieriger, Charlotte kennenzulernen?

Charlotte hat Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Sie hat so viele Schutzschichten. Wir sehen die Welt durch ihre Augen und sind in ihre Gedanken eingeweiht, aber sie vermeidet es, sich mit ihren eigenen emotionalen Reaktionen auseinanderzusetzen.

Warum erzählen Sie die Geschichte in der ersten Person?

Dieses Buch begann mit Charlottes Stimme in meinem Kopf. Ich wollte die Intimität der Ich-Erzählung, und ich wollte diese Welt durch ihr Bewusstsein betrachten. Aber es fühlte sich nicht wie eine Wahl an – es war von Anfang an unvermeidlich.

Ihre Figuren sind Frauen in ihren 20ern – glauben Sie, dass der Kriminalroman ein ideales Format ist, um über diese Frauengeneration zu schreiben?

Ich würde nicht sagen, dass er wichtiger ist als andere Ausdrucksformen, aber er ermöglicht bestimmte Arten der Erkundung. Gute Kriminalromane sind gesellschaftskritisch – in Bezug auf die Stadt, die Machtstrukturen in Beziehungen und der Gesellschaft. Sie ermöglichen das Zusammentreffen verschiedener Menschen, sozialer Klassen usw. Aber die Verbrechen in diesem Roman – Drogen, Prostitution, sexuelle und andere Arten von Gewalt gegen Mädchen und Frauen, Mord – gehören nicht ausschließlich zum Kriminalroman.

Ihre Figuren treffen manchmal schlechte Entscheidungen. Aber Sie romantisieren das nicht, sondern behandeln sie mit Empathie.

Das fiel mir leicht. Ich liebe jede dieser Figuren, und es geht mir nicht darum, sie zu verurteilen. Es ist mir ehrlich gesagt nie in den Sinn gekommen, so über sie zu denken. Sie tun alle das Beste, was sie können, mit dem, was sie haben – niemand in diesem Buch hat, was sie an Unterstützung, Erfahrung oder Mitteln bräuchte. Sie treffen Entscheidungen, die sich selbst und anderen schaden, aber nur, weil sie versuchen, sich selbst und die Menschen, die ihnen wichtig sind, zu schützen.

Ihre Protagonistinnen in „Sunset City“ haben viel Sex – glauben Sie, dass wir uns von den starren Geschlechter- und Sexualrollen in der Gesellschaft und im Kriminalroman wegbewegen?

Ich hoffe es! Ich glaube, es gibt einen Generationswechsel in der Art und Weise, wie Frauen über Sex denken und sprechen. Ich finde es toll zu sehen, wie junge Frauen über sex-positivity und body-positivity sowie über Grenzen beim Sex sprechen. Ich hoffe, dass sich das fortsetzt, weil es ermutigt und schützt. Es hat schon immer Autor*innen gegeben, die sich auf interessante Weise mit dem Thema Sex auseinandergesetzt haben, aber früher war es schwieriger, diese Art von Inhalten zu veröffentlichen. Die Verlagsbranche ist heute offener als früher – der enorme Erfolg von „Fifty Shades of Grey“ hat im amerikanischen Verlagswesen einen gewaltigen Wandel ausgelöst. Aber ich denke, dass diese Dinge zyklisch verlaufen können, und immer, wenn es einen echten Fortschritt gibt, werden wir wahrscheinlich eine Reaktion dagegen erleben. Die Dobbs-Entscheidung1 des Obersten Gerichtshofs der USA ist hier ein verheerender Rückschlag. Es bleibt abzuwarten, wie sich das auf die Kunst und die Popkultur auswirken wird.

Wer hat Sie schriftstellerisch beeinflusst?

Einige Autorinnen, die ich liebe: Denise Mina, Sara Gran, Megan Abbott, Lauren Groff, Jennifer Egan,
Lucia Berlin, Mary Miller, Jean Rhys.

„Sunset City“ war Ihr Debüt, aber ich weiß, dass Sie einen weiteren Kriminalroman geschrieben haben. Werden Sie in diesem Genre bleiben?

Ich werde immer über Menschen schreiben, die am Rande der Gesellschaft stehen, die verletzlich und entweder in Verbrechen verwickelt sind oder in der Nähe von kriminellen Unternehmungen. Ich mag die Struktur, die das Genre bietet, aber ich ertappe mich dabei, wie ich mich von ihm wegbewege, hin zu lockereren formalen Zwängen. Mein neuester Roman, „The House Uptown“, lehnt sich in seiner Struktur an Krimis an, aber nur sehr lose. Ich weiß noch nicht genau, welche Form der nächste Roman haben wird.

1Der Supreme Court der Vereinigten Staaten hat 2022 mit dem Urteil zum Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization das seit 49 Jahren in den gesamten USA bestehende Recht auf Abtreibung aufgehoben. Damit kippte der konservative Teil des Gerichts mit einer Abstimmung von 6 zu 3 den bisherigen Präzedenzfall Roe v. Wade.