Wie ein Western

J. Todd Scott im Gespräch mit Jon Bassoff
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Zuallererst die Frage: Wieso wird ein DEA-Agent Schriftsteller? Dass Sie einige Zeit im Einsatz waren, dürfte Sie zu vielen Geschichten inspiriert haben.

Eigentlich war es eher andersrum. Schreiben wollte ich schon immer, habe es dann aber viele Jahre zurückgestellt, um beim DEA zu arbeiten! Und natürlich hat mich die Arbeit als Polizist mit Dienstmarke und Waffe stark inspiriert. In der Big-Bend-Trilogie (Die weite Leere, Weiße Sonne und This Side of Night [noch nicht auf Dr. erschienen]) greife ich auf meine langjährige Arbeit an der Grenze zurück und in meinem [noch nicht auf Deutsch erschienen] Roman Lost River (der sich mit den katastrophalen Auswirkungen der Opioid-Epidemie in den Appalachen befasst) verarbeite ich meine Erfahrungen im Kampf gegen die Drogenkriminalität in Kentucky.

Wo wir gerade dabei sind – können Sie festmachen, wie viel von Ihren Erfahrungen in Weiße Sonne und den Vorgänger Die weite Leere eingeflossen sind?

In beiden Büchern schöpfe ich intensiv aus meinen Erfahrungen, aber miteingeflossen sind auch die von anderen Strafverfolgern auf lokaler und Bundesebene, mit denen ich während meiner fast fünfzehn Jahre an der südwestlichen Grenze (in Texas und Arizona) eng zusammengearbeitet habe. Wenn man in der Gegend diesen Job macht, wirkt sich das zwangsläufig auf die Geschichten aus, die man als Schriftsteller erzählen will. Denn auch wenn meine Bücher reine Fiktion sind, so lässt sich in allen auch ein Stück Wahrheit wiederfinden.

Als Schriftsteller muss ich gestehen, dass ich neidisch bin, weil Ihnen einen derart episch angelegter Roman mit so vielen Handlungssträngen und gut entwickelten Figuren gelungen ist. Wie gehen Sie beim Schreiben vor? Ich kriege Schreibhemmungen, wenn ich die Handlung vorher nicht in groben Zügen umreiße. Wie viel hatten Sie vor dem ersten Kapitel schon geschrieben?

Wenn ich mich in die Arbeit an einem neuen Roman stürze, skizziere ich die Handlung vorher noch nicht mal in groben Zügen. Bevor ich das erste Wort hinschreibe, weiß ich zwar, wie das Buch anfangen, und manchmal auch, wie es enden soll, aber was auf dem Weg dorthin geschieht und wie ich zum Schluss kommen werde, weiß ich da meistens noch nicht. Ich schreibe einfach drauflos und taste mich vor. Das ist weder schnell noch effizient, aber so mache ich es nun mal, auch wenn ich mich bei meinen letzten Büchern bemüht habe, den Plot vorher ein wenig auszuarbeiten. Das habe ich mir wegen der Drehbücher, an denen ich mitgewirkt habe, angewöhnt. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich bei der Handlung oft improvisiere. Allerdings kenne ich meine Figuren von der ersten Seite an ziemlich genau, oft lasse ich sie einfach aufeinander los und warte ab, was dann passiert.

Weiße Sonne liest sich über weite Strecken wie ein Western: der Schauplatz in Texas, die gewalttätigen Outlaws, der hochanständige Sheriff und seine Deputys. Wie stark haben klassische Western Ihre Arbeit beeinflusst?

Weiße Sonne ist zu einhundert Prozent von klassischen Western – den Filmen des großen John Ford – beeinflusst, aber auch von neueren Sachen wie Erbarmungslos von Clint Eastwood oder Cormac McCarthys Roman Die Abendröte im Westen.
Ich wollte in dem Buch eine Atmosphäre schaffen wie in den legendären Western – gefährliche Typen, die sich in einer desolaten Welt in einer ausweglosen Situation wiederfinden. Ich hoffe, das ist mir ein wenig gelungen.

In Ihren Büchern taucht ein Motiv häufig auf – immer gibt es Figuren, die den Verlust oder das Fehlen des Vaters oder eines anderen Familienangehörigen wettmachen müssen. Können Sie dazu etwas sagen?

Schön, dass Ihnen das aufgefallen ist! Ich glaube, es gibt zwei Themen, auf die ich in meinen Büchern immer wieder zurückkomme: die Auswirkungen, die ganz persönliche (und meistens nicht besonders gute) Entscheidungen auf andere haben, und die Dynamiken, die in nicht mehr ganz vollständigen Familien (oft fehlt ein Elternteil) vorherrschen. Ich selbst bin geschieden und habe drei Töchter, und die Scheidung hat sich, wie auch die Arbeit beim DEA, enorm auf meine Familie ausgewirkt. Wenn du es zulässt, frisst dich eine Karriere bei der Polizei auf. Die Arbeit ist mit Stress verbunden, man macht oft Überstunden und muss, wie in meinem Fall, oft umziehen und das nicht nur innerhalb eines Bundesstaats. Obwohl ich (zum Glück) am Leben meiner Töchter aktiv teilnehme, komme ich in meinen Büchern immer wieder auf die durch die Abwesenheit ausgelösten Spannungen und das Gefühl von verlorener Zeit zurück. Schriftsteller schreiben ja nicht nur über das, was sie wissen, sondern auch über das, was sie fühlen.

In Weiße Sonne verläuft zwischen Gut und Böse eine klare Grenze, nur Danny scheint auf beiden Seiten zu stehen. Können Sie näher ausführen, warum er als Figur so wichtig ist?

In vielen Western haben wir auf der einen Seite die Figuren „mit dem schwarzen Hut“ und auf der anderen diejenigen „mit dem weißen Hut“; sie lassen sich leicht als Bösewichte oder Helden identifizieren. Chris Cherry wird oft kritisiert, weil er zu sehr Held ist: Er ist für den Beruf, den er gewählt hat, viel zu anständig. Chris scheut meistens vor Gewalt zurück. Danny könnte man wohl als denjenigen „mit dem grauen Hut“ beschreiben, denn er hat begriffen – oder bewusst entschieden –, dass Gewalt manchmal die einzig mögliche Antwort ist. Ob ich nun immer mit Danny Fords Entscheidungen übereinstimme, lassen wir einmal dahingestellt, aber ich halte ihn für eine „realistischere“ Figur, und wahrscheinlich ist er auch die Figur, mit der sich die meisten Leser – und Cops und Agents – wohl am ehesten identifizieren können.

Die meisten Kapitel im Buch sind in der dritten Person geschrieben, nur die von Danny haben die Form der Ich-Erzählung. Wieso haben sie sich dafür entschieden?

In Die weite Leere habe ich es ähnlich gehalten, und weil ich mit dem Ergebnis zufrieden war, wollte ich es nochmal ausprobieren. Da ein Großteil der Handlung in Weiße Sonne durch Dannys Entscheidungen vorangetrieben wird, fand ich es hilfreich, wenn wir uns in seinem Kopf befinden und mit seinen Augen auf die Welt schauen. Der Leser kann dann besser verstehen, warum Danny so handelt und fühlt, wie er es tut.

Welchen Stellenwert hat die texanische Landschaft in dem Roman?

Ob das Buch ohne die texanische Landschaft überhaupt möglich gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln. Es wäre todsicher ein völlig anderes Buch dabei herausgekommen! Texas und vor allem die Big-Bend-Region behandele ich in Weiße Sonne wie eine Figur. Das Texas aus meinen Büchern lebt und atmet, es hat Gefühle, die sich gerne in Wetterextremen entladen. Eine solche Umgebung formt die Menschen, die dort leben, das ist nicht anders als der Wind, der die Felsen in den Bergen formt.

Weiße Sonne ist ein „maskuliner“ Roman, denn er erzählt von toughen Typen, die in einer ausweglosen Situation gefangen sind. Trotzdem kommt America wie der größte Badass von allen rüber und ist wahrscheinlich die komplexeste Figur. Können Sie uns etwas über die Entwicklung ihres Charakters erzählen?

Wie ich schon oft gesagt habe, ist America die Schwerkraft, die das Buch zusammenhält. Als Vater von drei Töchtern wollte ich über eine toughe, vielschichtige Frauenfigur schreiben, die für sich jede Menge regeln muss. America trifft schwere Entscheidungen und wartet nicht etwa ab, bis die Männer das für sie erledigen. Außerdem wird sie mit den Auswirkungen ihrer Entscheidungen sehr gut alleine fertig. Anders als bei vielen Figuren im Buch wird Americas Leben von der Geschichte ihrer Familie und den Lebensumständen in ihrer Kindheit in Murfee bestimmt, denn beidem kann sie nicht entkommen. Noch dazu muss sie den Spagat zwischen zwei Ländern und zwei Kulturen hinbekommen. In mancher Hinsicht hatte America niemals eine Wahlmöglichkeit, und ihre Fähigkeit, sich in ihrer komplexen Welt und unter Menschen, die sie permanent unterschätzen, zurechtzufinden, macht sie zu einer äußerst interessanten und lebendigen Figur.

Und was steht als Nächstes bei J. Todd Scott an?

Mehr Bücher, wie immer. Die Big-Bend-Trilogie ging mit This Side of Night zu Ende, danach erschien mein Kriminalroman Lost River. In meinem letzten Buch habe ich mich auf neues Terrain vorgewagt, denn in dem Horror-Thriller The Flock geht es um eine Weltuntergangssekte. Dieses Buch hatte ich schon lange schreiben wollen, und ich bin mit dem Ergebnis und dem bisherigen Erfolg sehr zufrieden. Mit dem nächsten Roman bin ich gerade fertig geworden – ein Thriller, der in West Virginia spielt – und jetzt sitze ich bereits am nächsten Kriminalroman, aus dem hoffentlich wieder eine ganze Serie entsteht. Für einen vierten Big-Bend-Roman habe ich mir schon ein paar Stichpunkte notiert, ich muss nur im Kalender nachschauen, wann ich die Zeit zum Schreiben finde!