Das Leben als Native American

Interview David Heska Wanbli Weiden – geführt von James Anderson
© duqimages / Adobe Stock

Erst mal herzlichen Glückwunsch zum enormen Erfolg deines ersten Romans. Und ganz ehrlich: das viele Lob für Winter Counts ist wirklich verdient. Aber hat dich das denn überhaupt überrascht?

Ja, das hat mich total überrascht. Bisher haben Native Americans ja nur wenige Krimis geschrieben, daher war ich nicht mal sicher, ob das Buch überhaupt veröffentlicht würde. Es gab zwar in den letzten zwanzig, dreißig Jahren in den USA mehrere Krimi-Bestseller, die in Reservaten spielten, aber keiner der Autoren war ein Native American. Winter Counts ist aber aus der Perspektive eines Insiders geschrieben, daher war die Begeisterung beim Publikum besonders schön. Ich bin dem Verlag sehr dankbar, der den Mut zu dem Buch hatte, und auch allen anderen, die es gefördert haben und denen die Geschichte von Virgil Wounded Horse gefallen hat. Jetzt hoffe ich sehr, dass noch mehr Bücher von indigenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern die Erfahrungen der Native Americans thematisieren und in unterschiedlichen literarischen Genres und Formaten ausdrücken.

Das Echo des Publikums wie der Kritik war generell sehr positiv. Welche Art von Kommentar hat dich am meisten gefreut?

Mir haben natürlich die Kritiken geschmeichelt, in denen Stil, Figurenzeichnung und Handlung gewürdigt wurden. Gefreut hat mich außerdem, wie viele Leserinnen und Leser mir geschrieben haben, dass sie das Buch sehr berührt hat. Eine Lakota hat mir sogar ein Video von sich geschickt, in dem sie das Buch hochhält und weinend sagt, sie habe endlich das Gefühl, von der Literatur beachtet und erkannt zu werden. Was mich aber am meisten befriedigt, ist, dass das Publikum etwas über die ungerechte Gesetzgebung zu den Native Americans erfährt. Wie im Roman beschrieben, ist das Strafjustizsystem in den Reservaten höchst problematisch, viele Gewalttäter kommen deswegen straflos wieder auf freien Fuß. Es hat mich elektrisiert, dass das Buch in den USA eine Diskussion darüber in Gang gesetzt hat, und ich hoffe, der Gesetzgeber unternimmt etwas, damit sich für die indigene Bevölkerung etwas zum Besseren ändert.

Der Protagonist Virgil Wounded Horse ist erkennbar nicht ohne Fehler, aber in den seltenen Momenten, in denen diese Fehler brutal offensichtlich werden, sehen wir ihn auch als echten mitleidenden Menschen. Ein solcher Moment steht ja gleich zu Beginn des Buchs. Virgils Name, ganz offenbar ein sprechender, verweist auf ein verletztes edles Tier. Spielt so etwas für dich bei der Namensgebung eine Rolle?

Ja, die Namen der Figuren sind für mich wichtig, sie dienen als Mittel, um Einblicke in ihr Wesen und ihren Charakter zu vermitteln. Manchmal brauche ich auch ziemlich lange, die richtigen zu finden, aber Virgils Name war praktisch sofort da. Über ihn musste ich nicht groß nachdenken. Ich wusste, dass er seine Fehler hatte, grundsätzlich aber anständig war, und dass er nach einem eigenen Moralkodex lebte. Insofern passte der Nachname Wounded Horse perfekt, und ich habe keine Sekunde überlegt, ihn zu ändern.

Bei den anderen Figuren habe ich dagegen viel mehr Zeit gebraucht, um ihre Namen zu finden. Am schwierigsten war es bei Virgils Freund Tommy. Ich sehe Tommy als komische Figur, aber er ist auch ein Weiser, der sich ganz der Sache der Natives verschrieben hat. Schließlich habe ich ihn nach einer Figur aus der Lakota-Mythologie benannt: nach Iktomi, der Trickster-Spinne. In den traditionellen Märchen der Lakota ist Iktomi ein Schelm in der Gestalt einer Spinne, dem es Spaß macht, Menschen zu foppen, aber er ist auch ihr Lehrer und bringt ihnen bei, nachzudenken und kritisch zu sein. Daher also der Name Tommy, als Kurzform von Iktomi.

In Winter Counts gibt es mehrere außergewöhnliche Figuren, die sich im Laufe der Handlung alle weiterentwickeln, etwa Ward, Virgils Mündel und Neffe im Teenageralter, und Marie, eine Frau, in die Virgil verliebt ist und deren Herkunft aus besseren Verhältnissen die Handlung auf unerwartete Weise voranzutreiben scheint. All das trägt zu einer ungewöhnlichen Tiefe und Komplexität bei. Kannst du etwas darüber verraten, wie du deine Figuren im Laufe der Zeit entwickelst?

Die Figur der Marie Short Bear hat sich am stärksten veränderten. In den ersten Fassungen des Buchs hatte ich nie das Gefühl, dass ich ihr gerecht geworden wäre, und alle, die diese Fassungen gelesen haben, haben das auch so empfunden. Deswegen habe ich lange über ihr Leben, ihre Ziele und die Widerstände, die sie überwinden musste, nachgedacht. So verstand ich sie allmählich besser und konnte ein klareres, detaillierteres Bild von ihr zeichnen. Sogar über ihren Musikgeschmack habe ich nachgedacht! Anfangs mochte sie Popmusik, vor allem eine US-Boygroup, die ehemaligen ‘N Sync. Aber dann fand ich, dass sie in der Highschool Punkrock gemocht haben musste und Bands wie Bauhaus, Joy Division und Siouxsie and the Banshees gehört hatte. Das hat mich ihren Charakter besser verstehen lassen: Ich begriff, dass sie genau wie Virgil in der Highschool Außenseiterin gewesen war. Nach dieser Einsicht hat sich ihr Charakter herauskristallisiert, und daraus habe ich ihren Hintergrund und die Unterhandlung abgeleitet.

Die andere Figur, die sich mit der Zeit verändert hat, war Virgils Neffe Nathan. Zum großen Teil beruht die Figur auf meinem eigenen Sohn David Jr. Er war vierzehn, als ich den Roman schrieb, und so sind viele von Davids Gewohnheiten und Ticks in die Figur des Nathan eingeflossen. Die Szene mit der Überdosis zu schreiben war natürlich besonders schwer, weil mir mein Sohn auch dabei nicht aus dem Kopf ging. Aber insgesamt denke ich, dass meine Empfindungen als Vater es mir erlaubt haben, auf ehrliche Weise über Nathan und Virgils Gefühle für ihn zu schreiben.

Neben kulturellen und religiösen Praktiken scheint in deinem Roman auch die Kunst der Native Americans eine wichtige Rolle zu spielen. Magst du ein bisschen erläutern, welche Bedeutung diese Kunst für das Buch und für dich persönlich hat?

Ich liebe die bildende Kunst, aber leider habe ich keine besondere Ausbildung darin. Das wenige, was ich weiß, rührt von Besuchen in Galerien und Museen und den Antworten auf Fragen, die ich Menschen gestellt habe, die viel mehr darüber wissen als ich. Ich wollte die ganze Bandbreite der schöpferischen Leistungen von Native Americans in das Buch einfließen lassen: So gibt es nicht nur Verweise auf Künstler, sondern auch auf Modedesigner, Musiker und Köche. Überall auf der Welt scheint indigene Kreativität gerade eine wunderbare Renaissance zu erleben, und es war sehr schön, einige dieser Künstler im Buch zu erwähnen.

Die Szene, in der Virgil dem Motelbesitzer in Valentine die Seele aus dem Leib prügelt, passt in dieser Stelle perfekt in die Erzählung, gestattet Virgil aber auch, sich in einer seltsam stillen Wut zu artikulieren. Wenn in einem „Kriminal“-Roman Gewalt beschrieben wird, dann, finde ich, sollten Leser und Autor sie auch spüren. Hat dich die Ausgestaltung dieser Szene viel Zeit gekostet? Sie ist so klar und präzise, darin ist kein Wort und kein Schlag zu viel, und dennoch hat sie ungeheure Wucht.

Interessanterweise ist mir diese Szene praktisch zugeflogen – ich habe sie schnell geschrieben und musste sie danach kaum redigieren. Ich weiß gar nicht, wie das passiert ist; ich glaube, es war einer dieser seltenen Glücksfälle, in denen es einfach aus mir herausfloss und ich die Inspiration nur niederschreiben musste. Aber ich muss zugeben, dass ich doch recht viel über die Gewalt in diesem Buch nachgedacht habe: wie viel davon ich darstellen sollte, ohne dass sie willkürlich oder exzessiv wirkt. Virgil lebt von seinen Fäusten, daher schien es mir nötig, die handfeste Form von Gerechtigkeit, für die er zuständig ist, auch zu schildern, und ich freue mich, dass die meisten Leserinnen und Leser sich von den manchmal brutalen Geschehnissen im Buch nicht abschrecken lassen.

Du greifst auf dein Leben und deine Erfahrungen als Native American in der Rosebud Reservation in South Dakota zurück, was dem Roman ungeheure Authentizität verleiht und Winter Counts zu einem einmalig persönlichen und bewegenden Krimi macht. War es für dich nicht manchmal schwer, das alles zu schreiben?

Ja, ich fühlte mich verpflichtet, ganz ehrlich, aber auch positiv über die Rosebud Reservation zu schreiben, und es war nicht immer leicht, beiden Seiten gerecht zu werden. Das Reservat steht vor riesigen Herausforderungen – Armut, schlechte medizinische Versorgung, Mangel an gesunden Lebensmitteln –, aber wir besitzen auch eine wunderbare Kultur und Lebensart. Beim Schreiben hatte ich öfter Angst, dass ich die Probleme zu sehr herausstelle und die Freude, der Geist, der Humor und die Widerstandskraft der Lakota zu kurz kommen. Das war mit der schwierigste Aspekt des Buchs, und ich habe viel Zeit auf das Verfassen dieser Teile verwendet. Ich hoffe, es ist mir gelungen, sowohl die Schwierigkeiten wie die Freuden eines Lebens als Native American zu schildern, aber diese Entscheidung sollen bitte die Leserinnen und Leser treffen! Noch mal, ich bin wirklich allen, die das Buch gelesen haben, sehr, sehr dankbar. Wopila – Danke.

Übersetzung: Sven Koch