Das personifizierte Böse

Eryk Pruitt im Gespräch mit Marcus Müntefering
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Eryk, wo sind Sie geboren und aufgewachsen?

In einer kleinen Stadt in Ost-Texas, etwas südlich von Dallas.

Wie kommt es, dass Sie heute in Durham, North Carolina, leben?

Ich bin hierhergezogen, weil das Wetter besser ist. Wie Sie sich vorstellen können, kann es in Texas verrückt heiß werden. Als ich aufgewachsen bin, wusste ich es nicht besser, aber nach dem College, als ich anfing durch die Welt zu reisen, entdeckte ich, dass andere Menschen nicht unter so brutalen Sommern leiden, wie wir in Texas. Höchste Zeit umzuziehen.

Haben Sie Familie?

Ich habe eine sehr geduldige Frau namens Lana, und zusammen haben wir zwei Katzen: Busey und Smudge. Dazu kommen fünf Hühner und Tausende Eichhörnchen.

Sie haben ein paar Kurzfilme gedreht, drei Romane und einen Band mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Ich nehme an, dass Sie von der Kunst allein nicht leben können, oder?

Ich bin ein Nachtarbeiter. Heißt: Ich bin der Besitzer und Betreiber einer Bar in Hillsborough mit dem Namen Yonder. Vier bis fünf Abende die Woche arbeite ich hinter der Bar und bin Gastgeber für einige der besten Konzerte und Lesungen in meiner Gegend.

Klingt nach Spaß …

Yonder, das ist das Beste, das ich je gemacht habe. Ich habe Abschlüsse in Literatur und Geschichte gemacht, was heißt, dass ich dazu verdammt bin, in der Service-Industrie zu arbeiten. Ich habe jahrelang für andere hinterm Tresen gestanden und gesehen, welche Fehler sie machen. Ich hatte schon damals viele Ideen, aber keine Chance, sie umzusetzen. Jetzt kann ich es tun – und meine Leute besser behandeln als ich es früher erlebt habe. Es ist ein Riesenspaß, vor allem wegen der Gäste. Als wir inmitten dieses US-amerikanischen Kulturkriegs während der Hochzeit der Coronapandemie steckten, haben wir es gewagt, nur Geimpfte in die Bar zu lassen – was ein Killer in diesem Business sein konnte. Aber stattdessen kamen doppelt so viele wie zuvor. Also: Ich kann mit tollen Typen rumhängen, super Musik hören – und nicht gefeuert werden. Was könnte man daran nicht lieben?

Sie müssen doch viele gute Geschichten am Tresen hören, oder?

Gute Geschichten, gute Typen. Aber ein guter Wirt erzählt nichts. Außer vielleicht in meinem nächsten Roman…

„Das schnelle Leben“ ist in den USA bereits 2017 erschienen – haben Sie das Schreiben etwa komplett gegen das Leben in der Bar eingetauscht?

Nein, im März 2023 erscheint mein neuer Roman in den USA. Ich hoffe, dass er ähnlich gut aufgenommen wird wie „Das schnelle Leben“, der für einen Anthony Award nominiert war und auch sonst viel gutes Feedback bekommen hat – und immer noch bekommt. Die Leute erzählen mir immer wieder, wie sehr sie Summer und Jack berührt haben, und wo sie beim Lesen lachen mussten oder welche Teile des Romans sie traurig gemacht haben.

Jack und Summer sind typische Grifter, also Abzocker. Sie kommen in die osttexanische Kleinstadt Lufkin, um geklautes Koks zu verkaufen. Ist „Das schnelle Leben“ für Sie eine Art Wiedervereinigung mit Ihrer alten Heimat?

Ja, der Roman ist so eine Art „Greatest Hits“ aus den Orten meiner Jugend. Ich bin in Nacogdoches aufs College gegangen und hatte jahrelang einen Job in einem miesen Tex-Mex-Restaurant in Lufkin. Auch die kleine Farm südlich von Ennis, wo ich gelernt habe Auto zu fahren, zu schießen und zu spucken, taucht in „Das schnelle Leben“ auf. Das Buch ist durchdrungen von meiner eigenen Geschichte.

Was macht diesen Teil von Ost-Texas so speziell?

Es ist ein dunkler Ort voller böser Ahnungen. Lesen Sie die Romane von Joe R. Lansdale, dann wissen Sie Bescheid.

Jack und Summer infiltrieren die Subkultur von Lufkin und Umgebung, um ihr Geschäft aufzuziehen. Da scheinen Sie sich gut auszukennen …

Ich habe mehr Kriminelle gekannt als Cops, das macht es für mich einfacher, über diese Art Menschen zu schreiben. Und vielleicht oder vielleicht auch nicht habe ich selbst ziemlich ausgiebige Erfahrungen mit diesen Dingen gemacht.

Hatten Sie reale Vorbilder für die Figuren von Jack und Summer?

Ich wollte ein Paar zeigen, das in einer nicht-sexuellen, aber dennoch toxischen und gefährlichen Beziehung steckt. Sollten die beiden auf echten Menschen basieren, würde ich das nie öffentlich zugeben.

Sehr diskret von Ihnen …

Na gut, so viel kann ich verraten: Summer ist sehr real. Ich habe viele Menschen mit ihren speziellen Fähigkeiten als Dealerin kennengelernt. Ich kannte sogar mal eine Frau, die wie Summer immer eine Flasche „Jerry Water“ dabeihatte, von der sie glaubte, dass sie heilsame Kräfte hätte, weil Jerry Garcia einmal aus ihr getrunken hat.

Jerry Garcia war der ehemalige Kopf der kultisch verehrten Hippieband The Grateful Dead, die in Ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt. Noch wichtiger ist aber die Neo-Hippieband Phish, die Summer und viele ihrer Kunden sehr lieben. Wie sehr hassen Sie Phish?

Haha, ich hasse sie nicht unbedingt, aber ich habe viel Zeit mit Menschen verbracht, die besessen sind von den Dead und von Phish, und in Summer wollte ich zeigen, wie sehr das nerven kann. Fan von einer Band zu sein, kann Menschen helfen, die ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl brauchen, und das scheint in der Drogenszene besonders verbreitet zu sein, weshalb Summer hier so leicht punkten kann.

Sie hören aber lieber andere Musik, nehme ich an? Ich müsste beim Lesen etwa an The Cramps oder Outlaw Country denken. Wie sehr hat Musik Ihren Roman geprägt?

Oh, klar, ich liebe die Cramps und Outlaw Country. Aber beim Schreiben habe ich andere Sachen gehört. Während ich an den Summer-Kapiteln gearbeitet habe, natürlich viel Grateful Dead, aber auch Edie Brickell, 311 oder Sublime. Für Jack war die Auswahl etwas düsterer, zum Beispiel Waylon Jennings oder Lee Hazlewood. Musik ist für meinen kreativen Prozess sehr wichtig, ich stelle sogar Playlists für einzelne Szenen zusammen. Musik hat mich immer schon inspiriert, mein zweiter Roman Hashtag etwa ist komplett von Bob Dylans „Highway 61 Revisited“ beeinflusst.

Neben Drogen und Musik geht es in Ihrem Roman auch um Religion. Da scheinen Sie mir eher kein Fan zu sein.

Religion und Ethnie sind, was den Süden formt. Sie sind immer da, im Guten wie im Schlechten. Ich bin tatsächlich kein Fan von Religion, eigentlich verabscheue ich sie sogar, auch weil sie mehr Leute gekillt hat als die Cholera, aber man kann nicht über den Süden der USA schreiben und Religion weglassen. Das wäre eine Lüge.

In Ihrer E-Mail-Adresse steht Reverend Eryk – pure Ironie?

Den Spitznamen habe ich mir in den Neunzigern verdient, als ich noch gekellnert habe. Ich hatte immer diesen Tisch mit Typen von der Pfingstbewegung – sie waren bekannt als sehr anspruchsvoll und gleichzeitig knausrig. Nach einem Jahr oder so hatte ich sie geknackt. Sie gaben mir reichlich Trinkgeld und den Spitznamen Reverend, der aus dieser Zeit geblieben ist.

Von Religion ist es nicht weit bis zu Kulten. Ihrem Roman steht ein Zitat des Hippigurus Charles Manson vor, und Jack entwickelt sich im Laufe des Romans auch zu einer Art Sektenführer, hat mich aber eher an Jim Jones erinnert, der Gründer des Peoples Temple, der 1978 rund 900 seiner Anhänger in den Selbstmord getrieben hatte.

Auf jeden Fall, Jack ist eine Kombination aus Jones und David Koresh…

… ein Sektenführer, der sich mit seinen Jüngern im texanischen Waco verschanzt hatte und 1978 nach längerer Belagerung beim Sturm auf das Gebäude durch das FBI ums Leben kam …

… und verliert im Laufe des Romans immer mehr den Bezug zu sich selbst. Ich stellte mir vor, dass er jemanden wie Charles Manson, der jungen Frauen seinen Willen aufdrücken konnte, durchaus bewundern würde. Als ich das Buch geschrieben habe, habe ich mir tatsächlich ganze Reden von Koresh angehört, um ins richtige Mindset zu kommen. Außerdem habe ich fast alles gelesen, was ich über Waco und Jonestown finden konnte.

Warum sind wir auch Jahrzehnte später noch fasziniert von Koresh, Jones oder Manson?

Ich glaube, weil man sich heute nicht mehr vorstellen kann, wie sie es geschafft haben, so einflussreich zu sein. Die Tatsache, dass Manson nie jemanden selbst umzubringen brauchte, weil er eigentlich ganz normale Menschen dazu bringen konnte, für ihn zu morden, ist abscheulich. Jeder, der Menschen so sehr beeinflusst, dass sie ihre Eigenständigkeit verlieren, ist meiner Meinung nach nichts anderes als das personifizierte Böse.