Aber tun wir das nicht alle?

William Boyle im Gespräch mit John Vercher

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William Boyle: Wintersturm ist dein erster Roman. Wo liegen seine Ursprünge? Wann hast du begonnen, ihn zu schreiben? Von wann stammt die erste Idee dazu? Und wie kam es zur Veröffentlichung?

John Vercher: Die Grundgedanken für die Geschichte gehen bis in die frühen 90er zurück. Als Student an der University of Pittsburgh war ich in einem Kurs über Black Cinema, und dort lernte ich mit dem Film Imitation of Life die stereotype Figur des „tragischen Mulatten“ kennen, was mich wiederum auf Nella Larsens Roman Seitenwechsel brachte. Für mich als Schwarzen gemischter Herkunft waren diese Geschichten neu und spannend, vor allem auch, weil es, zumindest damals, kaum zeitgenössische Entsprechungen gab.

Um dieselbe Zeit habe ich den Film American History X gesehen (falls es nicht sowieso klar ist: Ich bin ein großer Fan von Kino und Fernsehen) und hatte den Einfall zu einer Figur, deren Leben umgekehrt verläuft – das heißt, was wäre, wenn jemand wie der von Edward Norton dargestellte Protagonist im Film durch die Gefängniserfahrung kein besserer, sondern ein schlechterer Mensch würde?

Irgendwann habe ich meine Ideen in ein Drehbuch gepackt und es sogar geschafft, mich damit bei ein paar Produktionsfirmen vorzustellen, aber es war alles unausgegoren, und so wurde nichts draus. Dann haben praktische Erwägungen die kreativen Träume verdrängt, und ich wurde Physiotherapeut und habe zehn Jahre in dem Beruf gearbeitet. Dennoch hatte ich stets das Gefühl, dass es nicht das ist, was ich tun wollte und sollte. Meine wunderbare Frau hat mich immer unterstützt und ermutigt, wieder zu studieren und einen MFA in kreativem Schreiben zu machen, und das habe ich getan. Was nicht heißen soll, dass man so einen MFA braucht, um ein Buch zu schreiben – auch wenn online dauernd dafür die Trommel gerührt wird. Für mich aber, der lange nicht geschrieben hatte, war es genau das Richtige.

Allerdings wurde für das Studium eine Textprobe verlangt, und ich hatte keine. Meine Frau kam auf die brillante Idee, mein Drehbuch zu nehmen und einen Roman daraus zu machen. Ich habe, wieder einmal, auf ihren hervorragenden Rat gehört, und Wintersturm wurde meine Masterarbeit.

Der Weg zur Veröffentlichung war, wie so oft, ziemlich verschlungen. Ich habe den Anfängerfehler gemacht und gedacht, meine Arbeit sei gut genug für einen Agenten, nur weil ich damit meinen Abschluss gemacht hatte. Also dauerte es nicht lange und die Absagen stapelten sich. Wobei ich das Glück hatte, fast jedes Mal wirklich gute Hinweise zu bekommen. Nach einigen Überarbeitungen fand ich dann einen neuen Agenten, und eine neue Runde von Absagen begann, nur dass die jetzt nicht von Agenten, sondern von Verlagen kamen.

Bei meinem Aufbruch in die Verlagswelt war ich aber sowieso davon ausgegangen, dass ich mir erst mal Ablehnung einhandeln würde. Mein erster Agent und ich haben uns später auch in gegenseitigem Einvernehmen getrennt. Nach einiger Zeit habe ich einen neuen gefunden und irgendwann auch einen Vertrag mit Agora bekommen, ein auf das Thema Diversität spezialisiertes Imprint von Polis Books. Wintersturm erschien schließlich am 10. September 2019, fast zwanzig Jahre nach der ersten Idee.

William Boyle: Es freut mich, dass du ein paar Werke nennst, die dich begeistert haben. Seitenwechsel ist ein fantastisches Buch – ich habe es vor Kurzem gelesen, nachdem ich Rebecca Halls Filmadaption gesehen habe. Welche anderen Bücher, Filme und Fernsehserien haben dich beeinflusst? Wie war es, ein Drehbuch zu einem Roman umzuarbeiten? Eines von vielen Dingen, die mich an Wintersturm angesprochen haben, war die Struktur. Der Wechsel zwischen den Figuren. Die aus verschiedenen Perspektiven geschilderten Szenen. Die Leben, die – egal, ob die Figuren es wollen oder nicht – miteinander verbunden sind und aufeinanderprallen. So erzähle ich auch am liebsten. Wie kam es bei dir zu dieser Struktur? Wusstest du beim Umarbeiten des ursprünglichen Drehbuchs von Anfang an, dass du multiperspektivisch schreiben willst? Oder hast du anfangs erst alles als Bobbys Geschichte erzählt?

John Vercher: Oh Mann, da muss ich ein bisschen ausholen. Beeinflusst hat mich eine Menge von dem, was ich oben angedeutet habe, manches ganz offensichtlich, anderes weniger. Neben der genannten Nella Larsen waren Bücher von Jesmyn Ward, John Edgar Wideman, James Baldwin, Mat Johnson, Ernest Gaines und Colson Whitehead meine wichtigsten Einflüsse. Insbesondere Baldwin und Gaines und jüngst auch Whitehead mit Die Nickel Boys haben kürzere Romane geschrieben, die dennoch unglaublich komplex sind, was Thematik und Figuren betrifft, und die mich viel stärker berührt haben als längere Bücher. Es scheint, als komme es darin auf jedes Wort, jede Szene, jeden Satz an. Danach strebe ich auch in meinem nächsten Buch.

Ich will diese Antwort nicht zur langweiligen Aufzählung von Filmen und Fernsehsendungen machen, aber Do the Right Thing ist noch immer der Film mit dem stärksten Einfluss auf meine kreative Arbeit. Ich erinnere mich gut, wie ich ihn mit meinem Vater im Kino gesehen habe und wie viel wir hinterher darüber geredet haben. Und in jüngerer Zeit hat mich der Film Wolfsnächte (nach dem gleichnamigen Buch) bei der Konzeption meines dritten Buchs ganz neu über knappe, aber tiefsinnige Dialoge nachdenken lassen.

Was das Fernsehen betrifft, so bin ich mit bahnbrechenden Sitcoms wie All in the Family, The Jeffersons, Sanford and Son, Good Times und anderen aufgewachsen. Aktuell finde ich Donald Glovers Atlanta eine der besten und originellsten Serien und eine Inspiration für meine zukünftige Arbeit.

Der Weg vom Drehbuch zum Roman war schwierig, hat aber auch Spaß gemacht. Das Überarbeiten meiner ersten Entwürfe war eine ernüchternde Erfahrung, um’s mal vorsichtig auszudrücken. Wie erwähnt, hatte ich während meiner Schreibpause die einfachsten Dinge des Handwerks weitgehend vergessen, aber mir wurde klar, dass ich sie schon beim Abfassen des Drehbuchs nicht unbedingt perfekt beherrscht hatte. Das Material zu sichten und ein Buch daraus zu machen, war für mich ein ungeheurer Lernprozess und zugleich eine Art Befreiung. Im Gegensatz zum Romanschreiben gibt es bei Film- und Fernsehdrehbüchern einige „Regeln“. Die schöpferische Abschaffung, wenn ich’s mal so sagen darf, dieser Kontrollinstanz war sehr befreiend. Ich weiß gar nicht, ob es das Buch überhaupt gäbe, wenn ich diesen besonderen Weg nicht gegangen wäre.

Was die verschiedenen Perspektiven betrifft, so habe ich zu jener Zeit zwei Bücher gelesen, die mich beeinflusst haben, dieses Verfahren zu nutzen: Wiley Cashs Fürchtet euch und Stieg Larssons Verblendung. Die ersten Fassungen von Wintersturm waren aus Bobbys Perspektive in der ersten Person erzählt, aber das hat der Geschichte und den Themen, die ich darstellen und verarbeiten wollte, zu enge Grenzen gesetzt. Besonders gefallen hat mir an den Perspektiv-wechseln in beiden Büchern, dass man ein Kapitel las, als säße man in einer Achterbahn nach oben, und dann, am Kapitelende, wenn man oben war und schreiend hinuntersausen wollte, begann das nächste Kapitel aus einer anderen Perspektive, und man fuhr weiter nach oben, Spannung und Nervenkitzel stiegen noch mehr. Erst wenn man kapierte, wie diese Perspektiven zusammenliefen, sauste die Achterbahn steil in die Tiefe und fuhr durch die Loopings, und das war so was von gut. Eine solche Gefühlsachterbahn wollte ich ebenfalls erzeugen. Hoffentlich ist das gelungen.

William Boyle: Dein Buch ist auch ein großer Pittsburgh-Roman. Mir kommt er wie eine psychogeografische Erkundung vor. Du lotest nicht nur die Seelen deiner Figuren – Bobby, Aaron, Robert, Isabel – aus, sondern auch die Seele der Stadt. Kannst du etwas darüber sagen, wie Pittsburgh dieses Buch beeinflusst hat? Du hast erwähnt, dass du dort studiert hast – bist du da auch aufgewachsen? Ich bin in New York City aufgewachsen und lebe seit über einem Jahrzehnt im tiefen Süden – in Pittsburgh war ich nur einmal und weiß nicht genau, wie es dort ist. Gehört es zum Nordwesten? Oder eher zum Mittleren Westen? Oder ist es schon Teil von Appalachia? In jedem Fall hat die Stadt eine eigenständige, komplizierte und wechselvolle Geschichte, in der Ethnizität und Rassismus eine große Rolle spielen und die sicher auch ein Antrieb für dich war. Ein anderer Aspekt, der mich sehr angesprochen hat, ist, dass der Roman im Jahr 1995 spielt. Die 1990er waren für mich und meine Entwicklung prägend – zu Beginn des Jahrzehnts war ich zwölf und am Ende schon im College. Die Bücher, die Filme, das Fernsehen und die Musik sowie die kulturelle Atmosphäre der Zeit haben meinen Geschmack geformt. Im Buch erscheint der Prozess gegen O. J. Simpson im Hintergrund, auch die brutale Polizeigewalt gegen Rodney King 1992 in L. A. und die davon ausgelösten Unruhen werden in Gesprächen über Simpson und Rassismus thematisiert. Wusstest du schon von Anfang an, dass die Geschichte in diesem besonders spannungsgeladenen historischen Augenblick spielen sollte? Wie bist du das angegangen?

John Vercher: Ich stamme nicht aus Pittsburgh, aber ich war sechs Jahre an der University of Pittsburgh und habe nach dem Abschluss noch mehrere Jahre dort gelebt. Für mich gab es mehrere Gründe, den Roman in dieser Stadt spielen zu lassen. Als Student war ich ungefähr in Bobbys Alter, und damals waren die Folgen der Unruhen von L. A. nach dem Freispruch der Polizisten und die Auswirkungen des etwas späteren Simpson-Prozesses deutlich zu spüren. Vor allem während des Prozesses wurde sehr offen über Ethnizität, Polizei und Prominenz diskutiert. Ich habe zu der Zeit in einem Restaurant gejobbt, das dem im Buch sehr ähnlich ist, und diese Vorgänge waren Dauerthema und haben auch zu hitzigen Auseinandersetzungen geführt. In einigen der für mich entscheidenden Jahre, als ich mir als junger Erwachsener über meine ethnische Identität und das, was das überhaupt hieß, klar werden musste, herrschte im Hintergrund immer eine latente Anspannung. Mir schien es sinnvoll, eine Geschichte über Identität in diese Zeit zu versetzen, weil es mir leicht fiel, mich an die Gefühle und Erfahrungen von damals zu erinnern. Ich wollte, dass sich alles so real und lebendig anfühlte wie möglich.

Speziell Homewood habe ich erwähnt, weil ich fand, dass dem Viertel in jener Zeit Unrecht getan wurde. Homewood und andere Teile von Pittsburgh hatten damals ein Problem mit Gangs, und deswegen wurden die Viertel insgesamt verteufelt, was ja oft geschieht. Weder wurde die reiche kulturelle Vergangenheit des Viertels erwähnt noch sein Niedergang durch das Entstehen der Stahlindustrie in der Industrialisierung. Das habe ich erst begriffen, als ich das Werk John Edgar Widemans und speziell seine Homewood-Trilogie gelesen und mehr über eine Gegend erfahren habe, vor der uns ständig Angst eingeimpft wurde. Nach Erscheinen von Wintersturm wurde ich in einen Buchclub eingeladen, bei dem mehrere Mitglieder aus Homewood stammten, und jetzt sind von dort auch neue dazugekommen. Das war eine sehr große Ehre und Freude für mich.

Was die 90er als prägende Jahre betrifft, geht’s mir wie dir, insbesondere in der Musik. Die Musik der späten 80er bis späten 90er (und auch die der frühen Nuller), vor allem Hip-Hop und Rock, hat mich stark beeinflusst, und ich behaupte (jetzt klinge ich schon wie ein alter Knacker), dass sie viel besser ist als alles, was es heute gibt. Viel von dieser Musik lief, als ich das Buch geschrieben habe, und sie füllt praktisch alle meine Playlists. Eigentlich mag ich Musik fast aller Genres, aber es sind Songs aus dieser Zeit, die ich immer wieder höre. Ich habe den Eindruck, dass die Alben damals im Grunde Romane waren und von Anfang bis Ende eine Geschichte erzählten. Das soll nicht heißen, dass die heutige Musik das nicht macht, aber ich glaube wie du, dass die Musik von damals etwas ganz Spezielles hat.

William Boyle: Was mir an deinem Buch wirklich gut gefällt, ist, dass darin nichts einfach ist. Aaron könnte leicht ein eindimensionaler Schurke sein, aber sein Charakter erhält – vor allem durch die Rückblenden – viel Tiefe. Ich würde sagen, im Buch geht es in erster Linie um Identität und Überleben. Zum Überleben wählt Aaron anfangs eine Strategie, und am Ende entscheidet er sich für etwas anderes. Das heißt nicht, dass man ihn mag oder viel Sympathie für
ihn hat – er hat gewisse Entscheidungen getroffen, unter anderem die, zu hassen –, aber dadurch bekommt sein Charakter mehr als eine Dimension. Einmal sieht Bobby spätabends im Bus einen Obdachlosen und stellt sich mit Blick auf den Mann die Frage: Was hat dich hierhergebracht? Diese Frage scheint sich mir bei allen Figuren zu stellen. Was hat sie in die Situation gebracht, in der sie sich befinden? Zu welchem Zeitpunkt haben sie sich irgendwie angepasst oder etwas getan, das sie besser gelassen hätten? Bei Isabel liegt die Wurzel sehr wahrscheinlich in der Angst vor ihrem Vater. Auch bei den anderen Figuren ist das Grundübel eigentlich immer Druck seitens der Gesellschaft oder von ihnen Nahestehenden. Selbst jene, die im Grunde ihres Herzens gut sind, verraten ihre Werte und tun etwas, von dem sie wissen, dass es falsch ist. Das ergibt ein vielschichtiges Porträt einer ziemlich abgefuckten Menschheit. Wie hast du diese Figuren aufgebaut? Wie hat sich das angefühlt, als du das Buch geschrieben hast, und wie empfindest du sie jetzt?

John Vercher: Ich muss zugeben, dass Aaron in meinen ersten Entwürfen ziemlich eindimensional war, aber das ist ja auch der leichteste Weg, nicht? Man findet seine Taten und seine Einstellung abscheulich, also muss es der ganze Charakter sein. Er darf nichts an sich haben, das Verständnis für ihn weckt, wie soll das gehen?

Aber das Leben ist nie ganz so einfach. Nur wenige Menschen sind durch und durch böse, und sie als solche darzustellen, bringt einen nicht weiter auf dem erfolgversprechendsten Weg, die Schäden, die der Rassismus in diesem Land verursacht hat, zu beheben. In den Diskussionen über das Buch habe ich oft Darryl Davis erwähnt. Er ist ein toller Musiker und Aktivist und hat Hunderte von Ku-Klux-Klan-Kutten zusammengetragen, die von Mitgliedern stammen, die sich von der Organisation und ihren Ideen gelöst haben, weil sie sich mit Davis angefreundet haben. Das hat er allein durch Reden bewirkt.

Indem er mit ihnen sprach. Und mit ihnen auf eine Art in Kontakt trat, von der man ihnen eingetrichtert hatte, sie sei unmöglich. Davis will die Welt Gespräch für Gespräch besser machen.

Ich wollte, dass mein Buch nicht nur in meiner Echokammer Anklang findet. In viel geringerem Ausmaß als Davis sollte es andere Menschen erreichen. Dazu musste ich jede meiner Figuren möglichst menschlich und glaubwürdig zeichnen – auch Aaron, egal, wie unangenehm das sein mag. Es ist ja nichts Neues: Die glaubwürdigsten Schurken sind jene, die denken, sie wären keine. Das gilt ganz sicher für Aaron – und für alle anderen Figuren in Wintersturm auch.

Das heißt nicht, dass sie alle schlechte Menschen sind, aber alle treffen schlechte Entscheidungen, und zwar aufgrund von Urteilen, die sie zumindest zum Zeitpunkt der Entscheidung für vernünftig halten. Aber tun wir das nicht alle? Was meine Gefühle für sie betrifft – tja, das bleibt schwierig. Obwohl sie Figuren in einer von mir erschaffenen fiktionalen Welt sind, sind sie doch aus echten Menschen und Erfahrungen heraus komponiert, und in diesem Sinne empfinde ich sehr viel für sie und mit ihnen. Ich hoffe – auch wenn mir klar ist, dass das viel verlangt ist –, dass die Leserinnen und Leser ebenso mit ihnen mitfühlen können und dieses Mitgefühl vielleicht sogar auf andere übertragen, die nicht diese Seiten bevölkern.