Heilbringende Macht der Großen Literatur

Marcello Fois IM INTERVIEW MIT Monika Lustig

Der italienische Autor Marcello Fois über seinen Roman „Abschiede“, Covid 19, die deutsch-italienischen Beziehungen, Vaterschaft und über die Kunst als potenziellen Schlüssel, um die Tore des Bewusstseins zu öffnen.

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Marcello, wir waren für Anfang April in Bologna verabredet, in einem schmalen Zeitfenster der Lesereise Deines letzten Romans, „Pietro e Paolo“ von 2019. Dann wurden die Grenzen geschlossen, und wir eingesperrt. Die Worte, die Literaturen, die tendenziell subversiven – anerkennen zum Glück keine Grenzen, nisten in unseren freien Köpfen. Willst Du kurz erzählen, wovon dieser Roman handelt?

„Pietro e Paolo“ ist unter vielen Gesichtspunkten ein Roman der Reife, vor allem in formaler Hinsicht: er ist kurz, sehr synthetisch; aber auch in thematischer: er schließt viele Elemente ein, die meine gesamte bisherige Literaturproduktion kennzeichnen: Ort der Handlung (Sardinien), die Reise des Helden, die Freundschaft, der Erste Weltkrieg. Ja, es gibt auch direkte Verweise auf die Trilogie der Familiensaga der Chironi (bislang: 2 Bände erschienen) „Die Schöne Mercede und der Meisterschmied“ und „Zwischen den Zeiten“, sowie auf „Sardische Vendetta“ (Original: „Memoria del Vuoto“). Auch auf einen Abschnitt aus der Reihe der Krimis mit der Hauptfigur des Advokaten Bustianu. Eine Art Fois-Konzentrat. Es die Geschichte zweier Freunde, „99er-Jungs‘“ (das sind die jungen Männer, die 1899 geboren, noch im letzten Kriegsjahr zwangsrekrutiert, und im November nach der italienischen Niederlage bei Caporeto, aufs Schlachtfeld geschickt wurden, M.L.), die in den Ersten Weltkrieg ziehen und mit ihrem Leben zurechtkommen müssen, das eine jähe Umkehr erfahren hat. Typisch Fois, würde ich sagen.

Die deutsch-italienischen Gesellschaften haben zum Zeichen der Solidarität mit Italien Lesungen des 34. Kapitels der „Brautleute“ von Alessandro Manzoni, also das über die Pest in Mailand, auf Videokanal veranstaltet; alternativ oder ergänzend würde ich die Lektüre der „Geschichte der Schandsäule“ empfehlen; abgesehen vom naheliegenden Bezug zur aktuellen Pandemie möchte ich diese Lektüre mit dem Thema des Zweifels und der Halbwahrheiten, der Unterstell-ungen verlinken, die den tödlichen Untergrund des Romangeschehens in „Abschiede“ bilden. Auf den Punkt kommend: die Lombardei eines Manzoni im Mittelalter und die Lombardei heute, die italienische Region Italiens mit der größten Zahl an Covid19 gestorbenen Einwohnern – welche Parallelen siehst Du?

Ich sehe die heilbringende Kraft der Großen Literatur, die in meinen Augen immer schon ein Überlebenshandbuch war. Die Menschheit verfügt seit eh und je über die nötigen Elemente, um die Probleme der eigenen Zeit als Entwicklungen oder als Wiedervorlagen der uns seit Urzeiten heimsuchenden Übel zu betrachten. Wir hätten bereits seit dem Buch vom Peloponnesischen Krieg ausreichend über die Gefahren einer Pandemie informiert sein müssen, in dem Thukydides von der Pest im Athen des Jahres 430 v.Chr. erzählt. Oder seit dem Prolog des Dekamerons, wo Giovanni Boccaccio die Verheerungen der Pest 1340 in Florenz erörtert. Oder bei Daniel Defoe, der in seiner fiktiven Reportage „A Journal of the Plague Year“ (Die Pest zu London) von der schrecklichen Epidemie 1665 in London berichtet. Manzoni ist also nur der mit der meisten Intuition, doch auch nach ihm, denken wir an Camus, an Saramago …, dank derer wir genügend diesbezügliche Informationen hätten haben müssen. Wie sagte mir doch mein Lehrer Ezio Raimondi: „Wer sich allzu sehr wundert, hat nicht genügend gelesen“. Und heute – ganz offenkundig, wird nicht genügend gelesen, nicht nur in der Lombardei. Was den Zweifel und die Halbwahrheiten angeht, würde ich sagen, sie sind wesentlicher Bestandteil einer jeden guten Geschichte. Sie sind die Würze, die, wie Henry Fielding sagt, das „Grundnahrungsmittel“, eben die menschliche Natur ist, appetitlich machen.

Die Partei Bündnis90/Die Grünen haben als erste politische Kraft in Deutschland an die wahre, also wirtschaftliche Solidarität der noch existierenden Europäischen Union mit Italien appelliert. Du nährst recht kritische Überlegungen gegenüber der Position der deutschen Regierung in dieser Sache mit dem Karussell der Wirtschaftshilfen, nicht wahr?

Ich denke, dass die Deutschen, genau wie die Italiener, auf unterschiedlichen Wegen mit ihren Gemeinplätzen und Klischees, von denen sie befallen sind, aufräumen, ihnen Rechnung tragen müssen. Die faulen Italiener unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht besonders von den hyper-effizienten, superpünktlichen, präzisen Deutschen. Sich an diese Gemeinplätze zu gewöhnen, bedeutet der größte Feind seiner selbst zu sein. Wir haben hier in Italien Beispiele von gehorsamsten Deutschen, die sich an unseren Küsten wie unzivilisierte Wilde benehmen und einen Haufen Dinge anstellen, die bei euch, in Deutschland strafbar wären oder zumindest Verstöße gegen die öffentliche Ordnung darstellen. Ihr wiederum habt Beispiele von pünktlichen und höchstfleißigen Italienern, die im Ausland eine Korrektheit entwickeln, die sie oft im eigenen Land nicht anwenden. Jeder ist Opfer der eigenen Legende. Unsere neuere Geschichte, also die zwischen Italienern und Deutschen, ist in der Tat kein Zuckerlecken. Wir stehen für zwei entgegengesetzte Weltanschauungen: Euer Drama gegen unser Melodrama. Die Kultur kann vermittels des Bewusstseins von diesem Unterschied, der ein intellektueller, aber auch einer des Charakters ist, – und sie tut es auch – weitläufige Wege der Zusammenarbeit und Solidarität finden. Wir brauchen einander, just weil wir zwei so unterschiedliche Leseweisen des Lebens und der Welt verkörpern.

Du lebst seit Jahrzehnten in Bologna – die gelehrte, die üppige, die politisch meist entwickelte Stadt – nachdem Du dein Sardinien hinter Dir gelassen hast, wohin Du, in einem ersten Moment so gesagt, nie mehr wieder zurückkehren wolltest; wohlwissend, dass Sardinien einem, der dort geboren ist, diese Entscheidung gar nicht zugesteht (und ich kann hinzufügen, auch nicht derjenigen, die dort über längere Zeit gelebt hat), Sardinien, die Barbagia, die Ogliastra, ist für Dich ein unerschöpflicher Brunnen für Deine Erzählkunst, Dein Identitätsanker. In Gavoi hast Du zusammen mit anderen das jährlichen Literaturfestival „L’isola delle Storie“ gegründet, das sich stetig wachsender Beliebtheit erfreut. Welche nicht-italienische Autoren, die im Laufe der Jahre geladen waren, nehmen noch heute einen besonderen Platz in Deinem Gedächtnis ein, haben auf unterschiedliche Weise ihre Spuren hinterlassen?

Bologna stellt längst ein nicht unerhebliches Stück meiner Identität, meiner Geschichte dar. Aber es war auch der perfekte Ort für einen aus der Barbagia wie mich. Auf jeden Fall stimmt es absolut, dass das Hauptreservoir meiner Geschichten just in diesem Flecken Erde, Insel in der Insel, die mich hervorgebracht hat, zu suchen ist. Und das ist in meinen Augen eine simple Methode, um sich mit dem Universum zu vernetzen. Dieser Fleck ist jener Hof, der mir in den Genen, ohne Wenn und Aber mitgegeben wurde.

In Gavoi, mit dem Festival „Isola delle Storie“ habe ich versucht und suche noch Jahrein, Jahraus, den Pakt zwischen mir und meiner Heimat (terra) zu erneuern, in dem ich Autoren die ich kenne, Bücher, die ich gelesen habe, Personen, die ich gerne kennenlernen würde, dorthin einzuladen. So ist ein großartiges und überaus geschätztes Festival entstanden, das dieses Jahr eine „Pause“ macht, nächstes Jahr sehen wir weiter. Wie viele Gäste das Festival in all diesen Jahren beehrt haben, dazu braucht man nur auf www.isoladellestorie.it zu gehen. Es gibt einige Autoren, die ich noch gerne einladen möchte, wie zum Beispiel Karl Ove Knausgaard oder Christoph Ransmayr, dessen Roman „Die letzte Welt“ für mich ein absolutes Meisterwerk ist.

Kürzlich habe ich „Memoria del vuoto“ (Sardische Vendetta), die Geschichte des „Tigers der Ogliastra“ wiedergelesen; ich habe gesehen, dass auf dem Festival in Gavoi im vergangenen Jahr Dein gleichnamiges Theaterstück zur Aufführung kam; wie wurde diese Legende im heutigen Sardinien aufgenommen? Der Titel „Memoria del vuoto“ (so viel wie Erinnerung des Nichts, M.L.) den hast Du gegeben, nehme ich an? Könntest Du den Titel etwas erläutern? Auf Deutsch ist es der sehr explizite – Sardische Vendetta.

Der deutsche Titel, fürchte ich, schwimmt auf der Welle jener wechselseitigen Vorurteile, von denen ich kurz zuvor sprach. „Memoria del vuoto“ ist keine Rachegeschichte, sondern die Erzählung eines Unvermögens. Sie erzählt von denen, die nicht über das Instrumentarium verfügen, um die Welt zu deuten, und die folglich zur Gewalt greifen, auch der physischen, um auf die eigene Ohnmacht zu reagieren. Die Leere des Banditen Stocchino ist die Identitätsleere all jener, die sich an den Blick der anderen gewöhnt haben, ohne den eigenen Blick vorzulegen. Es ist die Leere derjenigen, die sich abwenden vor den großen Tragödien, die auf uns niedergehen, die denken, dass die Geschichte ein Privatevent ist und nichts Gesellschaftliches, die ganze Menschengemeinschaft betreffend. Wer Geschichte als etwas Privates abhandelt, wird die Realität in einem exklusiven, egoistischen Verhältnis zu seinen eigenen Bedürfnissen sehen: welche Solidarität, Empathie, Mitleid kann man sich von dergleichen Individuen erwarten? Millionen solcher „Leerstellen“ bringen die Tragödien hervor, von denen wir befallen sind.

Die Koexistenz, die Inspiration, das sich gegenseitige Befruchten zwischen Literatur und bildender Kunst .. ich erinnere noch die Lesereise zur deutschen Ausgabe von „Nel tempo di mezzo“ (Zwischen den Zeiten) im Italienischen Kulturinstitut in Wien; dort war das Museum Leopold und die Malerei von Hermann Nitsch für Dich ein Pflichttermin. Welchen Stellenwert hat die Kunst in Deinem Schaffensprozess als Roman- und Theaterautor?

Nun, die Kunst ist einer der potentiellen Schlüssel, mit denen sich die Tore des Bewusstseins öffnen lassen Die Künste haben das Gute, in einer Parallelwelt unterwegs zu sein, in der sie untereinander im Dialog stehen: Malerei, Literatur, Theater, Musik, Tanz. Alles ist daran beteiligt, das DNA der eigenen Entwicklung nachzuzeichnen. Der Intellektuelle ist ein Individuum, der mehr als jeder andere imstande ist, Verbindungen zu setzen, zu erkennen. Um das zu tun, muss man offen und ausgehungert sein. Es ist also notwendig, ein Archiv am Funktionieren zu halten, das ständig aktualisiert, auf den neuesten Stand gebracht, mit Sinn gefüllt wird. Das Cover von „Dura Madre“ (Der Tod wäscht alles rein) zeigt ein „gekreuzigtes“ mit Schweineblut verschmiertes Hemd, ein ausgezeichnetes Stück; denn es erzählt, auf gewisse Weise die Handlung des Romans. Dieses Miteinander der einzelnen Disziplinen ist für mich von erhabener, von wesentlicher Bedeutung. Deshalb sind alle meine Romane kontinuierlich in Verbindung mit dem ganzen Rest, Malerei, Musik, Film, Werbung, Mythos, Skulpturen, und was euch noch so gefällt.

In Deinen Romanen, zum Teil auch in deinen Krimis, vor allem aber in der Trilogie der Familiensaga der Chironi ist die Welt der Mythologie, der Kosmogonie, und in unserem Fall, in „Abschiede“ auch die der vier Elemente fundamental für die Handlung.

Hierin ist das Element der Luft das totalisierende, das gefährliche, da es unfassbar, veränderlich, sich stets verändernd ist. Denn es ist auch das Vehikel des Zweifels, der am Ende tödlich ist. Der Verdacht, der Zweifel sind der Erzählstrang der Geschichte; was die einer vom Zweifel und von Verdächtigungen zerstörten Familie ist … der einer andere Familie – auf sozusagen, beinahe unnatürliche Weise – entspringt (vermeintlicher Inzest), die sehenden Auges zerstört und ihrerseits zerstört wird. Der Zweifel/Verdacht ist der des Missbrauchs, der sexuellen Gewalt gegenüber den Kindern.

In Italien sind die Zeitungen voll mit Meldungen über Gewalt in der Familie, Du verweist in deinem Buch ebenfalls auf die tödliche, eiskalte Gewalt gelangweilter, nur am Konsumverhalten orientierter Jugendlichen, gegenüber den Eltern und anderen Familienangehörigen. Wie ist die Situation in der italienischen Gesellschaft, diesbezüglich?

Romane wollen keine Antworten oder Rezepte liefern. Die Romane, zumindest die, die mir gefallen, wollen Fragen stellen. „Abschiede“ ist ein Roman über die Identität, im weitläufigsten Sinne, über den Schmerz, eine Identität ertragen zu müssen, die nicht deine wahre ist, aber auch über die Verantwortung die richtige Identität zu finden, die die uns harmonisch macht. Wie ich zuvor schon sagte, diese Lesestörung, diese Differenz zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein sollten, bringt eine Frustration und knallharte Komprimierung hervor. Die Figuren meines Romans sind realistisch gezeichnet, aber sie sind nicht real, sie repräsentieren funktionale Varianten der Handlung. Wir dürfen den Roman nicht mit dem Leben verwechseln, denn die Aufgabe der Erzählung, der Literatur ist die, das Gedächtnis wach und funktionsfähig zu halten, nicht Lösungen zu vermitteln. Ein guter Roman sollte in großen Mengen Hypothesen eröffnen, nicht selbige schließen oder sie definieren. Wir leben heute im Irrglauben, zu allem Zugang zu haben, und folglich alles zu kennen. Aber in Wirklichkeit tragen wir keine Sorge darum, uns für diese Möglichkeit auszurüsten. Wenn wir einen Ferrari besitzen, ihn aber nicht fahren können, oder nicht genügend Geld haben, um ihn vollzutanken, was machen wir dann damit? Die Literatur kümmert sich genau darum: uns in den Stand zu versetzen, auf der Höhe unserer Pläne, unserer Träume, unserer Erwartungen zu sein. wie unerreichbar diese auch sein mögen.

„Abschiede“ ist auch ein großer Liebesroman … in meiner Lesart … noch nie habe ich in der Literatur solch intensive Liebesszenen wie die zwischen Sergio und Leo miterlebt. Aber die fundamentale Liebe ist die zwischen Sohn und Vater, obwohl in ihrer Schönheit erst kurz vor dem Tod des Vaters erblüht.

Die Vaterschaft ist ein seltsames Gefühl, man kann sie sich im Laufe der Zeit aneignen, zurückgewinnen, im Unterschied zur Mutterschaft, die, wie sehr sie uns auch leiden lassen mag, unanfechtbar ist. Die neun Monate Zusammenleben im Mutterleib, machen aus dem Muttergefühl ein unausweichliches Fakt. Es gibt keine Vaterschaft, die jenem Gefühl gleichkäme. Doch die Vaterschaft hat das Gute, dass sie in aller Eile auch die Jahre des Nichtverstehens und der Trägheit wieder vergessen sein lassen, aufholen. Das ist genau, was Sergio Striggio in „Abschiede“ widerfährt. Den eigenen Vater zu entdecken ist eine Übung im Sich-bloß-legen bis auf die Knochen und auch in heftiger Selbstkritik. Oft nehmen die guten Väter die Verantwortung auf sich, als unpopulär, unbeliebt zu gelten, das heißt, sie laufen Gefahr, missverstanden zu werden. Pietro ist einer, der sehr viel mehr von seinem Sohn begriffen hat, als es auf den ersten Blick scheint. Auch das so etwas passiert einer bestimmten Kategorie von Vätern, die nämlich entscheiden müssen, was das kleinere Übel für die eigenen Kinder ist, und nicht, was das Gute für sie wäre. Aber ich wiederhole. Nicht alle Väter sind gleich und im Übrigen auch nicht alle Kinder …

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