„Unsere Haltung zu Gewalt ist voller Widersprüche“

Valentine Imhof im Interview mit Ute Cohen

 

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Valentine, das Thema „Rape & Revenge“ – im Film eine große Nummer – wird literarisch immer noch zu wenig bearbeitet. Sehen Sie Ihr Buch in dieser Tradition?

Ja, obwohl ich Alex nicht als reine Rächerin sehe. Sie ist keine Frau, die sich an der gesamten Männerwelt rächt. Als ich die Gewaltereignisse beschrieb, musste ich Alex‘ Reaktion plausibel machen. Die Gewalt, die Alex widerfährt, ist keine spezifisch männliche Gewalt, sondern eine die ganze Gesellschaft durchziehende Gewalt, die auch Männer trifft. Kurzum: Ich habe keine Geschichte mit einem gewaltbereiten Opfer geplant. A posteriori ist eine Story entstanden, die sich mit der allgegenwärtigen Gewalt auseinandersetzt. Ich versuche zu begreifen, wie defensive Gewalt entsteht.

Ist „Par les rafales“ ein feministisches Buch? Die Unterstützer der Hauptfigur Alex sind vor allem Männer …

Die einzige weitere weibliche Figur, die Ermittlerin, hätte unter anderen Umständen eine Verbündete sein können. Beide Frauen sind cool, haben einen entspannten Umgang mit Männern. Alex‘ Einsamkeit und die Tatsache, dass sie auf zwei verschiedenen Seiten stehen, verhindert aber eine Annäherung.

Überrascht hat mich, wie Männer auf das Buch reagiert haben. Seltsamerweise zeigen Männer mehr Empathie als Furcht vor Alex. Sie möchten sie beschützen, vor sich selbst und anderen. Männer möchten Alex dazu bewegen, sich anzuvertrauen, das Schweigen zu durchbrechen, bevor es sich in Gewalt verwandelt.

Ist es ein feministisches Buch? Man kann es als solches lesen. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass Alex, wäre sie ein Mann, dieser brutalen Gewalt ebenso ausgeliefert gewesen wäre. Es gibt immer Dinge im Leben, die auf einen herabstürzen, die man nicht abwehren kann – weder Mann noch Frau. Dabei verkenne ich natürlich nicht, dass Frauen den meisten Gewaltverbrechen zum Opfer fallen. Wir haben ja sogar einen eigenen Begriff dafür geprägt: Femizid.

Sie beschreiben Alex als „hate machine“ mit einem „heart of gold“. Woher rührt dieser Widerspruch?

Die „hate machine“ ist ein Schutzpanzer. Um nicht zu leiden, reagiert Alex mit reflexhafter Gewalt. Hinter dem Panzer aber verbirgt sich ein vollkommen verzweifelter Mensch. In dem Moment, in dem Alex diese unfassbare Gewalt angetan wird, ahnt sie, dass keine Rückkehr zu einem normalen Leben mehr möglich ist. Sie ist innerlich total zerstört. Wie lange gelingt es ihr, den Schein zu wahren, wo ihr Innerstes, ihr „heart of gold“ zutiefst versehrt ist? Gleich zu Beginn spürt man, dass man es mit einer immensen Verletzung zu tun hat, die vielleicht sogar in den Tod führen muss.

Paranoia und Psychosen in Zusammenhang mit Vergewaltigung werden kaum thematisiert in der Literatur. Passt das nicht zur klassischen Rächerinnen-Figur?

Ja, aber genau diese Paranoia und dieser Wahn treiben sie zur Gewalt. Alex ist eine zerbrechliche Rächerin, die auch nicht mit einer besonderen körperlichen Kraft ausgestattet ist. Sie ist verängstigt, fühlt sich verfolgt; gleichzeitig aber ist sie hasserfüllt, verspürt ein defensives, das heißt aus einer Verteidigungshaltung resultierendes Rachebedürfnis. Die Paranoia wird verstärkt durch die extreme Einsamkeit Alex‘ und ein Misstrauen, das sich auf ihr gesamtes Umfeld bezieht. Sie lebt in einer abgeschlossenen Welt, aus der sie nicht einmal Sprache befreien kann.

Bazon Brock, ein deutscher Philosoph, sagt: „Wer sich tätowiert, ist ein Faschist!“ Alex ist am ganzen Körper tätowiert. Welche Funktion haben Tattoos bei Ihnen?

Uh la la! (sie lacht erstaunt) Das ist sehr kategorisch. Was man seinem eigenen Körper auferlegt oder antut, obliegt jedem einzelnen. Das ist moralisch nicht zu verurteilen. Anders verhält es sich mit Tätowierungen, die dazu dienen, andere zu markieren und aus der Gesellschaft auszuschließen. Nun, zu Beginn ist Alex ja nicht tätowiert. Eines Tages wachte ich jedoch auf und dachte, irgendetwas müsse sie schützen. Also beschloss ich, ihr eine Art „ideale Bibliothek“ auf den Leib zu schreiben. Ich selbst bin überhaupt nicht tätowiert, aber in dieses Milieu eingetaucht. Dort habe ich Poesie gefunden, aber auch Schmerz. Bernd, der Tätowierer, verkörpert dieses Paradoxon: Er fügt Alex Schmerz zu, um ihr wohl zu tun. Einerseits verbergen die Tattoos den erlebten Horror, andererseits findet sich in dieser Camouflage aus Tinte auch eine gewisse Poesie und Ästhetik. Auf diese Weise, durch diese Verfremdung und Ästhetisierung, gelingt es Alex, den eigenen Körper wieder wahrzunehmen, ihn sich erneut anzueignen.

Trotz aller literarischen Finesse ist Ihr Schreiben auch „raw“. Liegt das an Ihrer Vorliebe für die nordische Mythologie?

Ich weiß nicht (lacht). Es ist ja meine erste Schreiberfahrung. Das kam einfach so. Es war auch in gewisser Weise ein gewaltsamer Ausbruch innerhalb von ein paar Wochen. Skandinavische Mythologie und Sprachen interessieren mich. Die Rohheit der Sprache reflektiert sicher die brutale Gewalt, die alles durchzieht. Die Ambivalenz der Figur, Verletzlichkeit und Gewalttätigkeit, zeigt sich auch in der Sprache. Auch die Ambivalenz der Gewalt zeigt sich sprachlich. Wir alle haben verschiedene Facetten, die sich sprachlich äußern. Alex übt Gewalt aus, aber wir verstehen diese Gewalt als Notwehr, als Verteidigungshaltung. Unsere Haltung zu Gewalt ist voller Widersprüche, daher auch Finesse und Rohheit.

Die meisten Krimis sind sehr plot-und dialogbetont. Ihre Story wird hingegen getrieben von Liebe, Ängsten und Rache. Entspringt das einem weiblichen Schreiben?

Uh … (lacht) Ich wollte mich jedenfalls nicht in ein bestimmtes Genre einschreiben. Ich hatte nicht vor, einen Krimi zu schreiben. Es ist ja auch nicht wirklich ein Krimi, zumal die Ermittler die Situation nicht ganz durchschauen. Ermittler musste ich aber auf den Plan rufen, sobald es Tote gab. Alles andere wäre unrealistisch gewesen. Ich selbst würde das Buch eher als „Roman noir“ bezeichnen. Es gibt eine Art Fatum, ein Schicksal, das Alex‘ Leben in eine andere Richtung führt. Diesem vergeblichen Lebenskampf kann sie nicht entrinnen. Und ja, einen Plot im klassischen Sinne gibt es nicht. Was „weibliches Schreiben“ betrifft: Daran glaube ich nicht. Historisch mag der Begriff eine bestimmte Funktion gehabt haben. Ich habe auch eine gewisse Vorstellung von diesem Begriff, bin aber nicht sicher, ob mir diese gefällt. (lacht) Assoziiert man damit Sensibilität, so ist diese vom Geschlecht unabhängig. Eine bipolare Welt, aufgeteilt in „männlich/weiblich“ hat mich immer abgeschreckt. In erster Linie aber möchte ich als Mensch wahrgenommen werden und nicht durch das Prisma eines Geschlechts. Genauso verhält es sich mit „weiblichem Schreiben“. Der Begriff ist mir zu beschränkt. Auch die Tatsache, dass man Frauen derzeit wieder nur als Opfer sieht, missfällt mir. Seit #metoo verschwimmen die Stimmen der wahren Opfer. Man hört sie nicht mehr in dieser allgemeinen Kakophonie. Es herrscht eine Mittelmäßigkeit im Diskurs vor, sodass es immer schwieriger wird, sich differenziert zum Thema zu äußern.

Ihr Buch ist zugleich poetisch und hat einen ganz speziellen Rhythmus. Ist das der Sound der Gewalt?

Es ist der Rhythmus der Welt. Ich habe immer schon laute, heftige Musik gehört, Rock und Punk. Das Tempo des Romans passt zu Alex‘ Flucht. Iggy Pops Song „Raw Power“ bringt diese letzten Zuckungen am stärksten zum Ausdruck: Rohheit gepaart mit Verletzlichkeit.