Leseprobe: Valentine Imhof – Aus lauter Zorn

 

Kapitel 1

 

viensmortamonsecoursviensomortsecoursjetenpriejetoyje
viensqueveuxtuomortjesuistoutenfeujattendsdetoiguerison

 

4. November 2006, Nancy, Hotel, Zimmer 107

 

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Nun sind beide nackt. Klamotten liegen im ganzen Zimmer verstreut. Ein blödes Trinkspiel. Man gesteht etwas, das man gemacht hat und auf das man nicht stolz ist. Wenn der andere einen ähnlichen »Fehltritt« begangen hat, leert er sein Glas, eine Art von Geständnis, wenn nicht, trinkt der Erste und spielt die Partie weiter, indem er ein neues schändliches kleines Geheimnis preisgibt. Alex hat die ganze Zeit geschummelt.
Es kommt nicht in Frage, irgendetwas Wahres mit diesem Typen zu teilen. Deswegen sind sie nicht hier, weder sie noch er. Sie hat ihm nicht einmal ihren Vornamen gesagt. Er hat sie übrigens auch nicht danach gefragt. Er kennt ihn bereits, das ist gewiss. Den Vornamen und all die Infos, die der andere Bastard ihm bestimmt gegeben hat.
Wie vereinbart holte er sie vor dem kleinen Bahnhof des Kaffs ab, dessen Namen sie ihm neulich Abend bei dem Konzert genannt hatte. Sie fuhren ein Stück mit seinem Mietwagen, der nach einem Autodeo roch, das zum Kotzen war. Um den Schein zu wahren, befragte sie ihn zu dem Artikel über Trent Reznor, den sie angeblich schreiben wollte.
Die Antworten des Typen waren ausweichend und zögerlich, doch sie spielte weiter das Groupie, das von den Pseudoerinnerungen fasziniert war, die er ihr auftischte, und machte sich daran, eifrig unlesbare Notizen in ihr Heft zu kritzeln. Dann schlug er vor, bei einem Café auf dem Land anzuhalten, um etwas zu trinken. Weil er sich freue, in Frankreich zu sein, das sich so sehr von den Vereinigten Staaten unterscheiden würde … Ja, sie weiß. Also gut.
Das Café des Amis. Ein gelber Plastiktresen, ein großer L’Héritier-Guyot-Frosch, der in der Mitte lächelt, drei rote Plastiktische, zwei Opas mit Hüten, die vor einem Blanc Limé stehen, eine Oma hinter der Theke.
Das ewige Frankreich, das der »Route nationale 7«. Alex wäre nicht erstaunt gewesen zu sehen, wie Charles Trenet aus einem Frégate oder einem DS steigt und hereinplatzt, um sein Lied vom verlorenen Glück anzustimmen. Die zwei Wochen bezahlten Urlaubs, die vergnüglichen Staus, in denen Spiele erfunden wurden, um die Kinder abzulenken, Paris zwei Tage Fahrt vom Mittelmeer entfernt … Ein Traum in Technicolor, den die drei Alten, die sie hereinkommen sahen, sicherlich erlebt hatten … Zwei Halbe und ein Schälchen Erdnüsse aus einem ebenfalls zeitlosen Automaten. Alex nahm die Atmosphäre des Raumes in sich auf. Die Sammlung von Sporttrophäen und Wimpeln, das Dutzend Postkarten, die hinter der Dame angebracht waren, darunter eine von der Basilika von Lourdes, auf der in Rosa auf marineblauem Hintergrund »LOURDES – Die 18 Erscheinungen« blinkte, eine Flasche Cynar mit einer knallgrünen Artischocke auf dem roten Etikett und der unentbehrliche Fernet Branca, das unfehlbare Heilmittel für die Folgen von Saufgelagen.
Als ihre Knie unter dem Tisch zusammenstießen, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Gesprächspartner. Sicher hatten sie sich nicht zufällig berührt, und diese Unzweideutigkeit wurde verstärkt, als er seine Beine zwischen ihre zwängte.
Sie tat nichts, um sich zu befreien. Im Gegenteil. Sie antwortete mit einem streichelnden Blick, der ebenfalls unzweideutig war. Die Partie hatte gerade erst begonnen.
Da er spürte, dass sie auf derselben Wellenlänge waren, good vibes, und sich leidenschaftlich für Musik interessierten, schlug der Kerl vor, ein Hotel zu suchen und sich dort in Ruhe zu unterhalten, ein Gläschen zu trinken und etwas Gras zu rauchen. Just chill out, und vielleicht mehr …
Mit eindeutigen Signalen gab sie ihm zu verstehen, dass sie von Anfang an nichts anderes erwartet hatte … Sie hatte ihn an der Angel.
So machten sie sich auf den Weg. Er hielt bei einem Dorfladen, aus dem er mit Gin, Wodka und Whisky wieder herauskam. Das ganze Programm … Und offensichtlich nichts zum Verdünnen. Das würde voll reinhauen, aber sie war gut im Training. Dann fuhren sie weiter, ohne wirklich zu reden, während das Autoradio sämtliche Stücke von Robert Johnson herunterspielte.
Schließlich hielt er auf dem Parkplatz eines Hotels, das zu einer Kette gehörte, deren Häuser Tag und Nacht geöffnet haben, bei denen man keine Fragen stellt und Rang und Name keine Rolle spielen. Ideal für die erschöpfte Touristenfamilie, den Lkw-Fahrer auf der Durchreise, den Vertreter samt Musterkoffer, das unverheiratete Paar und einen schnellen Nachmittagsfick, Huren mit ihren Freiern … All das zu einem vernünftigen Preis, sauber und ohne dass einem einer am Eingang auf den Wecker ging. Einfach gut.
Alex fragte sich undeutlich, zu welcher Kategorie von Hotelgästen sie wohl gehörten, aber im Grunde war ihr das völlig egal. Bevor sie ausstieg, hatte sie ihre Kapuze übergezogen. Nach der wohligen Wärme im Wagen schlug ihr die Kälte wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Doch sie wollte vor allem die Überwachungskameras vermeiden.
Das Zimmer erschien ihr eher klein, minimalistisch und anonym wie der Rest. Es gab nicht einmal die üblichen hässlichen Kunstdrucke, Blumensträuße, toskanische Landschaften oder venezianische Kanäle, sicherlich mit dem Mund und am Fließband von Behinderten in der Dritten Welt gemalt und in allen Motels und Altersheimen auf der ganzen Welt verbreitet. Wände beige, Decke beige, Tagesdecke beige. Neutral.
Das Bad sah aus wie eine nachgemachte Münztoilette, sie hatte sogar gedacht, dass es selbstreinigend sein könnte. Das Ganze wirkte auf sie wie eine Schiffskabine, eng, offensichtlich haargenau berechnet und höchst funktional. Sie war bereit, in See zu stechen, vielleicht für immer. Der Typ erwies sich schnell als infantil und zeigte eine Vorliebe für Spiele. Jeder Art. Und so hatte er das Pseudowahrheitsspiel vorgeschlagen, das es ihnen ermöglichen sollte, das eine oder andere Glas zu trinken und sich besser kennenzulernen.
Sie erfindet die unglaublichsten Geschichten, und so wie er sich zuschüttet, vermutet sie, dass auch er schummelt. Das passt zu ihm. Das ist eine Strategie. Um die Sache in Fahrt zu bringen, beginnen sie, unterstützt von den Joints und der Hitze, sich zu entblättern. Für jedes Lügenmärchen ein Kleidungsstück weniger. Und bei der Geschwindigkeit, in der sie lügen, geht das ziemlich schnell … Als sie ihr T-Shirt auszieht, trifft ihn fast der Schlag. Und die Überraschung lässt ihn noch idiotischer aussehen. Das hat er anscheinend nicht erwartet.
Eine junge Frau mit komplett tätowiertem Körper, wie in schwarze Tinte gekleidet, alles geschrieben. Da er kaum glauben kann, was er sieht, steht er auf, um sie zu berühren. Über sie gebeugt, versucht er, den Text aus der Nähe zu entziffern wie ein Kurzsichtiger, doch die kleinen und eng zusammenstehenden Buchstaben entziehen sich der Lektüre. No Access. Daher setzt er sich wieder hin und erinnert sich in einem bunten Durcheinander an einen Dokumentarfilm über die Yakuza und daran, wie sehr er gelitten hatte, als er sich bei einem Spring Break in Cancun eine Eidechse aufs Schulterblatt tätowieren ließ, und auch ziemlich vage an einen japanischen Erotikfilm, bei dem er gewichst hatte, als er noch ein Teenager war. Und er ist stark erregt. Diese Schnalle ist bestimmt saugeil, sie macht sicher eine Reihe von verrückten Sachen im Bett. Um das rauszukriegen, muss er die Partie beschleunigen.
So finden sie sich nach schamlosen Lügen schnell auf den Laken wieder, mitten im Vorspiel. Drängende Zungen, erkundende Küsse, lüsterne Liebkosungen, gierige Umarmungen. Alles scheint gut zu laufen, als der Typ abrupt innehält, plötzlich unruhig … »Wo ist meine Krawatte?«
Alex erstarrt auch sofort, ernüchtert. Doch er kümmert sich nicht um sie, springt aus dem Bett, rennt im Zimmer hin und her, fiebrig, die Augen auf den Boden gerichtet, wie ein Bluthund.
Auf einmal ist ihr klar, was er mit ihr vorhat. Er will sie erwürgen. Sie richtet sich auf und sitzt auf dem Bett, bereit, ihn zu empfangen. Ihr Herz pumpt schwarzes, mit Adrenalin angereichertes Blut. Sie atmet tief durch, ruhig, beherrscht, will ihm allen Widerstand entgegensetzen, zu dem sie in der Lage ist, und ihre letzten Kräfte für diesen ultimativen Kampf mobilisieren. Das lässt sie nicht mit sich machen, das nicht!
Er findet schließlich, was er sucht, kehrt zum Queensize-Bett zurück und schickt sich an, vor ihr stehend und mit einem triumphierenden Lächeln, nach allen Regeln der Kunst die Krawatte um den eigenen Hals zu binden.
Dieser Typ mit seinem herabbaumelnden Pimmel und seiner gestreiften Krawatte bietet aus der Froschperspektive alles andere als einen prächtigen Anblick. Doch sie betrachtet ihn, ohne sich etwas anmerken zu lassen, mit einem lüsternen Ausdruck, den er als Ermutigung versteht, da er sogleich wieder einen Ständer bekommt. Sie verliert ein wenig von der Spannung, die sie zusammenpresst, und stellt für einen Augenblick ihr Erwürgeszenario zurück. Das Programm geht anscheinend weiter. »Vertrau mir, du wirst es mögen!«
Sie ist eher skeptisch, will aber sehen, was kommt. Als er sich auf ihr ausstreckt, berühren die beiden Enden seiner Krawatte sanft ihre Brust. Wie zwei lange, nach der Paarung erschöpfte Mollusken.
»Greif zu! Nimm die Enden und zieh sie fest. Das wird eine Wahnsinnserektion auslösen, wie du sie noch nie gesehen hast. Das wird dir gefallen, ich werde dich so richtig rannehmen! Ich bin sicher, dass du noch nie so gefickt worden bist!«
Alex wäre es lieber, wenn er die Klappe halten würde. Was das Ficken betraf, so war sie schon auf ihre Kosten gekommen, und nicht nur ein wenig. Und der Versager, der auf ihr liegt, ist wirklich nicht besonders ausgestattet, das ist gewiss …
Ein roter Schleier zieht an ihren Augen vorbei. Sie würde ihm am liebsten die Faust in die Fresse rammen und ihm die Eier mit den Zähnen abreißen. Um ihm eine Vorstellung von dem zu geben, was sie ihr in der Hütte angetan haben, und auch von dem, was sie dort getan hat. Ihr Blick vernebelt sich, ihr Herz rast und pumpt schweres Blut der Wut durch den Körper. Sie beißt die Zähne zusammen und atmet langsam durch die Nase, um sich zu beruhigen, um sich zurückzuhalten. Nicht jetzt. Nicht sofort. Sie muss sich noch ein bisschen kontrollieren.
Es gelingt ihr, die Bestie zum Schweigen zu bringen und sie wieder ganz unten in ihren Käfig einzuschließen. Dann spielt sie ihre Rolle weiter. Die einer leicht verrückten und beschränkten jungen Frau, zu allem bereit für einen Scoop, selbst dazu, backstage einer ganzen Clique einen zu blasen, um ein einziges Autogramm zu kriegen.
Sie führt seine Anweisungen buchstäblich aus, wickelt die beiden Enden aus Moiréstoff um ihre Fäuste, um einen festen Griff zu haben, und beginnt zu ziehen.
Aus Neugier. Um an einer Art Experiment teilzunehmen. Ein wenig so wie die Assistentin eines Zauberers, die wie eine Idiotin weiterlächelt und fröhlich mit der Hand winkt, während er sie bei lebendigem Leib zersäbelt. Und damit dieser Arsch aufhört, große Reden zu schwingen, und endlich zur Sache kommt. Er wird offensichtlich immer hitziger.
»Komm schon, los! Sei nicht schüchtern! Hab keine Angst! Ich werd dich zum Schreien bringen, du Schlampe, und du wirst nach mehr verlangen!«
Nein, bestimmt nicht, sie hat keine Angst. Schon gar nicht vor diesem armseligen Typen, der sie als Schlampe beschimpft, um seine Männlichkeit auf Touren zu bringen. Und nein, keine Chance, dass sie ihn bittet, es noch einmal zu machen. Daher beschränkt sie sich darauf, die Ratschläge zu befolgen, und zieht noch stärker. Er schließt die Augen, völlig mit seinen Empfindungen beschäftigt. Sie betrachtet sein Gesicht, das langsam rot anschwillt. Er beginnt übermäßig zu schwitzen und flüstert ihr wie ein Asthmatiker weiter seine ekelhaften feuchten und heißen Anfeuerungen ins Ohr, während er sich faul an ihrem Bauch reibt. Sie spürt, wie sein Schwanz härter wird. Sein Stöhnen verwandelt sich in schmerzhaftes Keuchen und dann in ein Röcheln.