Leseprobe: Jon Bassoff – Factory Town

 

  1. Kapitel
© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Die Stadt lag im Dunkeln. Ich lehnte den Kopf gegen das Fenster, und der schmutzige Regen rann über meine Stirn. In der spiegelnden Scheibe sah ich aus wie ein Gespenst, hager und fahl, meine Augen glichen denen meines Vaters. Ich konnte nur flüstern: Gott, bitte vergib mir. Ich habe viel zu bereuen …

Factory Town. Es schien, als hätte man begonnen, die ganze Stadt, Haus für Haus und Mauer für Mauer, abzureißen, dann aber beschlossen, dass es die Mühe nicht wert war und man sie einfach verrotten lassen sollte. Überall bröckelnder Beton, kaputte Zäune, zerbrochene Scheiben, zerschlagene Möbel. Verfallende Backsteingebäude, mit Graffiti beschmiert und die Fenster mit Brettern vernagelt. Die Uhr einer Bank ohne Zeiger. Umgekippte Mülltonnen. Auf den Boden gestürzte Feuerleitern. Überall Schutt. Eine geplünderte, verwahrloste Kirche. Und von irgendwoher das Hallen einer Lachkonserve. Ich hatte einmal gehört, dass die meisten Lachkonserven vor vierzig, fünfzig Jahren produziert worden waren, also musste es das Lachen von Toten sein.

Ein lautes Krachen erschreckte mich. Ich fuhr herum und sah eine ausgemergelte Frauengestalt aus einem Hauseingang treten. Sie trug ein zerrissenes Männerhemd, einen zerschlissenen Jeansrock und pinke Cowboystiefel. Ihre gebleichten Haare waren kurz geschnitten und struppig, und zwischen ihren lila Lippen hing eine krumme Zigarette. Ihr Gang war leicht hinkend. Sie war irgendwas zwischen zwanzig und fünfzig, aber Gesicht und Gestalt hatten auf alle Fälle schon bessere Tage gesehen. Als sie mich bemerkte, verzog sie verächtlich das Gesicht und sagte: Ich kenn dich. Du bist der Typ, von dem alle reden.

Ich schüttelte den Kopf. Da täuscht du dich, sagte ich. Ich bin grad erst in die Stadt gekommen.

Nee, ich täusch mich nicht. Du bist es. Und, hast du auch ’nen Namen?

Russell Carver. Aber du musst mich mit jemand verwechseln.

Tja, kann sein. Vielleicht. Aber egal. Davon abgesehen bist du ja ganz niedlich. Wie wär’s denn mit uns zwei?

Weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte, sagte ich nichts. Sie grinste abschätzig, räusperte sich und spuckte auf den Boden. Dann ging sie weiter. Einsam und verwirrt, wie ich war, folgte ich ihr.

Wir gingen durch schlaglochübersäte Straßen, vorbei an schmutzstarrenden Bettdecken, einer zertrümmerten Badewanne, einer rostigen Schaufel. Sahen einen einzelnen Armeestiefel und eine Weihnachtslichterkette. Sie schmiegte sich an mich, legte den Kopf auf meine Schulter und hakte sich unter. Ein Mann stand mitten im Regen gegen ein Gebäude gelehnt, die grauen Haare mit Pomade zur Tolle gekämmt, und schrie: Lass bloß die Finger von der, die bricht dir das Herz, darauf kannst du Gift nehmen! Die Hure schüttelte den Kopf und sagte nur Psst. So gingen wir weiter durch den strömenden Regen, zwischen verfallenden Häusern, und mein Hirn blutete.

Kurz danach betraten wir ein Gerippe von Haus, in dem ich ihr durch ein Labyrinth eigenartiger Korridore in einen abgedunkelten Raum folgte. Dort war es kälter als draußen. Sie zog mich an sich und lachte. Es war ein schreckliches Lachen. Sie roch nach billigem Parfüm und billigem Schnaps. Ich war abgestoßen und angeekelt, nervös und besorgt. Der Raum war karg und verdreckt, von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die Matratze war fleckig von Blut und Bourbon, die Mauern mit Asbest geflickt. Auf einem Nachtkästchen stand ein übel verbeulter Wecker, dessen Ziffern abblätterten. Die Zeiger verharrten für immer auf drei vor zwölf …

Bei einem Blick aus dem Fenster sah ich mehrere merkwürdige Männer in ausgebeulten Parkas, die gleichmäßig und methodisch den Grundstücksrand abschritten. Ich zog den Vorhang zu und lehnte mich gegen die Wand. Meine Schläfe pochte.

Unterdessen verlor die Hure keine Zeit. Sie zog das Hemd aus und entblößte große, entstellte Brüste, die sie zu reiben begann, ohne dass es im Geringsten sinnlich wirkte. Sie fragte, wie ich es wolle, und ratterte mit erschreckender Gleichgültigkeit eine Litanei von Stellungen herunter. Ich behielt meine Kleidung an und sagte, dass ich sie ordentlich bezahlen würde, aber nur jemanden zum Reden brauchte, vielleicht auch zum Umarmen, bis ich ein wenig Schlaf fand. Darauf verzog sie das Gesicht, willigte aber ein, Geld ist Geld, und während sie Zigaretten bis zum Filter runterrauchte und aus einer grünen Militärthermos-kanne Pfefferminzlikör schlürfte, machte ich ernst: Ich erzählte von Alana und setzte ihr in aller Ausführlichkeit die mysteriösen Umstände ihres Verschwindens auseinander – die sechsjährige Suche in Städten und Bergen und Wüsten. Kein Detail ließ ich aus, aber der Blick aus den beiden blutunterlaufenen Augen der Hure blieb leer. Es war offensichtlich, dass meine Geschichte sie langweilte. Sie rutschte die Wand runter auf den Boden, ließ den Kopf hin und her baumeln und schien so wenig zu begreifen, als würde ich in einer fremden Sprache auf sie einreden, obwohl ich klar und deutlich sprach, trotz meiner schon einen Monat oder länger anhaltenden Schlaflosigkeit …

Um ihr Interesse zu wecken, zog ich ein Foto heraus und zeigte es ihr. Ein computer-generiertes Bild von Alana, wie sie heute aussehen könnte: ein junges Mädchen mit einem Schopf dunkelblonder Haare, rosa Mund und todernsten blauen Augen. Erst da hielt die Hure den Kopf still, sah mich mit ihren blutunterlaufenen, vom Trinken und Huren zerstörten Augen an und fragte hämisch, ob ich Detektiv oder so was sei. Nein, antwortete ich, ich sei nur ein ganz normaler Mensch, der sich um die Kleinsten und Schwächsten unter uns sorge, und dieses Mädchen, Alana, sei auf alle Fälle klein und schwach.

Ich hab meine Quellen, sagte ich, verlässliche Quellen, und sie sagen, dass sie hier in Factory Town ist. Aber sie schwebt in großer Gefahr und hat nicht mehr lange zu leben. Die Hure betrachtete das Foto eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. Nee. Noch nie gesehen. Aber ich bemerkte, dass ihr Mundwinkel zuckte, der Tick einer Lügnerin.

Sie drückte eine weitere Zigarette aus und sah mir direkt in die Augen. Ohne Zwinkern. Sie war verkommen, hasserfüllt, das war mir inzwischen klar geworden, und sie wusste mehr, als sie mir verraten wollte …

Im Zimmer nebenan schrie sich ein Paar auf Chinesisch oder Japanisch an, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich schlugen. Auf einmal fühlte ich mich müde, todmüde. Diese Nachforschungen, die Schlaflosigkeit, alles wurde mir zu viel …

Wie lang bist du schon hier?, fragte sie. In Factory Town, mein ich.

Schwer zu sagen. Aber nicht lang. Einen Tag vielleicht oder eine Woche.

Sie lachte rau. Hab ich mir schon gedacht. Sonst würdest du’s längst wissen.

Was wissen?

Wissen, dass du auch nicht anders bist als wir alle hier. Dass du hier überhaupt nichts findest. Dass du das Mädchen nicht findest.

Ich biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Woher willst du das wissen? Hast du sie gesehen? Was weißt du?

Ist doch egal, was ich weiß. Alles ist völlig egal.

Was zum Teufel soll das denn heißen?

Sie grinste, zeigte ihre verfaulenden braunen Zähne.

Das soll heißen, dass ich die Geschichte schon millionenfach gehört habe. Es ist immer dasselbe. Immer haargenau derselbe Scheiß.

Ich spürte die altbekannte Wut in mir aufsteigen, aber ich hielt mich zurück. Sie ist hier, sagte ich. In dieser Stadt. Meine Quellen –

Scheiß auf deine Quellen!

Das Gebrüll nebenan wurde immer lauter, und gleich darauf zerschellten Flaschen, eine nach der anderen.

Du dummer kleiner Knilch, sagte sie, und Schnaps und Speichel troffen aus ihrem dreckigen Maul. Weißt du denn nicht, wo du bist? Das hier ist eine Stadt der Sünde, der Trauer, des Hasses. Jeder hier trägt irgendeine Schuld, jeder Einzelne von uns. Jeder hier fürchtet sich zu reden. Kapierst du das, Mr. Carver? Millionen von dreckigen Geheimnissen sind hier unter dem Müll und Schutt vergraben. Du willst darin rumwühlen? Na, dann viel Spaß beim Schippen. In den Leichen findest du sicher noch ein paar Herzen, die schlagen …

Draußen prasselte der Regen auf den Asphalt, es blitzte, donnerte aber nicht. Ich hatte genug von ihr. Ich erhob mich und wollte aus dem Zimmer stürmen, aber plötzlich drehte sich der ganze Raum, und die einzelne Glühbirne fiel auf den Boden und platzte. Die Hure stand lachend vor mir. Mit einem energischen Ruck riss sie sich den Rock vom Leib und wackelte mit den Hüften, dann steckte sie sich die Finger in die Möse, einen nach dem anderen, ganz langsam und systematisch. Sie widerte mich an, aber ich sah zu, wie ihre ganze Hand darin verschwand, und dann begann sie mit der anderen Hand …

Ihre zerfressenen Lippen formten sich zu einem Schmollmund, und sie sagte: Und was jetzt, Mr. Carver? Wen wirst du jetzt lieben?

Plötzlich stand alles wieder still, und ich drängte mich an der Hure vorbei, um die Tür mit der Schulter aufzudrücken. Das Foto war noch in meiner Hand, nur inzwischen stark zerknittert. Als ich durch den Korridor taumelte, hörte ich das Lachen der Hure hinter mir über das Linoleum hallen …

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