Teil 1

Samstagmorgen

1

Richard Weatherford

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Kurz vor Tagesanbruch vibriert das Handy auf meinem Nachttisch. Zuerst befürchte ich, dass einem Mitglied meiner Gemeinde etwas zugestoßen sei. Mehr als nur einmal bin ich von schlechten Nachrichten geweckt worden, wie einem Autounfall draußen auf dem Highway oder einer durch einen Wohnungsbrand obdachlos gewordenen Familie oder jemand, der von einer Krebsdiagnose erschüttert worden war. Ich brauche immer nur einen Moment, mir den Schlaf aus den Augen zu reiben und mich für jede dieser Krisen zu stählen, doch als ich den blau leuchtenden Bildschirm ans Gesicht hebe und Garys Nummer sehe, fluche ich beinahe. Ich schlüpfe mit dem zuckenden Telefon in der Hand unter den Laken heraus und schaffe es hinüber ins Bad, ohne meine Frau zu wecken. »Kannst du reden?«, fragt er. Meine nackten Füße tappen über den kalten Boden, als ich vorbei an den Zimmern, in denen meine Kinder schlafen, den Flur hinunterhaste. Auf der Treppe nehme ich zwei Stufen auf einmal. Sicher unten angekommen, gehe ich in die Küche und flüstere: »Es ist vier Uhr morgens!« »Fünf«, korrigiert er. »Eher fünf.« Ich werfe einen Blick auf die Digitalanzeige der Mikrowelle. 4:56. Ich möchte ihn anbrüllen, was aber nicht geht, also wird es eher so etwas wie ein ersticktes, wütendes Krächzen. »Ich liege mit meiner Frau im Bett.« »Redest du aus dem Bett mit mir?« »Nein. Ich bin aufgestanden und runtergegangen, als mein Handy anfing zu vibrieren.« Obwohl ich versuche, leise zu sprechen, hallt meine Stimme durch die großen, leeren Räume meines Hauses. Mir gefiel schon immer, dass unsere riesige Küche in das Esszimmer übergeht, das wiederum ins Wohnzimmer führt, welches sich fast über die gesamte Vorderseite des Hauses erstreckt. Jetzt jedoch scheint all dieser Raum mein Flüstern zu einer Stadiondurchsage zu verstärken. Ich eile den Flur hinunter zur Tür in den Keller. Er sagt: »Du solltest dich doch gestern mit mir treffen.« Ich schließe leise die Tür hinter mir. »Und du meinst, es wäre wirklich klug, mich in aller Herrgottsfrühe zu Hause anzurufen?« »Hat Penny das Telefon klingeln gehört?« »Nimm ihren Namen nicht in den Mund.« Ich stampfe die Holzstufen der Kellertreppe hinunter und gehe auf dem Betonboden zwischen der Hantelbank der Jungs und verstaubten Kartons voller altem Krempelkram, die an der Wand aufgestapelt sind, auf und ab. »Kapiert?«, sage ich. »Du nimmst ihren Namen nicht in den Mund.«

»Gereizt, ja?«, sagt er. »Was, wenn ich jetzt einfach auflege? Was dann?« Ich lehne mich an einen Karton mit der Aufschrift Weihnachtsschmuck in Pennys mustergültiger Handschrift. Ich sage: »Nein. Mach das bitte nicht.« »Wir müssen reden«, sagt er. »Heute noch.« Ich hole tief Luft und denke: Das geschieht mir recht. Das geschieht einem Narren recht. »Ich werde mich heute kaum freimachen können. Es ist die Jahreszeit, in der ich am meisten um die Ohren habe. Ich muss mich um Dinge kümmern. Eine ganze Menge Dinge. Ich kann nicht einfach so die Stadt verlassen.« »Dann treffen wir uns eben in der Stadt.« »Gary, nein.« »Wir werden nur reden. Und es muss auch keine lange Unterhaltung werden. Aber es muss heute sein. Das ist mein Ernst. Und da lasse ich auch nicht mit mir verhandeln.« Ich atme tief durch. »Wo sollen wir uns treffen?« »In deinem Büro.« »Wir treffen uns auf keinen Fall in der Kirche. Sei nicht albern.« »Pass auf, was du sagst, Richard.« »Ich wollte nicht … Hör, es tut mir leid. Ich sage doch nur, denk mal drüber nach. Es ist der mit Abstand schlechteste Ort für ein Treffen. Den ganzen Tag über werden dort Leute kommen und gehen.« »An einem Samstag?« »Morgen ist Ostern. Wir sind mit den letzten Vorbereitungen für das Passionsspiel beschäftigt. Musiker, Darsteller, die Leute für Ton und Licht. Die Damen des Frauenkreises werden ein und aus gehen, helfen, letzte Hand anzulegen.« »Na schön. Dann eben hinter der Schule.« »Du meinst die Senke dort?« »Ja.« »Aber wenn uns dort jemand zusammen sieht, wird das doch nur die Aufmerksamkeit auf uns lenken. Du weißt, was ich meine?« »Hey, es ist deine Entscheidung. Wir können uns in aller Öffentlichkeit treffen und versuchen, nicht groß aufzufallen, oder wir treffen uns heimlich und versuchen, nicht erwischt zu werden. Du entscheidest.« Ich reibe mein Gesicht. »Also hinter der Schule.« »Wann kannst du kommen?« »Je früher, desto besser. In einer Stunde, wie wär’s damit?« »Ja.« »Okay.« »Richard?« »Was?« »Wenn du heute nicht aufkreuzt, werden wir zur nächsten Phase übergehen, die mit den Konsequenzen.«

Ich stehe da in meiner Schlafanzughose, einem alten T-Shirt, unter meinen Füßen der kalte Betonboden des Kellers, und ich habe unfassbare Angst angesichts der Gefahr, die dieser Junge für mich darstellt, aber dennoch klinge ich ungehalten, als ich antworte: »Ich werde da sein.«

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