Leseprobe: Steph Post – Lightwood

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Als Judah das Gefängnis verließ und sich auf den Weg nach Silas machte, hatte er nicht mehr als zwanzig Dollar in der Tasche. Doch sobald Erwin und Pellman klar wurde, wer Judah war, verkündeten sie, ihn einzuladen. Judah stellte seinen zweiten Shot Whiskey ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die beiden Cousins und Judah waren damals, als Judah noch in der Stadt lebte, keine engen Freunde oder so gewesen, doch je mehr er trank, desto mehr genoss er ihre Gesellschaft.

»Scheiße, Mann. Kann echt nicht glauben, dass du von Starke hierher zu Fuß gelaufen bist. Das sind doch locker dreißig Kilometer oder so?«

Judah zog seine letzte Zigarette aus der Packung und tippte sie auf die Bar. »So ungefähr. Davon bin ich aber wahrscheinlich nur zehn oder so gelaufen. Dann hat mich diese verrückte Lady in dem Minivan mitgenommen, von der ich euch erzählt habe.«

»Oh ja, die, die dich am Walmart in Kentsville rausgelassen hat, dir dann gefolgt ist und versucht hat, dir ein paar Klamotten zu kaufen?«Judah fuhr sich mit der Hand durchs Haar und hustete. Die Frau in dem beigefarbenen Taunus, die wieder und wieder insistierte, dass Judah sie Trish nannte, war sehr nett gewesen, und Judah mochte sich nicht über sie lustig machen, doch als sie Judah durch den Laden gefolgt war und ihn dann an der Kasse mit dem Angebot überrascht hatte, ihm das Paar Wrangler und das karierte Hemd zu kaufen, war ihm das auf den Keks gegangen.

»Jo.«

Pellman schüttelte den Kopf.

»Mann, ich sollte auch mal für ’ne Weile in den Knast. Vielleicht bietet mir dann auch eine Braut an, mir neue Klamotten zu kaufen, wenn ich rauskomm.

«Judah zündete sich die Zigarette an. »Ist nicht so großartig, wie’s sich anhört.« Es war Freitag und im Verlauf des Abends füllte sich das Ace. Judah erkannte langsam immer mehr Stammkunden wieder, als sie mit Schwung durch die Kneipentür kamen. Die schwere Metalltür schlug hinter jeder Person wieder zu und bei jedem Schlag schaute Judah automatisch hoch in den Spiegel hinter der Bar. Er begegnete den Blicken von Leuten, die er kannte, doch niemand schien ihn zu bemerken. Judah wandte sich an Pellman.

»Findest du, ich sehe anders aus?«Pellman erzählte gerade ausschweifend von der letzten Lady, für die er einen Haufen Geld ausgegeben hatte, und die sich damit bedankte, dass sie mit Erwins Daddy schlief, als Judah ihn unterbrach.

»Hä?«

»Findest du, ich sehe anders aus? Als beim letzten Mal, wo du mich gesehen hast?«

Der Alkohol stieg Judah zu Kopf. Nüchtern hätte er eine solche Frage nie gestellt. Doch er begann, sich irgendwie beklommen zu fühlen, fehl am Platz. Er war nach Silas zurückgekehrt, weil er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte. Ihm war klar, dass er nicht mehr weiterwusste, obwohl er das nie zugeben würde, und er wusste, dass Silas nicht die Schwalbe war, die ihn zum Ufer leiten würde. Wenn überhaupt, würde die Stadt ihn ertränken, ihre Tentakel um sein Herz schlingen und ihn in den Abgrund ziehen. Judah hätte alles dafür gegeben, wenn die Anonymität, die ihn gerade schützte, für immer währen würde. Pellman legte den Kopf auf die Seite und dachte kurz über Judah nach.

»Zum Teufel, Mann. Ich weiß nicht. Als du ganz am Anfang reingekommen bist und dich hingesetzt hast, hab ich dich nicht erkannt. Aber ich denk, du siehst nicht anders aus oder so. Man ist nur so an dieselben Leute gewöhnt, die hier immer sind, da denkt man nicht über Leute nach, die weggehen und wiederkommen. Also, ich weiß nicht.

«Judah starrte in den milchigen Barspiegel. Im verzerrten Spiegelbild hätte er der Sohn von jedem in Silas sein können. Aber das war nur Wunschdenken.

»Ich weiß auch nicht.«Judah stand auf und bahnte sich seinen Weg durch verschwitzte Leute und eine Wolke von abgestandenem Qualm zur Toilette hinter der Bar. Es war abgeschlossen, und hinter der Sperrholztür konnte er Gekicher hören. Er entschied, nicht zu warten, verließ das Ace und trat hinaus in die warme Nacht. Als Judah um die Ecke kam, warf ihm ein Mann in seinem Alter, der an der Wand des Betonziegelgebäudes lehnte, einen bösen Blick zu. Das stämmige Teenager-Mädchen, das barfuß war und nur ein heißes, bauchfreies pinkfarbenes T-Shirt trug, verdrehte die Augen und zog das Gesicht des Mannes zurück an sein eigenes. Judah wich dem Blick des Typen aus und ging an ihnen vorbei zum Schotterparkplatz hinter der Bar. Er suchte sich seinen Weg über Steinbrocken und abgestorbene Grasbüschel, bis er den letzten Pick-up am Ende der verbeulten Reihe erreicht hatte, wo er den Reißverschluss seines Hosenstalls öffnete. Irgendwie hoffte er, dass er gegen das Vorderrad des Pick-ups pinkelte, der dem Mann gehörte, der es mit der Minderjährigen trieb, aber vermutlich gehörte der weiße Dodge eher einem Jugendtrainer oder einem Kriegsveteranen. Bestimmt hatte er genau diese Art von Glück. Aber das hielt Judah nicht ab. Er erleichterte sich im schwachen blau-weißen Licht einer Insektenlampe, die am Ast einer Eiche hing, und musterte sein Spiegelbild im Fahrerfenster.

Judah hatte im Gefängnis nicht viel Zeit damit verbracht, in den Spiegel zu gucken. Und vorher auch nicht. Er kam aus einer langen Reihe von Männern, die auf den Dreck unter ihren Fingernägeln genauso stolz waren wie andere Männer auf ihre Armbanduhr. Männer, die ihr Unterhemd erst dann wechselten, wenn es Matsch- oder Blutflecken hatte, oder Schlimmeres, und nicht einfach nur, weil ein neuer Tag war. Männer, die nur in den Spiegel schauten, wenn sie sich rasierten, und die sich nur rasierten, wenn sie jemandem an die Wäsche wollten. Eitelkeiten spielten keine Rolle.

Doch für einen kurzen Augenblick betrachtete sich Judah im wässrigen Glanz des fingerverschmierten Fensters eingehender. Er brauchte einen Haarschnitt, doch er hatte immer noch dasselbe dunkle, fast schwarze Haar, das widerspenstig in alle Richtungen abstand, wenn er es nicht mit einer Kappe bändigen konnte. Sein Bruder Levi, der noch keine vierzig war, hatte an der rechten Seite inzwischen eine graue Strähne, doch als Judah seinen Kopf drehte, fiel ihm dort nichts auf. In der Dunkelheit war es schwer zu sagen, doch er nahm an, dass seine Augen immer noch hellgrau waren, umgeben von drei Reihen Fältchen, weil er, seit er krabbeln konnte, fast jeden Tag draußen verbracht hatte. Cassie hatte ihm oft gesagt, dass er mit blauen Augen so viel besser aussehen würde, doch das war ihr Ding. Jedes Mal, wenn sie wieder Schluss gemacht hatten, krallte sie sich jemanden mit blondem Haar, blauen Augen und einer Goldkette. Sie hatte immer versucht, ihm Schmuck zu kaufen und wurde wütend, wenn er ihn nicht trug. Er fragte sich, was für eine Halskette der neue Denny’s-Freund wohl hatte.

Judah schüttelte ab und zog den Reißverschluss hoch. Soweit er sagen konnte, sah er genauso aus wie das letzte Mal, als er in Silas gewesen war, also war er nicht sicher, warum ihn niemand wiedererkannte. Vielleicht hatte Pellman recht; die Leute waren es gewöhnt, immer dieselben Gesichter zu sehen, Männer in den gleichen Arbeitshemden, die die gleichen Pick-ups fuhren, das gleiche Bier tranken, die gleichen Frauen anbaggerten oder verprügelten, in denselben Bars, wo vor ihnen schon ihre Väter und deren Väter genau das Gleiche getan hatten. Judah ging um das Gebäude herum zurück und entschied, noch ein wenig die Anonymität zu genießen, solange er konnte. Er befürchtete, dass es nicht lange anhalten würde, sowie die Leute herausfanden, dass ein weiterer Cannon-Junge wieder in der Stadt war. Er drückte die schwere Stahltür auf und schob sich durch die inzwischen noch lautere Menge zurück an die Theke. Pellman war nirgends zu sehen, und auf seinem Platz saß jetzt die Person, die Judah am wenigsten erwartet hatte, und die einzige Person in der Bar, die zählte.

Als sie spürte, wie seine Hand die Lehne ihres Barhockers ergriff, drehte sie sich um, und ihr breites Lächeln traf ihn an einer Stelle, die er ganz vergessen hatte. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihr langes, zerzaustes Haar, stützte einen Ellbogen auf die Theke und betrachtete ihn.

»Hast ja lange genug gebraucht, zurück in die Stadt zu kommen.«Judah atmete tief ein und merkte, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte.

»Hi, Ramey.«