Leseprobe: Peter Farris – Letzter Aufruf für die Lebenden

ZWEI

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Hicklin fuhr auf einen verwaisten Parkplatz, der früher zu einem Fast-Food-Restaurant gehört hatte. Den Toyota Camry hatte er gestern Abend vor einem Multiplexkino geklaut. Kurz amüsierte ihn der Gedanke, dass sich drinnen womöglich jemand über eine dämliche Komödie kaputtlachte, während draußen seine Karre verschwand. Jeder, wie er’s verdiente. Für Hicklin war jeder eine potenzielle Beute. Selbst seine Partner. Er beobachtete die Bank. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Kreuzung und auf die Eingangstür. Er wartete, bis der Geldtransporter auf der Route 20 verschwunden war. Um diese Zeit schlummerte auf dem Land noch alles selig. Weder ein Auto noch ein Fußgänger zu sehen. Hicklin zog sich den Rupfensack über den Kopf. Die Sicht durch die grob ausgeschnittenen Gucklöcher war gut, ein einfacher krummer Schlitz diente als Mundloch und legte ein Stück Unterlippe frei. Die kugelsichere Kevlarweste zeichnete sich deutlich unter dem schwarzen Langarmshirt ab. Er trug schwarze Handschuhe, eine Cargohose und Stahlkappenstiefel. Über den rissigen Gehweg fuhr er zum Personaleingang der Bank. Noch dürften keine Kunden drin sein. Hicklin ließ den Motor laufen und nahm die Mossberg von der Rückbank. Er ging zum Kofferraum und öffnete ihn. Ein Klappkarren lag darin. Gemächlich hob er ihn heraus. Er hatte es nicht eilig.

Charlie zählte die Hunderterbündel zu je zweitausend Dollar per Hand. Benjamin Franklins Gesicht sah dabei nach unten, weil die Scheine so griffiger waren. Danach musste er die Banderole über die Bündel streifen und sie in die zweite Kassenschublade stecken und absperren. Für die Kassen galt ein Bargeldlimit, und seines war beinah erreicht. Er sah auf, als die gläserne Eingangstür eingeschlagen wurde. Niesha war gerade fertig geworden, die Übertragungs- und Prüfformulare für ungefähr einhundertfünfzigtausend Dollar in Münzen und Scheinen auszufüllen. Die Hälfte des Bargelds steckte noch in der Plastikverpackung des Verteilzentrums. Die Tür zum Tresorraum stand offen. Ihren Kaffeebecher hatte sie hinter Charlies Schalter stehen gelassen. Sie wollte danach greifen, als sie es ebenfalls hörte. Das Einzige, was sie in dieser Sekunde des Begreifens noch denken konnte: Ich bin unterbezahlt.

Hicklin schob die Klappkarre in den Schalterraum. Die Bank war wie erwartet leer. Er richtete das Gewehr auf den weißen Knilch hinter einem Schalter. So langsam, als wollte er im Seminar eine Frage stellen, erhob sich Charlie vom Hocker. Hicklin schwenkte den Lauf zu einer rundlichen Schwarzen in einem Blumenkleid und mit hübscher Frisur. Eine ihrer Hände wanderte unter den Tresen. »Heb deine Scheißhände, Niggerschlampe!« Nieshas Hand kroch weiter. Er kniff das linke Auge zu und drückte ab.

Bei dem Knall zuckte Charlie zusammen. Sein Blick verschwamm, seine Beine schienen ihn kaum mehr zu tragen. Er streckte dem Maskengesicht die Handflächen entgegen, als wollte er einen Autofahrer an einem Zebrastreifen stoppen. Er hörte Nieshas Körper auf den Boden poltern. Ein Stück ihres Schädels war gegen das Fenster des Drive-in-Schalters hinter ihnen gespritzt. Charlie hob die Hände über den Kopf. Sein panischer Blick suchte nach einem Ausweg, aber der Maskenmann stürzte auf ihn zu, den rauchenden Gewehrlauf auf Charlie gerichtet.

Mit einem kräftigen Schlenker seiner linken Hand hob Hicklin den Klappkarren über die Theke. Dabei streifte er Charlies Unterarme und ließ ihn zurückwanken. Hicklin trat zwei Schritte zurück, um Anlauf zu nehmen, und sprang mit einem Satz auf die Theke, ohne die Waffe von Charlie zu wenden. Oben drehte er sich um und ließ den Blick kurz durch den Schalterraum und durch die Glastüren hinaus auf den Parkplatz schweifen. Nichts. Die Tür zum Tresorraum stand offen. Auf dem Boden die tote Frau. Ich glaub nicht, dass sie den Knopf erwischt hat. Aber sie wollte. Allerdings konnte jetzt sowieso jeden Moment jemand kommen. Davon musste man ausgehen. Hicklin schätzte, dass er seit gut einer Minute im Gebäude war. Er musste schnell machen. Noch zwei Minuten. Keine Sekunde mehr.

Charlie merkte, dass er sich in die Hose pisste. Auf so was hatte ihn das Trainingsvideo beim Einführungsseminar nicht vorbereitet. Geben Sie den Bankräubern alles, was sie verlangen, dann ist alles schnell vorbei … Spielen Sie nicht den Helden. Die Polizei ist schon unterwegs. Aber Niesha war tot, und er konnte an nichts anderes denken, als dass er seinen Minitresor und die Kassenschublade nicht verschlossen hatte, dass kein stummer Alarm irgendeine ferne Leitstelle informierte und Ob ich das als Ausrede benutzen kann, damit ich nicht zu Momma zum Mittagessen muss?, während er in die riesige Mündung starrte, das Gewehr roch, Hicklin reden sah und trotzdem kein Wort verstand.

Hicklin drückte den Lauf gegen Charlies Stirn. »Mach den verdammten Safe auf, hab ich gesagt!« Charlie spürte die brennend heiße Mündung knapp unter dem Haaransatz. Er ging auf alle viere, packte mit zitternder Hand den Griff und öffnete den Minitresor. »Auch die Scheißschublade!« Charlie zog die Schublade auf. Warf einen Blick auf den Alarmknopf unter der Theke. Er war nah, leicht zu erreichen. Mit einer schnellen Bewegung könnte er ihn drücken, lange genug, um den Alarm auszulösen. Aber dann? War es das wert? Was hatte Niesha gedacht? Er sah die weiße Maske an, die dunklen Augenschlitze und wartete auf weitere Befehle. In den Augen des Mannes brannte Eile. Gewalt. Wille. Hicklin griff in die Schublade und packte die Bündel mit Hundertern, Fünfzigern und Zwanzigern. Das Kleingeld ließ er liegen. Er vermutete die Farbladung im Bündel der Zehner, war aber nicht sicher. Schnell stieß er Charlie beiseite und räumte den Minitresor komplett leer. Die Geldscheinbündel stopfte Hicklin in eine schwarze Reisetasche, die er über die Schulter geschlungen hatte. Dann schulterte er auch die Mossberg, klappte den Karren auf und lud die Kartons mit dem in Plastik verpackten Geld darauf. Es dauerte keine Minute, aber ihm kam es wie ein halber Tag vor. Er nahm das Gewehr wieder in die Hand und zwang den Jungen, für ihn den Klappkarren aus der Bank zu schieben.

»Los! Los! Los!« Mühsam schob Charlie den Karren über den abgetretenen Teppich und die Fußmatte. Aus dem Augenwinkel sah er Niesha auf der Seite liegen. Überall Blut. Er unterdrückte einen Würgereiz. Am Personaleingang zog er die Karre rückwärts hinaus und weiter zu einem mit laufendem Motor wartenden Auto. Wie betäubt begann er, die Geldtüten in den Kofferraum zu laden. Hicklin hielt ständig das Gewehr auf ihn gerichtet. Dann öffnete er eine hintere Tür des Autos und warf die Tasche mit dem Kassengeld in das Aquarium.

Eigentlich wollte Hicklin ihn auf dem Parkplatz erschießen. Keine Zeugen. Aber das Adrenalin machte ihn hibbelig, er hörte Dinge, ein anderes Auto, Sirenen. Er starrte Charlie an, sah die blassblauen Augen, den Schwabbelbauch und die Angst im Gesicht des Kassierers, und im nächsten Moment drückte er ihn auf den Beifahrersitz. Vielleicht war er ja noch zu was nutze. Hicklin hatte sich schon so oft auf seinen Instinkt verlassen, dass er die Entscheidung jetzt nicht noch einmal überdachte. Aber das Kribbeln seiner Haut warnte ihn. Was es sagte, war eindeutig. Das ist ein riesiger Fehler.

Nachdem Hicklin in den Wagen gestiegen war, schlug er dem Kassierer gegen den Kopf. Charlie verdrehte die Augen und sackte gegen das Beifahrerfenster. Hicklin legte den Gang ein und fuhr weg. Weg von der Bank und auf eine von Bäumen gesäumte Straße. Er wollte nach Norden und in die Berge. Wo kaum jemand lebte.