John Vercher: Wintersturm

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Die Luft im Lokal roch so, wie für Bobby die Toiletten aussahen. So sehr er Aaron diesen Gefallen tun wollte, so sehr sträubten sich seine Nackenhaare, und am liebsten wäre er sofort zum Auto zurückgegangen. Dann sah er den Grund.

Zwei junge Schwarze saßen an einem Tisch in der Nähe des Tresens. Einer hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt und wirkte bewusstlos. Neben seinem Ellbogen stand eine fast leere Schnapsflasche. Er trug eine blaue Strickmütze und eine blau-schwarz karierte Jacke, ein Outfit, das Bobby nur zu gut aus Homewood kannte. Der zweite schaufelte Pommes in seinen Mund und gluckerte einen Maxibecher Cola. Keine Gangfarben, nur ein braunes Sweatshirt mit gefütterter Kapuze und dunkelblaue Jeans. Er sah jünger aus als Bobby und Aaron. Schon beim Eintreten ernteten sie von ihm einen finsteren Blick. Im Neonlicht des Lokals sah Bobby zum ersten Mal genau, was der Junge zweifellos auch bemerkt hatte.

Aarons Tätowierungen.

Doppelblitze auf den Schultern. Zwischen den Schlüsselbeinen ein Reichsadler.

Auf jedem Ellbogen ein Spinnennetz.

»Oh Gott«, flüsterte Bobby vor sich hin.

Er stand hinter Aaron, als der an der Kasse die Bestellung aufgab. Dabei hörte er den Jungen am Tisch verächtlich zischen.

»Was kommen denn heut für Nullnummern hier rein«, sagte er.

Bobby tat so, als hätte er nichts gehört, warf aber einen, wie er glaubte, verstohlenen Blick über die Schulter. Der Junge sah ihm direkt in die Augen, ehe Bobby den Kopf wieder nach vorne drehen konnte. »Yeah, hast mich schon verstanden.«

Bobby starrte auf Aarons breiten Rücken. Entweder hatte Aaron nichts gehört oder es war ihm egal. Er gab weiter die Bestellung auf.

»Hey, wo hast du die Spinnennetze her?«, wandte sich der Junge direkt an Aaron. »Knast, oder? Du bist ’n beinharter Boss, was?«

Aaron drehte sich zu Bobby um und lächelte.

Nicht lächeln, bitte nicht lächeln. Warum zum Teufel lächelst du?

Mit dem Handrücken gab er Bobby einen Klaps auf den Bauch.

»Ich muss mal pissen«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«

»Was? Nein«, sagte Bobby. »Bleib hier, Mann, bleib hier.« Aber Aaron verschwand einfach. Der alte Mann hinter dem Tresen stopfte matschige Pommes in eine weiße Tüte, bis sie davon überquoll und das Papier vom Fett fast transparent wurde. Bobby warf wieder einen Blick über die Schulter, um zu prüfen, ob der Junge noch herübersah.

Er tat es. Der neben ihm lag immer noch auf der Tischplatte, begann sich aber zu regen. Als Aaron vom Klo zurückkam, schob der alte Mann die Pizza und die Pommes über den Tresen.

»Alles erledigt? Dann können wir ja gehen«, sagte Bobby.

»Wie, essen wir denn nicht hier?«

»Was?«

»Bleib locker«, sagte Aaron. »Zahl einfach, und wir verschwinden.«

»Sehr witzig«, sagte Bobby, während er das Geld über den Tresen schob.

»Was für ’n Schwanzlutscher«, sagte der Junge in Aarons Richtung.

Aaron lachte kurz auf. Stuhlbeine kratzten über den Boden. Der Junge stand direkt hinter ihnen. Er war größer als Aaron, aber dünn. Sein Gesicht war schmal, die Haut spannte über den Knochen.

Mit rasendem Puls spürte Bobby, wie sich der Druck eines Asthmaanfalls aufbaute und ihm die Brust zuschnürte.

»Hab ich ’n Witz gemacht?«, fragte der Junge Aarons Hinterkopf. Mit dem Essen in der Hand drehte sich Aaron um und sah den Teenager an. »Was ist?«, sagte der. »Ich weiß genau, was die Tätowierungen bedeuten, aber nope, ich hab keine Angst vor euch. Glück für euch, dass mein Kumpel pennt.« Er ließ kurz die Schultern kreisen.

Ohne mit der Wimper zu zucken, lächelte Aaron weiter.

»Entschuldige uns bitte«, sagte Aaron, als er zur Seite trat und an ihm vorbeiging. Bobby folgte ihm. Gott sei Dank. Sie steuerten auf die Tür zu.

»War ja nicht anders zu erwarten«, sagte der Junge. »Verpisst euch nur.«

Beinahe. Sie waren fast draußen.

Aaron legte die Hand auf den Türgriff. Ließ ihn los und wandte sich wieder um. Er schob die Zunge unter die Oberlippe und machte Affengeräusche, dazu zeigte er dem Jungen den Stinkefinger. Bobby schob ihn hinaus, aber er hörte schon Schritte hinter sich.

Aaron ging gemächlich weiter, bis Bobby ihn erneut schubste. Darauf trabte Aaron los, blieb aber gleich wieder stehen, um sich eine Handvoll Pommes in den Mund zu schieben. Die Tür des Dirty O wurde aufgestoßen und schlug gegen die Wand.

»Hey, ihr Witzbolde«, rief der Junge und rannte ihnen nach.

Bobby wollte loslaufen, aber der Gehweg war glatt, und er wäre beinahe gestürzt. Der Junge erreichte ihn und packte ihn am Jackenkragen. Bobby schrie nach Aaron, der auf einmal zum Pick-up rannte. Aarons plötzliche Feigheit ließ Bobby panisch werden, er fürchtete, zurückgelassen und verprügelt zu werden. Oder Schlimmeres. Mit einem Ruck riss er sich los und sprintete zur Fahrerseite des Pick-ups. Sprang hinein, schlug die Tür zu. Der Junge trommelte gegen das Seitenfenster. Bobby ließ den Motor an und wollte aufs Gas treten, als er merkte, dass Aaron nicht neben ihm war. Auf dem Sitz lagen nur der Pizzakarton und die aus der Tüte gefallenen Pommes. Beim Blick nach vorne sah er Aaron im Scheinwerferlicht zu dem jungen Schwarzen laufen. Der trat von der Fahrerseite
zurück und winkte Aaron provozierend zu sich. Bobby schrie, Aaron solle aufhören. Umdrehen und in den Wagen steigen. Dann bemerkte er den Ziegelstein in Aarons Hand.

Der Stein krachte auf Knochen, und der Junge sank wie eine Marionette mit gekappten Schnüren zusammen. Bobby hörte seinen Kopf auf den Gehweg schlagen. Er packte den Türgriff, sein Atem beschlug das Seitenfenster. Er lehnte sich zurück, um den Dunstfilm abzuwischen.

Das Gesicht des Jungen klaffte an mehreren Stellen tief auf. Kein Blut, bis sich der Mund öffnete, still und weit. Wie auf Befehl begann gleich darauf  jede Wunde gleichzeitig zu bluten. Schuhe scharrten im Schneematsch. Er wand sich und stöhnte, anfangs leise, dann immer lauter, wie eine näher kommende Sirene. Mit zitternden Armen versuchte er verzweifelt, sich vom Boden hochzustemmen. Bobby wollte die Tür öffnen, aber in seiner Panik hatte er sie verriegelt. Als er den Hebel fand und am Griff zog, riss Aaron die Beifahrertür auf. Bobby schrak zusammen. Aaron ließ den Ziegelstein in den Fußraum vor seinem Sitz fallen.

»Los, los, los«, sagte er.

Aaron atmete schwer, aber seine Stimme war gefasst. Sein Atem roch nach Bier. Bobby hatte vergessen, dass er den Motor bereits angelassen hatte, und als er den Schlüssel noch einmal drehte, knirschte der Anlasser.

Mit quietschenden Reifen bog er in die Forbes Avenue. Aaron drückte Bobbys Knie. »Fahr langsamer.«

Aaron wandte sich um und blickte durchs Heckfenster nach hinten, Bobby sah in den Rückspiegel. Die Polizeistation auf der anderen Straßenseite hatte zur Abschreckung oft einen Streifenwagen ohne Besatzung stehen. Als sie vorbeifuhren, blieb der Wagen ruhig. Kein Licht. Keine Sirenen. Bobby blickte noch einmal nach hinten und sah, wie die Tür des Dirty O aufging, dann war auch die Leuchtreklame nicht mehr zu sehen.

»Mein Gott, Aaron, was für eine Scheiße war das denn?«, sagte Bobby. Er rang immer mehr nach Luft, seine Brust rasselte, das Asthma drückte ihm die Luftröhre zu wie ein Schraubstock. Mit pfeifendem Atem griff er in die Innentasche seiner Jacke und zog den Inhalator heraus. Er fiel ihm aus der Hand. Aaron hob das Spray aus dem Fußraum auf und hielt es ihm hin. Das Blut von seinen Fingern klebte auf dem Plastik. Bobby fragte sich, ob es von Aaron oder dem Jungen stammte, und starrte auf den Inhalator in Aarons ausgestreckter Hand. Aaron bemerkte das Blut und wischte es mit dem Saum seines weißen Tanktops ab.

»Scheiße«, sagte er. »Sorry, verdammt, ich hab auch was auf deine Hose geschmiert.«

Als er Bobby den Inhalator erneut hinhielt, sah Bobby schon leicht verschwommen. Schnell griff er den Inhalator und nahm einen tiefen Atemzug. Aaron klappte das Handschuhfach auf und holte eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hielt Bobby eine hin und drückte den Anzünder rein. Bobby nahm die Zigarette und steckte sie zwischen seine trockenen Lippen.

»Fuck«, sagte Bobby. »Was hast du getan, Mann? Was hast du nur getan?«

»Du musst hier abbiegen. Gleich da vorn.«

Der Zigarettenanzünder sprang heraus. Aaron und Bobby griffen gleichzeitig danach. Aaron ließ Bobby den Vortritt. Wenn er Aaron den Anzünder in die Wange oder noch besser, weil weicher und verletzlicher, ins Auge stieß, konnte er vielleicht aus dem Auto springen, es gegen einen Laternenpfahl rollen lassen und in der Nacht verschwinden. Er könnte sich in der St. Paul’s Cathedral verstecken und die Polizei rufen.

Um was zu sagen?