Cédric Fabre: Ein kurzer Moment

Leseprobe

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Die Knallerei hatte abrupt aufgehört, und auch das Freudengeschrei der Kinder und das laute Plätschern vom Pool, wie eine dicke Decke legte sich Stille über alles, und es kam ihr vor, als ob ihr diese Stille durch die Adern flösse und sie plötzlich benebelte. Ein Knall musste ihr ins Ohr gedrungen sein, hinaufgekrochen wie ein Wurm oder geschwänzelt wie ein Spermium bis zu einem dieser Hohlräume oberhalb der Schläfe, um dort zu explodieren und sie taub zu machen. Sie öffnete die Augen und sah Sand, kilometerweit Sand, sie erkannte leblose Körper auf Strandliegen und dazwischen Menschen, die in alle Richtungen liefen, niemals in dieselbe. Als ob sie alle versuchen würden, voreinander zu fliehen, aber es sah nicht aus wie eines ihrer Spiele; sie las Panik auf den Gesichtern. Sie sah José, der über den Körper seiner Frau gebeugt stand, Elsa, und er weinte, und er schrie vielleicht sogar, doch sie hörte keinen Ton. Elsa hatte einen fürchterlichen Sonnenbrand. Sie war froh, sie gleich am ersten Abend getroffen zu haben. Elsa hatte so etwas Sanftes, war voller Freude und Herzlichkeit. Sie hatten den ganzen Abend im Sand gesessen und Mojitos getrunken, während José am Tresen der Bar geblieben war, um mit seinen Kumpels das Fußballspiel anzusehen. Sie waren vom Rettungsschwimmer angebaggert worden, er hatte einen sitzen und wollte ihnen unbedingt um elf Uhr abends das Schwimmen beibringen. Schwimmen konnte sie natürlich sowieso, aber schon bei der Vorstellung, baden zu gehen, war ihr das Meer so schwer und undurchdringlich vorgekommen, als könnte es sie verschlucken.

Nach und nach wurde ihr bewusst, dass auch sie bewegungsunfähig war, sie lag auf der Seite, die linke Gesichtshälfte in den heißen Sand gedrückt, was nicht unangenehm war. Angestrengt versuchte sie, sich zu bewegen, eines ihrer Beine zu befreien, das unter dem anderen eingezwängt war, ihre Atmung beschleunigte sich, wurde beschwerlich, kurz und gepresst. Sie senkte den Blick und beobachtete, wie ihr Atem die feinen Sandkörner über die Oberfläche des winzigen Abschnitts vor ihrem Mund jagte.

Sie fragte sich, warum sie weder Unruhe noch Angst verspürte, und ob nicht die Augen einer anderen das sahen, was sie sah. Ein junger Mann in Badehose breitete ein Handtuch mit einer roten Sonne über das Gesicht und die nackte Brust einer auf dem Rücken liegenden Frau. Es fiel ihr schwer, die Szene genau zu erkennen, weil der Fuß eines Liegestuhls aus Plastik ihr die Sicht versperrte. Außerdem nahm sie eine lange Spur im Sand wahr, ein Körper war gezogen worden, der Sand trank das Blut. Niemand lief mehr um sie herum, die Bewegungen der Menschen waren unbeholfen, sie schienen nunmehr verloren zu sein, sie fand es ungerecht und unfair, dass Schlanke und Kräftige in Polizeiuniform, schweren Soldatenstiefeln und mit der Waffe am Gürtel den Raum mit denjenigen teilten, die große Bäuche vor sich hertrugen und mit ihren Badeanzügen und Sonnenbrandflecken plötzlich so lächerlich und verletzlich aussahen. Dieser Gedanke kam ihr albern vor, sie amüsierte sich insgeheim darüber und wunderte sich erneut über die Abwesenheit jeglicher Angst. Allerdings erinnerte sie sich vage daran, einige Minuten zuvor heftige Angst verspürt zu haben.

Ein Polizist zog José gerade zurück, indem er ihm unter die Achseln griff und ihm dadurch half, sich aufzurichten, hinter ihnen hielten zwei junge Männer einen Liegestuhl bereit, um ihn als Trage zu benutzen. José weinte, er schüttelte den Kopf hin und her, die schönen Locken seiner schwarzen Haare und auch die Stoppeln seines Dreitagebarts waren voller Sand. Er drehte dem Bullen den Rücken zu, machte einige Schritte, ließ sich in den Schatten eines Sonnenschirms fallen und verbarg das Gesicht in den Händen. Vermutlich war er im Wasser gewesen, als der Typ angefangen hatte zu schießen, denn er war immer noch nass.

Sie hatten bereits einige Mojitos intus gehabt am ersten Abend mit Elsa, als die andere Frau, ein wenig betrunken, dazugekommen war, sie hatten geredet und geredet, vom Leben, das sie für die Ferien hinter sich gelassen hatten, sie waren sich alle drei einig gewesen, dass Männer im Grunde ebenso verkorkst wie wehleidig waren und dass ein Rettungsschwimmer, ein Yoga- oder Wassergymnastiklehrer oder Reiseführer nur dazu taugte, einem Delfinschwimmen, Yoga, Wassergymnastik oder die Geschichte alter Steine und untergegangener Städte beizubringen. Zu nichts weiter. Dann hatten sie sich über Elsa lustig gemacht, die zugegeben hatte, sie würde trotz all seiner Fehler zu ihrem José halten und könnte niemals ohne ihn leben. Auf der Tanzfläche hatten einige dicke Belgier versucht, zu Hits aus den Achtzigern hübsche Spanierinnen aufzureißen, und es war zu einem Streit mit einem Ehemann gekommen, einem stämmigen kleinen Mann im Hawaiihemd, der schließlich einen Belgier in den Pool warf. Alle hatten gelacht, sie waren im Urlaub, sie wollten, dass alles Spaß wäre, ein Anlass, sich zu amüsieren. Als Elsa spät am Abend zu José gegangen war, war sie bei der anderen Frau geblieben, sie waren schnell miteinander warm geworden. Sie hatte ihr einen Spitznamen gegeben. Pipette. Der Pompette gut gefiel. Sie hatten ausgelassen gelacht.

Ihr wurde klar, dass sie sich immer noch nicht bewegt hatte, sie schluckte, versuchte, sich zu strecken, und spürte einen starken Schmerz im Fuß, auch einen im Bauch.

Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Ein Mann hatte sich über sie gebeugt, er sprach zu ihr, er trug das weiße Hemd mit roten Spritzern weit offen über einer muskulösen und behaarten Brust. Sie hörte nicht, was er sagte, seine Bewegungen waren langsam und sicher, vorsichtig bewegte er die Lippen, aber sie merkte, dass sein ganzer Kiefer zitterte. Sie fühlte seine heißen Finger an ihren Schläfen, seine Hand an ihrem Handgelenk, sie spürte, wie ihr Puls unter dem Daumen des Mannes schlug, sie fühlte eine warme Quelle in sich und hätte sich dafür bei ihm bedanken wollen. Und Pompette, wo könnte sie wohl sein? Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war Pompette, wie sie ihren Pareo zuband und sagte, dass sie etwas zu trinken holen gehe, sie hatte ihr zugewunken und im Weggehen ein Küsschen zugehaucht, den Handteller an den gespitzten Lippen. Pompette war geduldig gewesen, sie hatte ihr lange zugehört in den letzten Tagen, als sie von ihren Zweifeln erzählte und ihr anvertraute, dass sie wieder lieben wolle, ein neues Leben führen, alles verändern würde, wenn sie wieder zu Hause wäre. Sie würde ihr Psychologiestudium wieder aufnehmen und mit Kindern arbeiten. Meistens stimmte Pompette ihr schweigend zu, während sie ihr offen in die Augen sah.

Sie hatte das Gefühl, selbst wieder zum Kind zu werden, sehnte sich nach der Gegenwart ihres Vaters in ihrer Nähe, sie wollte seine sanfte und ernste Stimme hören, hier, sofort, und sie betrachtete das Gesicht des Mannes, der sich über sie beugte. Er war schlecht rasiert, hatte senkrechte Falten auf der Stirn, er war schön, er schwitzte. Sie spürte, wie die Angst in ihr aufstieg. Sie versuchte zu rekonstruieren, was passiert war, sah Pompette wieder vor sich, die in Richtung Bar ging und von einem jungen Mann angequatscht wurde. Sie selbst hatte nach ihrem Tagebuch gegriffen, sie wollte den Titel eines Films notieren, den Pompette ihr gerade empfohlen hatte, der in Ägypten spielte und davon handelte, wie Frauen, die in Bussen angegrapscht und belästigt wurden, das Recht selbst in die Hand nahmen. Dann hatte sie zum Swimmingpool geblickt und diesen Typen angestarrt, er sah entschlossen aus, war aus dem Pool gestiegen, hatte sich einer Tasche genähert, und sofort war sie wie gelähmt gewesen, denn er hatte eine Waffe herausgeholt. Sie hatte vor Augen, wie er angefangen hatte zu schießen, mit dem Rücken zum Hotel, wie die Badenden von den Schüssen niedergestreckt wurden, sie hatte sich auf den Boden geworfen und ihr Tagebuch an sich gepresst, da war das Getöse der Windböen, der Krach eines Einschlags, der die Ummantelung eines Sonnenschirmständers abriss und sich anhörte, als ob jemand kraftvoll ausspuckte, dann fühlte sie einen brennenden Schmerz in der Schläfe, dann wurde ihr Magen getroffen, danach ihr Fuß.

Wie viel Zeit war seit den Schüssen vergangen? Würde sie sterben? Sie sah ein kleines Rinnsal Blut unter ihrem Auge zusammenlaufen. Es kam von ihr, sie wandte die Augen ab. Ihr Blick fiel auf den blauen Umschlag ihres Tagebuchs, wenige Meter von ihr entfernt. Es war in den Sand gefallen. Sie wollte die Hand danach ausstrecken.

Der Mann versuchte, sie auf den Rücken zu drehen, doch sie wollte sich wehren, ihn anflehen. Da wurde ihr klar, dass sie nicht sprechen konnte. Er schien ihr etwas zu sagen, sein Blick war furchtbar traurig. Sie versuchte, sich ein Fließen vorzustellen, das ihre Hand das Tagebuch erreichen ließ, eine unsichtbare Energie, die ihren physischen Körper mit ihren geschriebenen Worten verband, mit diesem anderen Teil von ihr, dem sichersten und am besten beschützten. Sie wollte nicht dieser verletzte Körper sein, sie wollte ihr Tagebuch sein. Es enthielt die letzten Tage ihres Lebens, das, was von ihr bleiben würde. Fröhliche Tage, in denen sie eine Entscheidung getroffen und sich darauf vorbereitet hatte, ihr Leben komplett zu verändern.

Ihr blieb die Zeit, diese zarte Hand zu sehen, die sie so oft betrachtet hatte, mit dem Armband am Handgelenk, das sie im Souk gekauft und ihrer Freundin geschenkt hatte, »aus echtem Metall«, hatte sie ihr lachend gesagt, diese zierlichen Finger, die jetzt nach dem Tagebuch griffen und andere Finger, die den Sand vom Umschlag wischten. Nun war sie beruhigt, und sie schloss die Augen, ohne den Blick ihrer Freundin aufgefangen zu haben, denn der Körper des Mannes versperrte ihr nun die Sicht. Danke, Pompette, meine Pompette.