Chris Harding Thornton: Pickard County

Leseprobe

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

In der Tiefe einer Nacht Ende Juli bohrten die Scheinwerfer von Harley Jensens Streifenwagen einen Tunnel aus Licht über dem Highway 28 durch die Dunkelheit. Sie beleuchteten die Straße mit ihrer dünnen Asphaltdecke, an deren ausgefransten Rändern Horstgras nagte. Alles andere wurde vom grellen Schein getilgt. Nord-Mittel-Nebraska, die Gegend, in der Sand auf Lehm traf, hob und senkte sich um ihn herum, und zeichnete sich schwarz gegen den dunklen Himmel ab.
Wie in jeder Nacht auf Streife, hakte Harley unbewusst die Namen der vorbeiziehenden Ländereien ab, wie auf einer alten Flurkarte. Hier draußen war es üblich, dass Wiesen und Felder nach ihren lebenden Besitzern benannt waren. Wohnhäuser und Nebengebäude, die sich hinter Windschutzhecken zusammendrängten und deren Höfe nur von einer einzigen Laterne beleuchtet wurden, waren nach ihren Erbauern benannt. Die einzige Ausnahme bildete das verlassene Gehöft von Harleys Familie, dem er sich nun näherte und an dem er schnell vorbeiwollte. Wenn die Windschutzhecke als dunkler Hügel am Horizont auszumachen war, würde er an der Scheune vorbeifahren und sich mit einem kurzen Blick vergewissern, dass die Haustür noch verschlossen war. Dann würde er mit der Sohle seines Westernstiefels das Gaspedal durchtreten.
Die Jensen-Farm war von einem gewissen Braasch gebaut worden, und ein Braasch besaß sie auch heute. Bevor Harley dort vor siebenundvierzig Jahren geboren wurde, hatten andere Familien in dem stillen, zweistöckigen Gebäude gewohnt, doch es wurde Jensen genannt. Was bedeutete, dass es zwei Systeme der Namensgebung gab, vermutete Harley. Fleiß oder Schande. Was immer auch hängen blieb.
Im überwucherten Hof blitzte glänzendes Chrom auf, und sein Hals versteifte sich. Neben der Scheune parkte jemand.
Er fuhr am Haus vorbei und ließ den Wagen am Hang ausrollen. Dann bog er links auf den Schotter der County Road K ab und hielt an. Mit dem Ellenbogen im Fensterrahmen, nahm er einen letzten tiefen Zug an seiner Zigarette, die ihn wachhielt, und spuckte einen Tabakkrümel von der Zunge. Er rieb sich mit dem Fingerknöchel über die Schläfe und rang mit sich, ob er weiterfahren sollte oder nicht. So tun sollte, als habe er nichts gesehen.
Das Mindestalter für Alkoholkonsum war neunzehn, weswegen Highschool-Kids sich in den verfallenen Höfen trafen, die überall zwischen den Hügeln verstreut lagen. Sofern sie clever genug waren, sich einen Ort auszusuchen, der nicht direkt am Highway lag und ganz bestimmt keine Verbindung zu einem Deputy hatte, der die halbe Nacht Patrouille fuhr. Doch andererseits, vermutete Harley, zog besoffene, geile Kids nichts so sehr an wie ein Hauch von Zwielichtigkeit, ein paar gruselige Brocken Tratsch, die sie zu ausgewachsenen Horrorgeschichten spinnen konnten. Er fragte sich, was sie sich wohl hatten einfallen lassen. Zu seiner Zeit ging das Gerücht, dass in den dichten Pappelhainen entlang des Steinbruchs nackte Albino-Kannibalen Pärchen auflauerten, die in mondhellen Nächten dort parkten. Das war schwer zu toppen.
Er legte den Rückwärtsgang des Furys ein, trat aufs Gas, um die uneinsehbare Kreuzung schnell zu überqueren und bog dann in die Einfahrt des Hauses ein. Die Spuren waren kaum mehr als zwei leichte Kerben im kniehohen Gras. Das Abblendlicht fiel vor ihm auf eine Heckklappe. Über der Quecke und den wilde Esche-Setzlingen ragte die staubige Stoßstange eines roten F-250.
Paul Reddick.
Harley griff nach dem Mobilteil, das am Funkgerät klemmte. Sein Finger lag auf der Taste, wartend, ohne zu drücken. Das Protokoll erforderte, sich zu melden, wann immer er jemanden anhielt. Genau genommen hielt er ja niemanden an. Er ließ das Mobilteil los.
Er nahm die Taschenlampe von der Rückbank und zuckte beim lauten Knacken des Türscharniers zusammen, dass er vergessen hatte mit WD-40 einzusprühen. Dann stand er im Gestrüpp und richtete den Lampenstrahl auf die Heckscheibe des Pick-ups. Die alte Winchester Kaliber 12 steckte in der Halterung hinter Pauls erdfarbenem, gut schulterlangem Haar. Aus dem offenen Fahrerfenster ragte ein brauner, geäderter Unterarm, als wolle er rechts abbiegen. Seine Faust zeigte Harley den Mittelfinger.
»Reddick«, grüßte Harley.
Paul ließ den Mittelfinger sinken und den Arm aus dem Fenster baumeln.
»Jensen«, wehte wie ein Wie-geht’s? zurück.
Bei dieser Wie-geht’s-Art, dieser unerschütterlichen Ruhe, biss Harley unwillkürlich die Zähne zusammen. Es war keine Gelassenheit und keine Zurückhaltung. Über Gelassenheit und Zurückhaltung wusste Harley selbst eine Menge. Was Paul hatte, war die feindselige Gleichgültigkeit eines Menschen, der nichts wertschätzte. Diese Art besonderer Gehässigkeit, die daher rührte, nie irgendetwas gehabt zu haben, das ihm so viel bedeutete, dass er Angst hatte, es zu verlieren.
Es rührte mit Sicherheit von einem Bruder, der vor achtzehn Jahren gestorben war, und an den Paul sich bestimmt nicht mehr erinnerte, weil er zu jung gewesen war. Was Paul betraf, fand Harley, war es sicher noch schlimmer, sich nicht zu erinnern. Alles, was Paul kennengelernt hatte, war das Nachspiel.
Dell junior, der älteste der drei Reddick-Jungs, war sieben Jahre alt, als er von einem Landarbeiter namens Rollie Asher umgebracht wurde. Dell junior hatte Rollie erschreckt, als dieser auf dem alten Lukas-Gehöft damit beschäftigt war, Erde in einen eingestürzten Keller zu schaufeln. Seit Korea war Rollie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Er schlug dem Jungen den Schädel ein, rief dann den Sheriff an, um mitzuteilen, dass er es getan hatte, und jagte sich danach eine Ladung Schrot in den Kopf. Nur hatte Rollie nicht erwähnt, wohin er die Leiche geschafft hatte. Im Sommer 1960 durchsuchten Harley und das Department jedes leerstehende Gebäude und drehten jeden Stein auf den Feldern und in den Gräben um. Doch sie fanden ihn nie. Sie fanden den Spaten, an dem Haare und Haut klebten. Sie fanden eine Stelle, in die mehr Blut gesickert war, als nach Harleys Wissen in einem Siebenjährigen fließen konnte. Nur keine Leiche.
Manchmal dachte Harley, dass es den Reddicks erheblich besser ergangen wäre, wenn das Department die Leiche gefunden hätte. Vielleicht hätte sich dann Virginia, die Mutter, nicht so von allem ausgeklinkt. Vielleicht wäre Dell senior dann nicht ausgezogen und hätte es den beiden kleinen Jungs überlassen, sich um sie zu kümmern. Wenn das Department nur diese Leiche gefunden hätte, vielleicht wäre dann Pauls Gefühl für das Ausmaß und die Schwere von Dingen, das Wissen, wann und warum man beunruhigt sein sollte, halbwegs normal. Doch wie die Dinge lagen, war das auch nicht ansatzweise der Fall.
Harleys Stiefel bewegten sich vorwärts, traten das Gras und die Erde platt, bis eine Bewegung im Führerhaus ihn innehalten ließ. Er rieb über die Druckknopfsicherung seines Holsters. Ein weiterer Kopf, dieser mit langen, zerzausten, blonden Locken, tauchte vom Sitz auf. Schläfrig blinzelte ihm ein Augenpaar entgegen. Ein Mädchen, vielleicht sechzehn. Paul musste inzwischen fast zweiundzwanzig sein. Es war eine kurze Überprüfung wert.
Harley richtete seine Taschenlampe durch das offene Fenster auf Paul, der nicht blinzelte. Stattdessen legte er den Kopf zurück, als würde er den grellen Schein durch eine Bifokalbrille mustern. Durch den Winkel wirkte sein Kinn noch kantiger, als es ohnehin war. Seine silbergrauen Augen sahen ihn unverwandt an.
»Sightseeing?«, fragte Harley.
»Ein bisschen frische Luft schnappen.« Die Worte klangen einen Tick zu laut, ein Effekt der Tonlage, nicht der Lautstärke. Pauls Stimme war klar und tief. »Solange ich noch nicht die Radieschen von unten sehe.«
Es war ein Scherz, den alte Männer in einer Futterhandlung reißen würden. Andererseits, das einzig Junge an Paul war das Alter in seinem Führerschein.
Die feinen Falten um die Augen, Spuren von der Arbeit in Sonne und Wind, ähnelten Krähenfüßen.
»Zumindest einstweilen«, sagte Harley.
»Das klingt jetzt aber gar nicht gut.« Pauls Blick, dem man nicht die geringste Bedeutung entnehmen konnte, wanderte zum Haus hinüber. Im Profil waren seine Gesichtsknochen ausgeprägt, markant. So sehr, dass sie jeden Moment durchzubrechen und die Haut aufplatzen zu lassen schienen. Der Schein der Taschenlampe warf dunkle Schatten unter Pauls tief liegende Augen, zwischen Wangenknochen und Unterkiefer.
»Steig bitte aus dem Fahrzeug.«
Paul blickte auf seinen Schoß hinunter und fummelte mit den Händen herum. Harley schnipste den Sicherungsdruckknopf seines Holsters auf. Als Antwort kam aus dem Führerhaus das raspelnde Geräusch eines Reißverschlusses.
Die Tür des Pick-ups öffnete sich und Harley wartete darauf, dass Paul kurz blinzelte, als die Innenbeleuchtung aufflackerte. Nichts. Paul schob die Hände in die Taschen seiner zu engen Jeans und schlenderte durch das kniehohe Gras Richtung Haus. Sein abgetragenes schwarzes T-Shirt verschmolz mit der Dunkelheit der Nacht, und ein Hauch von herbem Aftershave hing hinter ihm in der Luft.
Harley packte das Lenkrad und nutzte das Trittbrett, um sich auf den Fahrersitz zu hieven. Er richtete den Lichtstrahl auf das Mädchen, obwohl sie im Licht des Wagens gut erkennbar war.
Sie starrte ihn mit großen Augen an und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Unterlippe.
»Bist du aus freiem Willen hier?«, fragte er.
Sie saß nur da, so stumm und verwirrt wie eine Schlafwandlerin.
»Ich habe gefragt, ob du absichtlich hier draußen bist?«
Das Mädchen sagte nichts.