Prolog

Keleti-Bahnhof, Freitag, 4. September 2015, 6:05 Uhr

 

© Christoph Kretschmer / Adobe Stock

Er lag auf dem Rücken, den Schlafsack zwischen den Beinen verheddert, das Nylon feucht auf seiner Haut. Ein Lautsprecher knisterte mehrere Sekunden, verstummte, feuerte dann eine lange Salve scheinbar wild durcheinandergewürfelter Vokale und Konsonanten ab und verstummte wieder. Er hatte einen trockenen Mund und eine belegte Zunge, sein T-Shirt war völlig durchgeschwitzt. Wo war er?
Er drehte sich auf die Seite, schaute sich um und erinnerte sich. Ein Junge mit einem schmalen Gesicht, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, lag zusammengerollt unter einer braunen Kunstfaserdecke, seine schmutzige Hand hielt einen zerrissenen Rucksack. Eine Mutter und ihr Baby lagen auf einem Stück Wellpappe neben seinen Füßen. Das Kind wimmerte leise, während die Mutter davon nichts mitbekam und leise schnarchte, ihr pausbackiges Gesicht im Schlaf ruhig und gelassen.
Simon Nazir legte die Hand auf den Rücken seiner Frau, spürte, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte, ließ die Finger durch ihr schwarzes, lockiges Haar gleiten, spürte die Wärme ihrer Haut und schloss die Augen. In seinem Kopf war er immer noch in Aleppo: Er hörte das Lachen der Ladenbesitzer im Basar, den Ruf des Muezzins, roch die Mischung aus altem Staub, Kaffee und Kardamom. Er atmete durch die Nase ein. Der warme Viehgestank ließ ihn beinahe würgen. Er schlug die Augen auf, griff nach der Flasche Wasser und nahm einen tiefen Schluck. Die Flüssigkeit war abgestanden und schmeckte nach Plastik. Die Sonne war bereits aufgegangen, und der türkisfarbene Himmel mit seinen feinen weißen Wolkensträhnen versprach einen weiteren heißen und schmutzigen Tag des Wartens.
Nazir versuchte vergeblich, eine zumindest etwas bequemere Stellung zu finden, sich auszustrecken, ohne gegen einen anderen ausgestreckten Körper zu stoßen. Die menschliche Flut breitete sich in alle Richtungen aus, füllte den Platz vor dem Haupteingang des Keleti-Bahnhofs und ergoss sich weiter entlang der Seiten. Die belebte Kreuzung einer europäischen Hauptstadt war jetzt ein riesiges Flüchtlingslager. Der Boden war übersät mit weggeworfenen Lebensmittelverpackungen, Zigarettenkippen, halb aufgegessenen Sandwiches, vergammeltem Obst, leeren Mineralwasserflaschen und Schuhen, die für die Nacht abgestreift worden waren. Die Glücklicheren unter ihnen hatten Zelte, Geschenke von Touristen und Musikfans, die ein paar Wochen zuvor Mitte August das Budapester Sziget-Festival besucht hatten. Über den Platz verteilt und inmitten der Schlafenden standen ein halbes Dutzend weißer Transporter, auf deren Seiten die Namen verschiedener Fernsehsender prangten; riesige Antennen und Satellitenschüsseln waren zum Himmel gerichtet. Noch war es zu früh für die Journalisten, aber gegen zehn Uhr würden scharenweise Reporter auf dem Platz sein. Nazir betrachtete einen Mann mittleren Alters, einen Ingenieur, den er von zu Hause kannte, der im Schlaf zuckte und seine zehnjährige Tochter im Arm hielt; vor ihnen ein kleiner Koffer.
Die synthetische Stimme dröhnte immer noch monoton im Hintergrund – die Bahnhofsdurchsagen in ungarischer Sprache waren ein ständiger Teil der Geräusch-
kulisse –, aber es waren menschliche Geräusche, die in seinen Schlaf eingedrungen waren. Eine Stimme, die er kannte, die er nie wieder hören wollte. Nazir warf einen Blick nach rechts. Etwa zwanzig Meter entfernt bewegte sich etwas, ein Mann saß in der Hocke, Gemurmel.
Nazir ermahnte sich, nicht in Panik zu geraten, ganz ruhig zu bleiben, gefasst, klug. Hier war er in Sicherheit. Er war umgeben von Menschen, Polizisten, und bald auch Reportern. Es konnte nichts Schlimmes passieren, außer noch mehr lange Tage unterwegs. Er und Maryam saßen nun bereits seit fünf Tagen am Keleti fest, nur ein Zwischenstopp auf einer Reise, die bereits drei Wochen dauerte. Sie waren nachts aus Aleppo geflüchtet, hatten die Front überquert, ein Taxi nach Damaskus genommen, ein weiteres nach Beirut, waren von dort nach Istanbul geflogen, dann auf dem Landweg weiter mit dem Bus und schließlich zu Fuß durch Bulgarien, Serbien und Ungarn.
Hier versuchte wenigstens niemand, sie zu vergasen oder zu erschießen oder auch nur festzunehmen. Sie hatten es nach Europa geschafft, noch nicht ganz in den Westen, aber definitiv nach Mitteleuropa. Der gelbe Anstrich des Bahnhofs verblasste, der Wartebereich war dunkel und trostlos, das Dach hatte Risse. Aber der Keleti war immer noch Symbol eines Weltreichs und signalisierte, dass Budapest im Herzen des Kontinents lag. Vor einigen Tagen hatten er und Maryam stundenlang auf die Tafel mit den Abfahrten gestarrt und von einem neuen Leben im Westen geträumt. An einem normalen Tag fuhren von hier Züge nach Berlin, Wien, Paris und München. Aber es waren keine normalen Zeiten. Vor vierundzwanzig Stunden hatte die Regierung die Westgrenze für Flüchtlinge geschlossen. Sämtliche internationalen Zugverbindungen waren gestrichen worden, die Inlandverbindungen verkehrten jedoch weiterhin. Was für die Migranten aber keine Rolle spielte, da sie sich ohnehin nicht im Bahnhofsgebäude aufhalten durften. Bereitschaftspolizisten standen in einer langen Reihe vor dem Eingang. Alle paar Minuten traten sie beiseite, um frühmorgendliche Pendler durchzulassen, dann kehrten sie an ihren Platz zurück, die Arme verschränkt, die Gesichter teilnahmslos.
Nazir leerte die Wasserflasche, hörte wieder die Stimme des Mannes und lag dann sehr still da. Der Kampfanzug, die Pistole und der lange Bart waren fort. Jetzt war er glatt rasiert, trug Jeans, blaue Nike-Turnschuhe und ein T-Shirt, in der Hand ein iPhone; er hätte jeder x-Beliebige von Hunderten Männern mittleren Alters aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan sein können, die auf ihrem Marsch durch Europa vor dem Keleti kampierten. Aber er war es – die wulstige Narbe über dem rechten Ohr, die Erinnerung an eine Brandbombe, entschied die Sache.
Maryam bewegte sich, als würde sie Nazirs Unruhe spüren, murmelte etwas, tauchte dann wieder ganz in den Schlaf ein. Nazir rutschte tiefer in seinen Schlafsack, verbarg sein Gesicht. Er versuchte zuzuhören, konzentrierte sich, bekam den speziellen Tonfall mit, typisch für den Akzent Aleppos, den der Mann sprach, nicht jedoch seine Worte. Nazir verfolgte mit halb geschlossenen Augen, wie die beiden Männer, mit denen der Mann sprach, sich erhoben und ihre Rucksäcke aufnahmen. Wohin gingen sie?
Nazir sah zu der Reihe Taxis hinüber, die vor dem Seiteneingang des Bahnhofs standen. Die Fahrt zur österreichischen Grenze kostete 500 Euro. Er kannte drei Familien, die das Geld bezahlt hatten. Zwei waren irgendwo auf dem Land dreißig Meilen außerhalb von Budapest abgesetzt worden, wo die Polizei sie aufgriff und umgehend in ein Auffanglager schickte. Die dritte Familie war fünfzehn Meilen vor der Grenze zurückgelassen worden. Sie waren ebenfalls verhaftet worden, kamen aber wieder frei, nachdem sie der Polizei weitere 500 Euro zahlten, und hatten es schließlich auf die andere Seite geschafft. Vor zwei Tagen hatte der ältere Sohn aus Wien eine SMS geschickt.
Für den Moment blieb vor dem Keleti nichts weiter zu tun, als abzuwarten und zu beobachten. Er bemerkte, dass eine der Taxifahrerinnen ebenfalls zu den drei Männern hinübersah. Sie war Nazir bereits am zweiten Tag aufgefallen. Zum einen, weil sie eine Frau war und gleichzeitig die einzige Frau zu sein schien, die hier am Bahnhof arbeitete. Sie war etwa Anfang dreißig, schätzte Nazir, groß, hatte schulterlanges dunkelblondes Haar, braune Augen und ein unbeschwertes, freundliches Lächeln. Zum anderen, weil sie anscheinend nie einen Fahrgast hatte. Wann immer Nazir hinschaute, war sie da, rauchte, lachte und plauderte mit den anderen Fahrern. Und sie war ungewöhnlich freundlich. Nazir hatte einige Male Höflichkeiten mit ihr ausgetauscht, wenn er spazieren ging. Ihr Name, sagte sie, sei Ildikó. Nazir war in Aleppo Silberschmied gewesen. Der billige Schmuck – Ringe und Reifen –, den Ildikó trug, passte irgendwie nicht zu ihr. Bei ihrem letzten Gespräch fiel ihm auf, dass sie überraschend gut über die Vorgänge im und am Keleti informiert war, über die klare Gebietsaufteilung in Araber, Afrikaner und Afghanen, und sogar über die Streitereien unter den verschiedenen syrischen Oppositionsgruppen.
Er sah, dass die drei Männer jetzt standen, die Rucksäcke auf dem Rücken. Nazir strich reflexartig über seine linke Hand, berührte die Narbe, dort, wo sein kleiner und der Ringfinger gewesen waren, und spürte, wie Angst in ihm aufstieg. Er beobachtete, wie sie sich umdrehten und im Begriff waren, die Bahnhofshalle zu verlassen. Er lag noch auf der Seite, aber dachte jetzt nicht länger über die Taxifahrerin Ildikó nach, sondern zog entschlossen den Reißverschluss seines Schlafsacks auf und schob sein Handy in die Tasche seiner Jeans. Er beugte sich zu Maryam, kritzelte schnell mit zitternder Hand eine Nachricht auf einen Zettel, zog eine Rolle Banknoten aus seiner Tasche und legte beides in ihren Schlafsack.
»Simon«, murmelte sie.
»Ich gehe Essen besorgen. Ich bin bald zurück«, flüsterte er ihr ins Ohr und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Kopf. Maryam griff im Schlaf nach ihm. Er umarmte sie durch ihren Schlafsack und drückte seine Brust an ihren Rücken, sie verschränkte ihre Finger mit seinen. Selbst jetzt noch duftete sie nach Seife und
Lavendel, ihr Atem war morgens immer noch wunderbar. Er wollte nichts anderes tun, als sie in die Arme zu schließen und nie mehr loszulassen, hatte nie etwas anderes gewollt. Er küsste ihren Nacken und schaute dann wieder zu den drei Männern auf. Sie entfernten sich inzwischen vom Bahnhof, hatten jetzt den Platz Baross tér überquert und gingen weiter zur Straße Rákóczi út.
Sein Herz klopfte, seine linke Hand pochte. Er schloss kurz die Augen, inhalierte begierig ihren Duft, schluckte schwer und stand auf.
Dreißig Meter entfernt ließ die blonde Taxifahrerin ihre Zigarette fallen, trat sie mit einer schnellen Drehung des Fußes aus und begann, ihm zu folgen.