Nicht jeder Cop ist dreckig, aber die guten schon

Von Marcus Müntefering
©Max Soklov / Adobe Stock

Würden police procedurals, also Polizeiromane, die Arbeit von Polizisten realistisch darstellen, hat Ian Rankin einmal in einem Interview gesagt, sie wären die langweiligsten Bücher der Welt. Er muss es wissen, schließlich hat er mit seinen Büchern um den Edinburger Inspector John Rebus Abermillionen Bücher verkauft. Weil also Polizeiarbeit so unglaublich langweilig sei, so Rankin weiter, und die Cops nur Zahnräder in einer Maschine seien und nie den ganzen Fall überblickten, sei kein police procedural realistisch, was die Darstellung der Aufklärungsarbeit der Polizei betrifft. Das weiß auch Mike Knowles, und für ihn bedeutete das vor allem eines, als er Tin Men geschrieben hat: Freiheit. »Teile meines Romans sind realistisch, aber ein Großteil ist es eben nicht«, sagt er. »Und diese Teile zu schreiben, macht mir am meisten Spaß – und den Lesern hoffentlich auch.«

Wir lesen (und sehen) Polizeikrimis nicht wirklich, um zu erfahren, wie Polizeiarbeit funktioniert. Sie faszinieren uns, weil sie uns in dunkle Ecken führen und an Orte mitnehmen, zu denen wir in unserem Alltagsleben keinen Zutritt haben und an die wir uns auch nicht trauen würden. Das heißt aber auch, wir suchen durchaus nach Realität, nur eben nicht bei der Ermittlungsarbeit. Gute Polizeiromane können uns die Welt auf eine Weise näherbringen, wie es Nicht-Genre-Literatur nur selten vermag.

Mike Knowles ist niemand wie Salvatore Albert Lombino, der unter seinem Pseudonym Ed McBain 55 Romane über das 87. Polizeirevier schrieb und so zum godfather des Polizeiromans wurde. Alf Mayer und Frank Göhre, die diesem Ausnahmeautor in ihrem Buch »Cops in the City« ein literarisches Denkmal setzten, verglichen sein Werk mit dem Zolas oder Balzacs: »McBain hat die cop novel als das geeignete ästhetische und erkenntnistheoretische Medium etabliert« und die Chronik einer Stadt erzählt, die New York City ist, auch wenn sie nicht so heißt. Und das spannend, unterhaltsam und ohne in den Verdacht zu geraten, Hochliteratur sein zu wollen. Oder, wie Mike Knowles sagen würde, es geht beim Lesen und Schreiben darum, Spaß zu haben.

Mike Knowles hat sein gesamtes Leben in der kanadischen Stadt Hamilton in der Provinz Ontario verbracht, er arbeitet hier seit rund 15 Jahren als Lehrer. Es ist eine Stadt, die nie aufgehört hat, ihn zu beeindrucken, weil sie eine Stadt der Unterschiede ist: »Die meisten meiner Romane spielen hier, weil die Stadt so viele verschiedene Ethnien und andere soziale Milieus vereint.« Mit seinen Büchern erschreibt sich Knowles auch das Hamilton seiner Kindheit zurück: »Immer wenn wir mit dem Auto ins Stadtzentrum gefahren sind, habe ich die Fahrt mit meiner Nase an der Scheibe verbracht. Downtown schien mir so wild zu sein. Auch wenn das heute nicht mehr so für mich ist, gefällt mir die Idee, dass es so sein könnte. Sein fiktives Hamilton ist ziemlich wild, düster, heruntergekommen und bevölkert mit finstersten Gestalten. Bräuchte man dort eine Abwehrmaßnahme gegen das Zeitgeistphänomen Overtourism, Tin Men würde sich anbieten. Der Roman taugt nicht als Orientierungshilfe für potenzielle Hamilton-Besucher, anders als bei Ian Rankins Edinburgh- oder Michael Connellys L.-A.- Romanen würde man die Restaurants und Bars und Gebäude bei Google Maps vergeblich suchen. »Die Stadt, über die ich schreibe, sieht zwar aus wie Hamilton, benimmt sich aber komplett anders. Ich benutze die Orte, die ich kenne, um die Geschichte in Gang zu bringen, aber dann übernehmen meine Figuren.«

Auch wenn Mike Knowles’ Hamilton zwar so heißt, aber es nicht wirklich ist (entgegengesetzt zu McBains New York), so hat er, wie eigentlich jeder moderne Krimiautor von Rang, seinem Vorgänger viel zu verdanken. McBain hat das Genre des Polizeiromans nicht erfunden – diese Ehre wird gewöhnlich Wilkie Collins und seinem Roman »Der Monddiamant« zugesprochen –, aber er hat die Spielregeln des Genres so entscheidend verändert, dass wir auch heute noch danach spielen. Er war das erste Glied einer unendlichen Kette, die ihn mit Joseph Wambaugh, Maj Sjöwall (Wahlöö), Michael Connelly, James Ellroy und jetzt auch mit Mike Knowles verbindet.

McBain kam früh in Knowles eigener Lesekette, stand dort allerdings nicht ganz am Anfang. Angefixt wurde Knowles durch Donald E. Westlakes unter dem Pseudonym Richard Stark verfasste Parker-Romane. Nachdem er den ersten beendet hatte, wusste Knowles, dass er sie alle lesen musste. Und so besorgte er sie sich methodisch, graste zunächst Hamiltons Antiquariate ab und bestellte per Telefon (es waren die Zeiten vor Amazon), was er dort nicht finden konnte.

Es war also kein Zufall, dass Knowles selbst einen Verbrecher in Serie schickte: Wilson heißt er, ein Mafia-Vollstrecker, und die sechs Romane, in denen er seinem einsamen, unmoralischen Handwerk nachgeht, stellen das Genre zwar nicht gerade auf den Kopf, aber sie sind mit großem Gespür für die Ökonomie des Schreibens geschrieben. Kurze, knackige, im besten Sinne dreckige Thriller, die einen fiesen, aber nie aufdringlichen Humor besitzen. Romane, wie es sie aktuell kaum noch gibt, wahrscheinlich ist einfach kein Markt mehr dafür vorhanden. Ausnahmen bestätigen die Regel: das Crissa-Stone-Quartett des US-Amerikaners Wallace Stroby etwa und natürlich die langlebige Wyatt-Reihe des Australiers Garry Disher.

Die Wilson-Romane sind hierzulande noch nicht entdeckt worden, eine höchst bedauerliche Tatsache, die für viele kanadische Genreautoren gilt. Zum Beispiel Louise Penny, deren Romane um den Polizisten Armand Gamache regelmäßig auf den oberen Rängen der New-York-Times-Bestsellerliste stehen, aber jahrelang nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Penny, eher dem anspruchsvollem cosy crime zuzuordnen, gehört ebenso zu Knowles Favoriten wie Ron Corbett, dessen Nature Noir »Preisgegeben« im März 2020 im Polar Verlag erschienen ist. Wer mit Knowles über kanadische Autoren spricht, spürt die Begeisterung, die er für das Genre – und für seine Landsmänner und -frauen – empfindet. Auf seiner langen Empfehlungsliste finden sich auch Sam Wiebe und Dietrich Kalteis; ganz oben allerdings steht John McFetridge, der in den letzten Jahren mit einer Reihe von police procedurals um den Streifenpolizisten Eddie Dougherty ein lebendiges Porträt Montreals in den Siebzigerjahren geschrieben hat.

Die Siebzigerjahre, vor allem die Filme, die damals in den USA gedreht wurden, sind auch ein wichtiger Referenzpunkt für Knowles und Tin Men: »Ich wollte zwar nicht unbedingt den Vibe von Filmen wie ›French Connection‹ aufnehmen«, sagt er, »aber ich bin definitiv von den Filmen der Siebziger beeinflusst und habe viele von ihnen in den vergangenen Jahren wieder gesehen.«

In den Siebzigerjahren wurden Cops im Kino zu emblematischen Figuren, die ihre traditionelle Rolle am Rand verließen und ins Zentrum des Geschehens drängten. Cops, die anders waren als die braven Polizisten früherer Tage. Vielleicht die bekannteste dieser Figuren ist Harry Callahan, besser bekannt als Dirty Harry, wie der gleichnamige Film von Don Siegel aus dem Jahr 1970. Callahan, gespielt von Clint Eastwood, pfeift auf die Regeln, auf die Bürokratie, aber eben auch auf die Menschenrechte. Er ist, ohne Skrupel zu haben, jederzeit bereit, einen Verdächtigen »verschärften Verhörmethoden«, wie man es heute nennt, zu unterwerfen. Wer »Dirty Harry« kennt, wird nicht umhinkommen, die Ähnlichkeiten zwischen Callahan und »Tin Man« Os alias Oz (eine Referenz an L. Frank Baums Kinderbuchklassiker Der Zauberer von Oz) zu bemerken. Allerdings: Wir leben nicht mehr 1970, sondern eben heute. Und alles ist irgendwie härter und fieser geworden in den vergangenen 50 Jahren, auch die Cops.

In der Literatur und im Kino folgten auf Dirty Harry Callahan noch unendlich viele weitere Cops, die nicht mehr nur infrage stellten, wie klar und definiert die Grenze zwischen Gut und Böse war, sondern deren moralischer Kompass im Graubereich völlig durchdrehte, sodass sie zu Grenzgängern wurden. Regeln wurden verletzt, Selbstjustiz wurde zur Normalität, und immer öfter wurde ein Korruptionsprozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf Polizisten die Seiten wechselten, lange, ohne es selbst zu merken. Wenn es dann so weit ist, kommt der Schock der Erkenntnis. So wie bei Os, der von dem russischen Gangster Vlad, dem der Cop die ein oder andere Gefälligkeit getan hat, die Wahrheit ins Gesicht geschleudert bekommt – und natürlich ausrastet.

Schuldgefühle, so sie sich manifestieren, werden durch Geld und Sex und Drogen in Schach gehalten, solange es eben geht. Eines der krassesten Beispiele für diesen kranken Mechanismus ist sicherlich Abel Ferraras Bad Lieutenant, der zwar aus dem Jahr 1992 stammt, aber immer noch diese Sleaziness und diesen kaputten Realismus der Siebziger hat. Harvey Keitel spielt den spiel-, sex- und drogensüchtigen Cop, es war die Rolle seines Lebens. Er sucht Erlösung und findet diese schließlich im Tod. Einen Tod, den er selbst provozierte. Auch wenn Knowles Tin Men nicht als eine Erlösungsgeschichte versteht: Klar ist, dass ein Typ wie Os direkt auf den Tod zusteuert, weil es für ihn keinen Ausweg mehr gibt. Aber es ist sein Kollege Woody, der in gewisser Weise eher ein Wiedergänger von Ferraras Bad Lieutenant ist. Auch er ist zerfressen von Schuldgefühlen, auch wenn er am Tod seiner Frau und seines Kindes keinerlei Verantwortung trägt. Auch er betäubt sich mit Drogen und lebt eine rauschhafte Lüge. Eigentlich ist er ein Scheintoter, der als Polizist gerade noch so funktioniert, aber zunehmend abdriftet.

Wo Os pure Kraft repräsentiert, steht Woody für den klassischen Detektiv, der einen Tatort lesen kann und Fälle mit Intelligenz löst. Diese Fähigkeiten haben ihm den Spitznamen Columbo eingebracht, was zumindest von Os nicht als Kompliment gemeint ist: »Lass die Columbo-Nummer, Wood«, ermahnt er ihn mehr als einmal. Woody wird Os am Ende umbringen, nach einem brutalen Kampf. Der Kopfschuss ist keine gezielte Selbstjustiz, sondern Resultat eines fast slapstickartigen Unfalls, der einem Quentin Tarantino die reine Freude machen dürfte. Anders als Os, der spätestens nach dem Mord an seiner Ex-Geliebten jede Kontrolle und jeden Maßstab verloren hat, kennt Woody noch Grenzen. »Nicht jeder Cop ist dreckig«, weiß er. »Aber die guten schon. Saubere Cops sind in etwa so effektiv wie ein Koch ohne Zunge. Die Gesten stimmen, aber nie schmeckt das Essen richtig.« Woody akzeptiert, dass Cops lügen, betrügen, stehlen und sich täglich mit Drogen vollknallen, aber vorsätzlich töten, das dürfen sie seiner Meinung nach nicht. Eine seltsam verkorkste Moral, aber immerhin noch so etwas wie eine Moral.

Das Duo Os/Woody ist ein typisches Cop-Pärchen, harte, zynische Machotypen, wie wir sie aus zahllosen Filmen und Romanen kennen – wenn auch selten so konsequent an ihr blutiges Ende geführt wie bei Mike Knowles. Was Tin Men aber zu mehr macht als noch einem weiteren blutigen Hardboiled Noir ist der dritte Polizist im Bunde: Dennis ist ein Mann, der sein Leben lang unter dem Schatten seines Cop-Vaters stand, einem prügelnden Säufer, der dennoch bei seinen Kollegen beliebt war. Dennis, trotz einer ordentlichen Verhaftungsquote stets ein Außenseiter geblieben, sucht Erlösung beim Sex mit transsexuellen Prostituierten. Am Anfang kommt er als der Unsympathischste des Trios rüber, aber im Laufe des Romans entwickeln wir so etwas wie mitleidige Sympathie für ihn. Weil wir sehen, wie er sich als Einziger der drei abmüht, das Richtige zu tun, die Grenze zum Bösen nicht permanent zu überschreiten. So ist es nur konsequent, dass es Dennis ist, der den Fall am Ende lösen wird. Dass auch diese Leistung ihm nicht die so sehr erhoffte Anerkennung bringt, sondern aufgrund der blutigen Auseinandersetzung zwischen Woody und Os verpufft, das ist das wahre menschliche Drama dieses kleinen, dreckigen Romans. Und dass am Ende der brutale Mord an einer Polizistin, den Dennis aufklärt, niemanden mehr wirklich interessiert, ist eine fast schon feministische Pointe. Im Hamilton von Tin Men regiert brutaler Machismus, und es wäre hochinteressant zu sehen, ob und wie sich das in einer – laut Knowles durchaus möglichen – Fortsetzung verschieben würde.

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