»Annäherungen an die Realitätstüchtigkeit der Kriminalliteratur«

Zur Geschichte des Polizeiromans

Ein Nachwort von Alf Mayer

©Max Soklov / Adobe Stock

Zwei abgewichste Profis, Future-Cops, Buddy-Cops, Cannibal-Cops, Cops ohne Gewissen, Kindergarten Cops, Undercover-Cops, Robocop, Werwolf-Cop, Kaufhaus-Cop, Killer-Cop, Superbullen, Die total verrückte Highway-Polizei, Men in Black I – IV, Nackte Kanone I – 33⅓, Bad Lieutenant, Bad Boys I – II, Drecksau (Regie: Jon S. Baird, mit James McAvoy, 2013) – das sind die Titel von Polizeifilmen aus den letzten 25 Jahren. Sie können kreuzbrav oder hart sein, subversiv oder unkritisch, anklagend oder gewaltverherrlichend, dumm oder oberflächlich oder ganz großes Theater. Karneval.

Ein wenig wie die Diskussion über Henne und Ei ist dabei, wer zuerst da war oder zuerst am schrillsten krähte – der Polizeiroman oder der Polizeifilm. Beide dürfen längst schon alles. Sie können in Vergangenheit und Zukunft steigen, alle Perversionen und Neurosen der Moderne ausloten, Heldenreisen sein oder Höllentrips, in jedem Genre wildern, die Welt immer wieder neu in den Blick nehmen. Und das alles dank Ed McBain.

Er ist der archimedische Punkt.

»Saubermann« zollt ihm schon gleich auf Seite 23 Referenz. Es ist Ken Bruens erstes Cop-Buch um die Londoner Truppe von Chief Inspector Roberts und seiner dunklen Seite, Detective Sergeant Brant, 1998 zuerst erschienen. Insgesamt sieben Romane wurden es bis 2007, drei davon liegen bereits bei Polar übersetzt vor (»Brant«, »Füchsin«, »Kaliber«).

(Brant:) »Hier, ich habe einen neuen McBain für Sie.« Er warf ein eselsohriges Buch auf den Tisch. Es sah aus wie gekaut, gewaschen und geschlagen. Roberts fasste es nicht an, sagte: »Haben Sie das auf dem Klo gefunden?« »Das ist sein bisher bestes. Keiner kriegt Polizeikrimis so hin wie Ed.«

Polizisten als normale Menschen zu zeigen – die dann wie Roberts und Brant bis ins schwärzeste Schwarz morphen –, das war über Jahrzehnte etwas Neues, was Jüngere sich bei der heutigen Dauerpräsenz von Cops auf dem Bildschirm kaum mehr vorstellen können. An der Popularität und Singularität einer Serie wie »Luther« lässt sich ablesen, wie ausgeprägt die Polizeifrömmigkeit in der Fernseh- und Serienwelt immer noch ist. Unterm Strich hat sie eher zugenommen.

1975 schrieb Wolf Donner, Filmkritiker der »Zeit« und dann Direktor der Berlinale, in einer Kritik:

»Alles ist total kaputt und verrottet, ein moralischer Schutthaufen. Ein Desaster, in dem die Polizei als Müllabfuhr funktioniert. Die Cops bewegen sich in Slums, tristen Vorstädten, finsteren Bars, Mafia-Villen und Unterwelt-Kaschemmen, unter jugendlichen Gammlern, Fixern, Huren, Außenseitern. Die Verbrecher sind vorzugsweise Schwarze, Schwule, Perverse, Zuhälter, Stricher, Dekadente – Typen, die fies genug sind, um uns von unserer Gleichgültigkeit zu dispensieren, wenn sie von den Hütern des Gesetzes zusammengeschlagen oder abgeknallt werden. Mitleid verdienen sie nicht.«

Selbst im Jahr 2021 ist jemand wie Brant immer noch eine Krimifigur, die auffällt und nicht umsonst in der Reihe »Dark Places« erscheint. Noch bevor er seinen Ex-Polizisten und Privatdetektiv Jack Taylor erfand (der erste Roman »Jack Taylor fliegt raus« (The Guards) erschien 2001), betrat Ken Bruen mit seinem Höllen-Duo R & B den großen Karneval.

»R & B wurden sie genannt. Wenn Chief Inspector Roberts den Rhythmus gab, dann war Brant der dunkelste Blues.«

So lautet der erste Satz von »Saubermann«. Ein Romananfang wie eine eingetretene Tür. Aber es gilt festzuhalten: Viele uns heute vertraute Autoren begannen erst lange, nachdem Ed McBain 1956 diese Tür überhaupt aufgestoßen hatte. Bereits 23 Romane von Ed McBains 87. Polizeirevier lagen vor, als Joseph Wambaugh mit seinem ersten Buch in Erscheinung trat. 36 McBain-Romane waren es schon, bis James Ellroy im Jahr 1984 mit Lloyd Hopkins begann. Derek Raymonds erster Factory-Roman, »Er starb mit offenen Augen«, aus dem gleichen Jahr war um vieles schwärzer und härter als Ellroy. Und ebenfalls 1984 gelang Charles Willeford nach langen Jahren der Obskurität der Durchbruch mit dem Cop-Roman »Miami Blues«. Eigentlich hatte er als Titel »Kiss Your Ass Good-Bye« vorgesehen.

Michael Connelly wunderte sich in der Rückschau: »Als mein erstes Buch herauskam, wurde es in der ersten Kritik, die ich bekam, als ›Polizeiroman‹ (Police Procedural) klassifiziert. Diese Bezeichnung kannte ich nicht. Ich dachte, ich hätte einfach ein Buch geschrieben, einen Kriminalroman, wenn es denn eine Einordnung brauchte. Sicher war es über Cops und Räuber und wie die Polizisten sich anstrengen, die Gangster zu finden, aber ich hatte nie realisiert, dass ich mich auf ein Subgenre zubewegte. Bald lernte ich, dass Kriminalliteratur eine Welt von Genres und Subgenres und sogar Sub-Subgenres ist.« In Ed McBains »Romanze« protestiert Fat Ollie, als jemand ein Etikett auf das Buch kleben will, das er gerade schreibt: »Kein Procedural. Niemals Procedurals. Und auch nie Krimis. Es sind einfach Romane über Cops. Die Männer und Frauen in Blau und Zivil, ihre Frauen, Freundinnen, Freunde, Geliebte, Kinder, ihre Erkältungen, Magenschmerzen, Menstruationszyklen. Romane.«

Vor Ed McBain und seinen Polizisten Steve Carella, Meyer Meyer (der bei Ken Bruen als Hund auftaucht), Bert Kling, Arthur Brown, Cotton Hawes, Hal Willis, Eileen Burke, Andy Parker, Ollie Weeks und all den anderen – über dreißig Figuren sind es insgesamt über die Jahre – gab es eher nur einzelne Cops in der Kriminalliteratur.

Lange vor Steve Carella war Vidocq. Die Memoiren dieses französischen Ermittlungsbeamten, der ein Berufsverbrecher gewesen war, wurden 1828/29 veröffentlicht, lesen sich spannend, sind aber kein Kriminalroman. Vautrin in Honoré de Balzacs Romanzyklus »Die menschliche Komödie« (1829 – 1850), war von Vidocq inspiriert, verwendet seine Methoden, wird in »Glanz und Elend der Kurtisanen« zum Chef der Pariser Sicherheitspolizei.

Einer der ersten Polizisten trat 1852 als Nebenfigur in Charles Dickens’ »Bleak House« auf. Wie ein Jäger durch den Wald bewegt sich dort Inspektor Bucket in der Londoner Unterwelt. Wilkie Collins Briefroman »Der Mondstein« (1868) hatte einen Sergeant Cuff, war aber definitiv kein Polizeiroman. Im gleichen Jahr operierte, ebenfalls noch in einer Nebenrolle, Émile Gaboriaus »Monsieur Lecoq«. Der Einfall, im ersten Teil des Buches das Verbrechen und im zweiten dann die Aufklärung zu zeigen, fand viele Nachahmer, etwa Conan Doyle. Auch in vielen McBain-Romanen tauchen die Cops erst auf Seite 30 oder 40 auf.

1878 machte Anna Katharine Green den New Yorker Polizisten Ebenezer Grye zum Detektiv in »Mord in der Bibliothek«, sie war eine Mitbegründerin des amerikanischen Kriminalromans. Der einem tatsächlichen, chinesisch-hawaiischen Polizeiermittler nachgebildete reisefreudige Polizist Charlie Chan, erfunden von Earl Derr Biggers, wurde ab 1923 sehr populär und dann zu einer Filmfigur. Zehn Jahre später trat die Phantasiefigur Dick Tracy auf den Plan. Das Raubein Dick wechselte schon im ersten Jahr der Serie zur Polizei, sein Ziel war es, das Verbrechen in Chicago zu bekämpfen, teils mit futuristischen Hilfsmitteln wie einem Funkgerät mit Videofunktionen am Handgelenk oder futuristischer Flugmaschinen.

Einer der wenigen, die es in Sachen Produktivität mit Ed McBain/ Evan Hunter aufnehmen konnten, ja ihn in Sachen Cop-Romane übertreffen, war Georges Simenon, der als junger Journalist Polizeiermittlungen begleitet hatte. Sein Inspektor Maigret trat zwischen 1931 und 1972 in 75 Romanen und 28 Kurzgeschichten auf, zuerst in »Pietr le Letton«.

Seit 1923 mit Polizeigeschichten aktiv war das britische Autorenpaar Cole. Die beiden sind schuld daran, dass aus dem Widerstandskämpfer und Emigranten Karl Anders der Verleger der Krähenbücher wurde, mit denen Hammett, Chandler und Ambler nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland kamen. Karl Anders studierte während des Krieges in Oxford, wurde von Margaret Cole zum Tee eingeladen, fand einen Stapel gerade erschienener Cole-Kriminalromane vor und eine unbefangene Diskussionsrunde, in der über solche Literatur debattiert wurde. Anders, der sein Exemplar abgelehnt hatte (»I don’t read crime novels!«), wurde in diesem linken Akademikerhaushalt zum Kriminalroman bekehrt. G.D.H. Cole war ein libertärer Sozialist, Polittheoretiker, Ökonom, Historiker, Schriftsteller, Mitglied der Fabian Society. Zusammen mit seiner Frau Margaret schrieb er viele Detektivgeschichten mit den Polizisten Wilson und Blatchington. Seine Frau war eine geborene Postgate, ihr ebenfalls interessanter Bruder Raymond schrieb 1940 »Das Urteil der Zwölf«. Von Cole ist der Satz überliefert: »Hitler hat mich vom Pazifismus kuriert.«

In der goldenen Zeit des Kriminalromans aktiv, kann der Ire Freeman Wills Crofts (1879 –1957) mit seiner Aufmerksamkeit für Details und die Mechanik der Detektion als Vorläufer der Ermittlungsprozedur, des »Police Procedurals” gelten. Chandler nannte ihn in seiner »Simplen Kunst des Mordes« den »solidesten Baumeister von allen, wenn er nicht zu überraffiniert wird«. Crofts hatte ein Faible für ingeniöse falsche Alibis, detaillierte Hintergründe seiner Personen, clevere Geldgeschäfte seiner Kriminellen und mosaikhaft zusammengetragene Indizien. Sein Inspector Joseph French, der größte Polizeidetektiv des »Golden Age«, hatte zwischen 1924 und 1957 viele Auftritte. Dieser einfache, no-nonsens Cop aus der Mittelschicht war das erste Gegenprogramm zu den exzentrischen Amateurdetektiven, die den englischen Kriminalroman prägten, er stand im Kontrast zu solch glamourösen Edelschnüfflern wie Dorothy L. Sayers Lord Peter Wimsey, Margery Allinghams Albert Campion and Ngaio Marshs Roderick Alleyn, der zwar ein Cop ist, aber ziemlich geziert. 1936 warb Crofts amerikanischer Verlag damit, dass der Autor seinen Inspector French »bewusst als Gegensatz zum theatralischen und exzentrischen Spürhund angelegt« habe und »ein Vorbild an Gründlichkeit, Beharrlichkeit und Arbeitswillen« sei. Eine Figur der Mittelschicht also. Es schockte damals noch, wenn French etwa in »Mystery in the Channel« erklärte: »Verdammich auch, jetzt könnt ich eine Flasche Bier brauchen.« Der Mythos von Scotland Yard als investigative Maschine, der kein Verbrecher entgeht, hat weit mehr mit Freeman Wills Crofts zu tun als mit Richard Horatio Edgar Wallace, dem Lieblingsautor Konrad Adenauers und Stofflieferanten zwar kultiger, aber ultrabiederer Polizeifilme.

Als »Humdrums« bezeichnete Julian Symons 1972 in seiner Studie »Am Anfang war der Mord. Eine Geschichte des Kriminalromans« solche altbackenen Polizeiromane.

»Snobbery with Violence« (etwa: Aufgeblasenes mit Gewalt) betitelte Colin Watson 1987 seine Studie der britischen Kriminalliteratur nicht von ungefähr.

»Was würde man sagen, wenn man einen Arzt heranbilden und auf die Menschheit loslassen würde, ohne ihm einen Kranken oder das Innere eines Menschen gezeigt zu haben, wenn man ihm viel erzählt, ihm aber nichts davon gezeigt hätte, wenn ihm Medikamente und ihre Wirkung ebenso wenig vorgeführt worden wären als alle Erscheinungen am gesunden und kranken Organismus – kurz wenn man ihn so unterrichtet hätte wie man einen Juristen erzieht, mit Büchern und Vorlesungen. Der Jurist absolviert seine Studien, macht seine Prüfungen und tritt an die praktische Tätigkeit, ohne einen Verbrecher oder das gesehen zu haben, was der Verbrecher macht und tut. Das Jusstudium muss durch eine realwissenschaftliche Lehre vom Verbrechen und von ‚dem‘ Verbrecher ergänzt werden.«

Diese Forderung erhob im Jahr 1900 der Untersuchungsrichter und Strafrechtler Hans Gross (1847 – 1915), 18 Jahre lang kämpfte er um die Etablierung der Kriminologie als Wissenschaft. 1894 erhielt er vom Landesverteidigungsministerium den Auftrag, Gendarmerieoffiziere auszubilden. Daraus entstand das »Lehrbuch für den Ausforschungsdienst der k.k. Gendarmerie« – das weltweit erste Handbuch für die Polizeiermittlung. 1901 erschien seine »Enzyklopädie der Kriminalistik« und nach langen Mühen gelang es 1912, das »K.k. Kriminalistische Institut an der Universität Graz« zu gründen. Es war das weltweit erste Institut solcher Art und wurde als die »Grazer kriminologische Schule« auf der ganzen Welt bekannt. Einer der Schüler von Gross, noch in Prag, war übrigens Franz Kafka, der sich dann in »Das Schloss« oder »In der Strafkolonie« mit juristischen Themenbereichen auseinandersetzte.

Helen Reilly befasste sich gründlich mit den Werken von Gross und recherchierte auch bei der New Yorker Mordkommission, ehe sie ab 1930 einige Bücher über einen Inspektor namens Christopher McKee schrieb. Sie gehörten zu den ersten, die echte Polizeiarbeit ausführlich darstellen, etwa »McKee of Centre Street« (1934). Ihr Roman »The File on Rufus Ray« (1937) enthielt Faksimiles von Knöpfen, Fotografien, Asche und anderen Beweisstücken. Auch McBain spickt seine 87er-Romane öfter mit Dokumenten und Zeichnungen, in den deutschen Taschenbuchausgaben aber wurden sie öfter unterschlagen.

Polizeiromane, in denen die Ermittlungsarbeit der Polizei selbst zum Thema wird und teilweise aus der Cop-Perspektive erzählt wird, waren noch Ausnahme, als 1942 ein Engländer einstieg. John Creasey (1908 – 1973) war der vielleicht produktivste Krimi-, Spionage- und Sciene-fiction-Autor des letzten Jahrhunderts. Unter 28 Pseudonymen schrieb er mehr als 600 Romane, darunter als Jeremy York von 1942 bis 1948 eine elfteilige Serie mit Superintendent Folly. 1938 erfand er »The Toff« (britischer Slang für einen Adligen), ließ den Ehrenwerten Richard Rollison als Amateurdetektiv in 59 Büchern ermitteln. Sein Nachbar, ein pensionierter Detektiv von Scotland Yard, forderte ihn auf, »doch über uns zu schreiben, wie wir sind«. Das Resultat war 1942 »Inspektor West muss handeln«, der erste von mehr als 40 Romanen mit Chief Inspector Roger West von der London Metropolitan Police. Sie waren unüblich realistisch, die Plots aber oft überaus melodramatisch. Um legale Probleme zu umschiffen, gab es einen amateurdetektivischen Freund, der auch krumme Sachen machen konnte. Solch ein Duo wurde beliebt in der Cop-Literatur.

In den 1930ern erfand Creasy als hardboiled-Figur einen FBI-Agenten namens Lemmy Caution, widmete ihm zehn Romane. Angespornt vom Fernseherfolg der US-Serie »Dragnet« und der britischen Serie »Fabian of the Yard«, begann er 1955 als J. J. Marric eine »down to earth«-Reihe, in der Police Commander George Gideon von Scotland Yard damit beschäftigt ist, mehrere nicht miteinander zusammenhängende Ermittlungen seiner Untergebenen zu koordinieren. So entsteht darin ein komplexes Bild von Polizeiarbeit. Es wurden 21 Romane, der populärste, »Gideon of Scotland Yard«, wurde zur Basis für die Fernsehserie »Gideon’s Way« und kam von John Ford verfilmt ins Kino. »Das erste Feuer« gewann 1961 einen Edgar. Die Romanreihe half dabei, eine aus mehreren autonomen Strängen bestehende Erzähllinie im Kriminalroman zu etablieren.

Lawrence Treat legte zwischen 1945 und 1956 acht Polizeiromane vor, in denen die Kriminalfälle von einem Cop namens Mitch Taylor und dem Labortechniker Jub Freeman gelöst wurden. Dieser sagt: »Ich will den Schuften zeigen, was das Labor kann.« Wie Joe Friday und Frank Smith in »Dragnet« arbeiteten sie mit Beschattungen, Zeugenbefragung und Vernehmen von Verdächtigen und eben mit dem Polizeilabor. Der Rechtsanwalt Treat (eigentlich Lawrence Arthur Goldstone) etablierte 1940 eine Krimiserie mit dem Kriminologen Carl Wayward. Auch er hatte seinen Hans Gross gelesen. 1945 war er einer der Begründer der Mystery Writers of America. Treat sortierte seine Titel nach dem Alphabet, etwa »D as in Dead« (1941). Er dementierte zwar, dass er mit »V as in Victim« (1945) das »Police Procedural«, wie wir es heute kennen, etablieren wollte. Für ihn war es nur eine Geschichte. Aber die Details sind richtig – und vor allem: Der Ton stimmt. Er hatte mit Polizisten in Kneipen herumgehangen, Zeit auf der Wache verbracht. Seine Cops haben ihre Sprache, Sprüche, Witze und Geschichten, sie teilen eine gemeinsame berufliche Auffassung, es ist ein Job, sie mögen den Papierkram nicht, und ihre Büros sind schäbig. Sie sind Polizisten. Für das Ende freilich vertraute er nach wie vor auf das Kaninchen aus dem Zylinder der goldenen alten Zeit.

Als erster Zivilist erhielt 1948 der renommierte Autor und spätere Pulitzer-Preisträger MacKinlay Kantor vom New Yorker Polizeichef die unbeschränkte Erlaubnis, seine Beamten zu begleiten. Kantor wählte sich das 23. Revier, zu dem die reichen Häuser der oberen Park Avenue ebenso gehörten wie die Slums von East Harlem, war 15 Monate vor Ort. Das Resultat war der Roman »Signal Thirty-Two« (1950), der von zwei ungleichen Polizisten, von ihren Kollegen, von Arbeit und Routine und ihrem Privatleben erzählt, teils in ausufernden inneren Monologen. Probleme, Sprache und Transgressionen erscheinen heute harmlos. Es gibt Gesetzesübertretungen, aber keinen Mord, einfach das Bemühen um Realität.

Ebenfalls mit dem ersten richtigen »Police Procedural« in Verbindung gebracht wird Hillary Waugh, besonders mit »Last Seen Wearing« von 1952 (dt. »Eine perfekte Indizienkette«). Eine Studentin verschwindet, der Fall steht mit einem weiteren Mord in Verbindung. Der Fokus liegt aber nur halb auf der Polizei, die Dialoge sind ellenlang und ermüdend, die Geschichte gefangen in den Konventionen der Detektiverzählung. Und: Es ist eine verschlafene Kleinstadt. Stockford, Connecticut, mit 8.000 Einwohnern.

Erst allmählich kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Gehirnakrobatik der Meisterdetektive aus der Mode. Es gab einen Bedarf nach Wirklichkeit, nach weniger Glamour. Die Wochenschauen der Kriegszeit, die billig und schnell produzierten, manchmal nur hin getuschten Geschichten des Film Noir, die Aktualität des Radios und des aufkommenden Fernsehens machten das Reportagehafte und Semidokumentarische attraktiv. Nach all den großen Worten und dem Pathos des Krieges gab es einen Hunger nach kleineren, »echten« Dingen. Die Behandlung echter Kriminalfälle, an authentischen Schauplätzen gedrehte Filme trafen einen Nerv. So entstanden Filme wie »The Naked City« (1948), »The Street with No Name« (1948), »T-Men« (1947, das Drehbuch übrigens von einer Frau: der heute zu Unrecht vergessen Virginia Kellogg) oder »Border Incident« (1949). Polizei und FBI hatten ein Interesse, ihre Arbeit dargestellt zu finden, wirkten mit, trafen sich mit dem Bedürfnis nach Normalität und Ordnung. Cops waren oft Kriegsveteranen – das ist eine eigene, immer noch viel zu wenig beachtete Geschichte –, sie hatten »alles« gesehen. Sie konnten es aufnehmen mit einer aus den Fugen geraten(d)en Welt. Na ja, meistens.

»Hell is a City« heiß der vierte Cop-Roman des ehemaligen englischen Polizeibeamten Maurice Procter, der deutsche Titel verharmloste: »Irgendwo in dieser Stadt«. Das Bild der Hölle als Stadt taucht in vielen Amerikaberichten namhafter europäischer Schriftsteller der Nachkriegszeit auf, man denke etwa an »Rattenfalle Amerika« von Jacques Lanzmann. Procter schrieb 1951 mit »The Chief Inspector’s Statement« den vermutlich ersten richtigen Polizeiroman (deutscher Titel hier: »Mord im Kuckuckswald«). Dies nicht nur, weil er selbst Polizist war, sondern weil er den Ermittler durchgängig in seinem beruflichen und privaten Leben begleitete. Vor einem Cop, so zeigt das Buch, hat jeder etwas zu verbergen, muss man immer skeptisch und am Ball sein, über Erfahrung verfügen und Informationen verknüpfen können. Das Buch besaß eine weitere Qualität: Die Charaktere hatten menschliche Seiten und Schwächen. Wie Lawrence Treat bewies Proctor bereits eine Nase für das Grimmige und das Komische des Berufes.

Mit zu den Paten des Polizeiromans gehört auch das 1949 auf die Broadwaybühne gebrachte Stück »Detective Story« des Pulitzer-Preisträgers Sidney Kingsley, 1951 von William Wyler mit Kirk Douglas als Film Noir im Reportagestil verfilmt. Kingsley war zuvor mit »Men in White« über eine Krankenhaus-Crew erfolgreich gewesen, nun destillierte er einen sorgsam recherchierten normalen Arbeitstag in einer New Yorker Polizeistation zu einem Alltagsdrama, zeigt eine fremde, nicht zugängliche Arbeitswelt auf der Bühne. Das Stück wurde als »Polizeirevier 21« auch auf ost- und westdeutschen Bühnen gezeigt. Theo Mezger verfilmte es 1963 mit Heinz Bennent und Konrad Georg, es wurde einer der achtbarsten deutschen Polizeifilme.

Procter war nicht der erste und letzte Cop, der zum Romanautor wurde. Richard Edward Enright gehörte dazu, New Yorks Polizeichef von 1918 bis 1925, dessen Detektivgeschichte »Inside the Net« 1924 verfilmt wurde. Sein erster Roman »Vultures of the Dark« war geschäftlich ein Erfolg, die Cop-Geschichte darin ging jedoch in einer Romanze unter. Nr. 2, »The Borrowed Shield«, verkaufte sich schlechter, kurzzeitig gab er ein Pulpmagazin namens »Police Stories« heraus. Einer seiner Aufsätze verlangte:

»Jeder sollte mit seinen Fingerabdrücken registriert werden!« Eine seiner Redewendungen als Polizeichef hielt sich lange: »Große Fälle, große Probleme. Kleine Fälle, kleine Probleme. Keine Fälle, keine Probleme.«

1933 gab es »P.C. Richardson’s First Case«, verfasst von Sir Basil Thomson, ehemals Assistant Commissioner of Scotland Yard, sowie die Story-Sammlung »Policeman’s Lot« des früheren Buckinghamshire High Sheriff und Friedensrichters Henry Wade. Der, ein echter Baronett des Namens Henry Lancelot Aubrey-Fletcher ließ seinen in Oxford erzogenen, standesbewussten Inspector Poole in der englischen Provinz ermitteln. Oft schauderte es Poole vor dem Horror der Verbrechen niederer Stände. Klarer Fall von »Humdrum«.

Ein Jahr vor McBains Türöffner »Cop Hater« (1956, dt. als »Blutiger Asphalt«) begann der versierte Pulpwriter Jonathan Craig eine hartgesottene Polizeiserie mit Pete Selby vom 6. Revier in Manhattan. Auf »The Dead Darling« (1955) folgten »Morgue for Venus« (1957), »Case of the Cold Coquette«, »The Case of the Nervous Nude«, »Case of the Village Tramp« und weitere aufs Schlüpfrige zielende Titel. Inhaltlich konnte er mit McBain nicht mithalten, was die Storyvielfalt, die Anzahl der Charaktere und den innovativen Gebrauch dokumentarischen Materials anging. Er war lesbar, schnell und hart, aber eben nicht gut genug.

Aus dem Jahr 1964 stammt Dorothy Uhnaks autobiographischer Roman »Policewoman«, im Untertitel »A young woman’s initiation into the realities of justice«. Die New Yorkerin ist damit eine Begründerin des »Police Procedural« aus weiblicher Sicht, ein damals aufkommendes Subgenre. »A strange world, a terrible world, a familiar world« oder »I have grown hard, and my heart has turned to stone« heißen zwei der Kapitelüberschriften. Lillian O’Donell dann führte ihre Heldin Norah Mulcahaney vom NYPD ab 1972 durch eine Romanze, eine nicht unproblematische, aber gute Polizistenehe und nach acht Büchern in das Witwentum, als ihr Ehemann und Kollege im Dienst getötet wird.

»Als einzelne waren sie sehr verschieden, aber sie alle hatten Gemeinsamkeiten – eine unglaubliche Hartnäckigkeit, unendliche Geduld und eine unbegrenzte Belastbarkeit mit harter und stumpfsinniger Arbeit. Für sie gab es keine gute Spur oder eine schlechte. Eine Spur war eine Spur war eine Spur, etwas, das es bis ans Ende zu verfolgen galt, ob hoffnungslos oder nicht.«

So hieß es 1969 auf dem Schutzumschlag von »The Last Doorbell« (dt. »Hinter der letzten Tür«). Autor dieses Cop-Romans ist der heute vergessene Joseph Harrington, ein ehemaliger Zeitungsreporter, der drei Kriminalromane über die Cops von New York schrieb. Der Klappentext bringt auf den Punkt, was »Police Procedural« bedeutet. Mehr als 25 Jahre ist es her, dass jemand zuletzt einen größeren Versuch unternahm, sich einen Überblick über den Polizeiroman zu verschaffen. Die Bibliothekarin Jo Ann Vicarel listete 1993 auf über 400 Seiten insgesamt 1.115 Romane von 271 Autoren auf. Das war, bevor die Welt der Serien mit Cops explodierte.

Der Filmemacher Dominik Graf sagt: »Ich fühle mich angesichts des Gefangenseins der Polizistenfiguren im Spinnennetz von Recht und Gesetz, in Hierarchien, in Abhängigkeiten, in verqueren Ego-Sehnsüchten doch meistens zu Hause. Ich finde, Polizisten haben die Chance, noch wesentlich ambivalentere Figuren zu sein als Gangster.«

Ken Bruen zeigt, warum das so ist.

Zitierte Literatur:

Michael Connelly (Hg): The Blue Religion. New Stories About Cops, Criminals, And the Chase. New York, 2008. Zitat aus dem Vorwort.
Richard E. Enright: Everybody Should Be Fingerprinted, Scientific American 133, Oktober 1925.
Jo Ann Vicarel: A Reader’s Guide to the Police Procedural, G.K. Hall & Co, New York 1995