Nachbemerkungen

von James Anderson
©Max Soklov / Adobe Stock

David Heska Wanbli Weidens Debütroman Winter Counts hat sich schon jetzt einen festen Platz auf der sehr kurzen Liste von Mystery-Thrillern gesichert, die Gesellschaftskommentar, unmittelbare und unbestechliche Glaubwürdigkeit und eine brillante, fesselnd erzählte Geschichte in sich vereinen.

Zuerst im August 2020 bei HarperCollins in Nordamerika erschienen, fand der Roman mit seiner eindringlichen Beschreibung des heutigen Lebens in der Rosebud Reservation in South Dakota sofort Anklang bei Kritikern wie Publikum; dabei verweigert sich die Handlung von Winter Counts beharrlich einer schnellen, griffigen Zusammenfassung. Alle Versuche, Winter Counts nur als Kriminalroman zu beschreiben oder ihn gar in eine Genreschublade zu stecken, laufen Gefahr, seine erzählerische Tiefe, Intensität und Komplexität herunterzuspielen oder sogar zu übersehen – und letztlich auch das sich erst allmählich herausbildende Mitfühlen mit all den unvergesslichen und nur allzu menschlichen Charakteren, insbesondere dem Protagonisten Virgil Wounded Horse.

Wenn ein Roman im Wesentlichen dazu dient, Informationen aufzubewahren und abzurufen, wie die Pulitzer-Preisträgerin Jane Smiley meinte, dann liefert David Heska Wanbli Weiden davon gewaltige Mengen, und dieses große Wissen – über Personen, Geschichte, Kultur und Volksgruppen – ist in eine komplexe Geschichte eingewoben, die nur auf den ersten Blick recht geradlinig zu sein scheint. Dass Weiden so viele Informationen präsentieren und zugleich temporeich erzählen kann, ist vermutlich die größte Qualität des Romans und der eigentliche Grund für seinen Erfolg.

Weiden erspart seinen Leserinnen und Lesern alles, was man als Schulmeisterei auslegen könnte. Alle historischen und kulturellen Informationen werden von einer nüchternen Erzählerstimme in der ersten Person präsentiert, die sich am Ort des Romangeschehens befindet und niemals aufdringlich oder anklagend wirkt, und die trotz aller Informationsvermittlung weder Handlung noch Charaktere überlagert. Auf subtile Weise führt Weiden seine Leserschaft in einer Geschichte, die weder zum Viktimisieren noch zu Mitleid einlädt, sondern allmählich echtes Mitgefühl und Respekt für Virgil und die Native Americans entstehen lässt, zu deren Gemeinschaft sowohl der Autor wie sein Protagonist gehören. Durch ein persönliches Eintauchen in die Geschichte, eine Art literarischer Osmose nehmen die Leserinnen und Leser nicht nur passiv, sondern aktiv Anteil am Erzählten.

Trotz seines Erscheinens nur wenige Monate vor dem Corona-Lockdown mit der Schließung von Buchläden, Lieferschwierigkeiten und medialer Aufmerksamkeit fast nur noch für das unsägliche Virus wurde Winter Counts von fast jedem nordamerikanischen Rezensionsorgan recht ausführlich und positiv besprochen. Zu dieser illustren Schar zählen die Washington Post, New York Times Book Review, USA Today, Los Angeles Times, San Francisco Chronicle, Minneapolis Star Tribune, Kirkus, Publishers Weekly, Booklist, Library Journal und viele mehr. Jeder Artikel preist Winter Counts, und beinahe jeder betont seine bewegende thematische und kulturelle Komplexität, Vielschichtigkeit und emotionale Dichte, verbunden mit geradezu meisterlichem Erzählen und der klaren, verständlichen Vergegenwärtigung eines konkreten Ortes.

Es war daher kaum überraschend, dass Winter Counts mit dem Anthony Award, dem Barry Award und dem Thriller Award ausgezeichnet wurde und auf der Shortlist des Edgar Award der Mystery Writers of America stand. Die Filmrechte wurden ebenfalls schon erworben. Übersetzungen in mehrere Sprachen sind in Arbeit oder bereits erfolgt. All das ist auch für die Leserinnen und Leser erfreulich, denn der Erfolg lässt vermuten, dass sich Winter Counts ohne längere Pause zu der erhofften Reihe entwickelt wird. Dann kann ein weltweites Lesepublikum immer wieder zu Virgil Wounded Horse und in die Rosebud Reservation zurückkehren.

Übersetzung: Sven Koch

»Die Welt des Virgil Wounded Horse«

von Thomas Jeier
©Max Soklov / Adobe Stock

Als »Native American Renaissance« wurde die zeitgenössische Literatur indigener Autorinnen und Autoren wie James Welch, Louise Erdrich, Sherman Joseph Alexie, Jr., Marcie Rendon und Tommy Orange bekannt, die sich nicht scheuten, in ihren Romanen ein ungeschminktes Bild der düsteren Wirklichkeit in den Reservationen zu zeichnen und die Indianer, wie sie von den meisten immer noch genannt werden, in die Realität zurückholten. Vergessen die mythische Welt eines Winnetou und die unzähligen Romane und Filme, in denen die Indianer entweder als blutrünstige Krieger oder edle Wilde auftraten und ein verzerrtes Geschichtsbild lieferten, das in den Köpfen vieler bis heute Bestand hat. Natürlich kann man die Eroberung des amerikanischen Westens auch als eines der kühnsten Abenteuer der Menschheit verstehen, doch sollte man dabei nicht vergessen, dass die angeblich von Gott gewollte Wanderung nach Westen auch ein Akt beispielloser Gewalt war.

»Ich glaube nicht, dass wir falsch gehandelt haben, als wir den Indianern das Land wegnahmen. Es gab tausende von Leuten, die neues Land brauchten, und die Indianer waren so selbstsüchtig, es nur für sich behalten zu wollen«, sagte der amerikanische Westernstar John Wayne einmal. Ähnlich dachten auch US-Armee und Siedler, die in einem beispiellosen Völkermord ungefähr neunzig Prozent aller damals lebenden Indianer getötet haben sollen. Mit Waffengewalt, aber hauptsächlich durch die Einschleppung oder absichtlich verbreiteter Krankheiten wie den Pocken und Tuberkulose. Die Gier nach neuem Land, der Bau der Eisenbahn und reichhaltige Goldfunde in Colorado und Kalifornien beschleunigten die Landnahme und zwangen die Armee bestehende Verträge mit den Indianern sofort wieder zu brechen und die Besiedlungsgrenze immer weiter nach Westen zu treiben – from sea to shining sea.

Nach ihrer Unterwerfung wurden die überlebenden Indianer in Reservate abgedrängt, »reservierte Gebiete«, in denen sich die Stämme angeblich als souveräne Nationen verwirklichen sollten. Die ersten »Reservations« entstanden bereits 1786, aber erst die »Indian Appropiation Act« (1851) legte das Schicksal der Indianer vollkommen in amerikanische Hände, indem es die amerikanische Regierung befähigte, die Jagdgründe eines Stammes nach eigenem Gutdünken aufzuteilen und ihnen den unfruchtbarsten und abgelegensten Teil ihres Landes als Reservat zuzuweisen. Selbst mit Pferden und Waffen wäre es ihnen dort nicht möglich gewesen, etwas Essbares zu jagen. Die Büffel waren längst verschwunden und das Wild hielt sich in fruchtbareren Gegenden auf. Ebenso vergeblich versuchten sich viele Indianer mit Ackerbau und Viehzucht, auf dem trockenen Land gediehen nicht mal Grashalme. Die einstigen Jäger und Sammler wurden abhängig von den Lebensmittelrationen und dem Wohlwollen der amerikanischen Regierung in Washington.

Wie katastrophal die Situation noch heute in den Reservaten ist, schildert David Heska Wanbli Weiden, ein eingeschriebenes Mitglied der Sicangu Lakota, der in der Rosebud Reservation seines Volkes in South Dakota aufwuchs und die Verhältnisse im »Indian Country« genau kennt, in seinem Roman »Winter Counts«. Um seinen vierzehnjährigen Neffen vor den Killern eines Drogenkartells zu retten, legt sich Virgil Wounded Horse mit der korrupten Stammesregierung und den Killern eines mächtigen Drogenkartells an. Kein Produkt einer ausufernden Fantasie, sondern dicht an der Wahrheit. War im letzten Jahrhundert noch der Alkohol das Hauptproblem für die hohe Verbrechensrate in den Reservaten, sind inzwischen Drogen wie Heroin und Crystal Meth für über die Hälfte aller Verbrechen in den Reservaten verantwortlich. Die Dealer mexikanischer Drogenkartelle versorgen die Bevölkerung mit den Drogen, für die meisten der scheinbar einzige Ausweg aus ihrer Misere. Unter dem Einfluss vor allem von Crystal Meth, aber auch Opioden in verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln geschieht die Mehrzahl der Verbrechen, und die Aufklärung versandet zu oft in den Rechtsstreitigkeiten zwischen Drugstore-Konzernen wie CVS und Walmart und den Behörden, die es nicht schaffen, sich über die zuständige Gerichtsbarkeit zu einigen.

Die Welt, in der sich Virgil Wounded Horse bewegt, ist düster, aber real. Über 80 Prozent der Bewohner der Rosebud Reservation sind arbeitslos, über siebzig Prozent von Alkohol oder Drogen abhängig, die Selbstmordrate liegt 400 Prozent über dem Landesdurchschnitt, zwei von drei Bewohnern leiden unter Diabetes. Die Verbrechensrate liegt weit über dem Durchschnitt. Dass es überhaupt eines »Vigilanten« wie Virgil Wounded Horse bedarf, um ein Verbrechen aufzuklären, liegt auch an den Behörden der Bundesregierung, die kein Interesse daran zu haben scheinen, die Bevölkerung in den Reservaten zu beschützen. Als »Bürger zweiter Klasse« kämpfen die Indianer immer noch um Anerkennung. Anti-Sucht-Programme schaffen kaum Abhilfe, nur eine bessere Ausbildung, mehr Stellenangebote und staatliche Hilfe könnten auf Dauer helfen. »Aber es ist nicht damit getan, dass sich der Präsident eine Federhaube aufsetzt und mit unseren Häuptlingen posiert«, bringt es Jenny Parker, eine Cheyenne-Indianerin, auf den Punkt. »Es müssen Hilfsprogramme her, die wirklich greifen! Leider hat sich in dieser Hinsicht kaum etwas geändert. Indianer wählen nicht. Deshalb will niemand was wissen von uns.«

Die Gründe für Alkohol- und Drogensucht sind vielschichtig. Angeführt werden genetisch-biologische Merkmale bei Indianern, die eine größere Wirkung von Alkohol hervorrufen, die fatale wirtschaftliche Lage in den Reservaten und die mangelnde Perspektive und Hoffnungslosigkeit in vielen Familien. Neun von zehn Notrufen haben mit Alkohol zu tun, die ebenfalls viel zu häufig gemeldete häusliche Gewalt ist eine direkte Folge des Alkoholmissbrauchs. »Driving under the influence« (DUI), das Autofahren unter dem Einfluss von Alkohol, gehört zu den häufigsten Vergehen von Jugendlichen.

Eine vollständige Assimilierung der indigenen Bevölkerung, die Zerstörung der Stammesstruktur und ein Verbot von Kulthandlungen wie dem Sonnentanz und dem Geistertanz, sollte der General Allotment Act (»Landaufteilungsgesetz«) einleiten, das am 8. Februar 1887 in Kraft trat. Die Indianer sollten erstmals als Individuen und nicht mehr als Stammesgemeinschaft angesprochen werden, die Reservate in winzige Privatparzellen aufgeteilt werden, auf denen die Indianer ihre eigenen Felder bestellen und es den weißen Amerikanern gleichtun sollten. So die offizielle Lesart der Regierung. Die eigentliche Absicht bestand darin, den Indianern auch das letzte Land zu rauben und sie in der amerikanischen Gesellschaft aufgehen zu lassen, auch wenn die meisten Familien aufgrund ihrer Tradition nicht in der Lage waren, wie Weiße zu leben. Vor allem ehemalige Jäger scheiterten bei der Feldarbeit oder am Verständnis des Kapitalismus, der von einem Farmer verlangt, den Boden zu nutzen, auszubeuten und dabei so viel Profit wie möglich zu machen. Indianer betrachteten die Erde als ihre Mutter, bestellten die Felder nur widerwillig und hatten selbst bei einer kargen Ernte allein das Gemeinwohl im Auge. Sie teilten mit ihren Stammesgenossen und versorgten die Alten und Schwachen.

Im 20. Jahrhundert setzte die amerikanische Regierung ihren Zickzack-Kurs in der Indianerpolitik fort. Zahlreiche Indianer durften während des Ersten Weltkrieges zwar für die USA kämpfen, bekamen ihren Mut jedoch erst am 2. Juni 1924 bezahlt, als ihnen die Regierung mit der Verleihung der Staatsbürgerschaft für ihre Dienste im Krieg dankte. Zwei Jahre später handelte die Regierung erneut, als sie mit der »Indian Reorganization Act« ein Gesetz verabschiedete, das wieder Rücksicht auf ihre eigenständige Kultur zu nehmen schien. Man gab den Stämmen das Land als kollektiven Besitz zurück, gestattete ihnen sogar, eine eigene Verwaltung aufzubauen, behielt sich aber das Recht vor, eventuell vorhandene Bodenschätze fördern zu dürfen.

Mit der »Termination« nach dem Zweiten Weltkrieg schwang das Pendel auf dieser politischen Achterbahnfahrt erneut zurück. Das Ziel hieß wieder, die Indianer in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Es sollte keine Indianer mehr, sondern nur noch Amerikaner geben. In blumigen Reden versprachen die Politiker der Eisenhower-Ära, die Indianer »von ihren Fesseln zu befreien« und sie als »vollwertigen Amerikaner« anzuerkennen. Ein mutiger Schritt, wie sie meinten, der auch die Auflösung aller Reservate zum Ziel hatte. Tatsächlich verloren die Indianer durch das Gesetz große Teile ihres Landes. Sie waren jedoch nicht bereit, auf ihre Identität zu verzichten. Sie wollten nicht zu gesichtslosen Amerikanern ohne Tradition und Kultur werden.

Erst unter Präsident Nixon in den siebziger Jahren garantierte eine Politik der »Self Determination Without Termination« die Eigenständigkeit indianischer Kultur. Der Schlingerkurs war beendet, dennoch gibt es bis heute große Probleme. Hauptsächlich deshalb, weil sich viele Indianer von der Politik nicht genügend vertreten oder sogar verraten fühlen. Zielpunkt ihrer Kritik ist das Bureau of Indian Affairs (BIA), eine dem US-Innenministerium unterstellte Behörde, die sich um die Belange der Indianer kümmern soll, aber häufig das Gegenteil tut. Das Amt wurde 1824 gegründet, unterstand zuerst dem Kriegsministerium und seit 1849 dem Innenministerium. Obwohl seit 1965 auch Indianer an der Spitze arbeiten, scheiterten die Bemühungen, eine indianische Interessenvertretung zu schaffen, die diesem Namen auch verdient.

In den Reservaten verwalten sich die Indianer selbst. Jeder Stamm hat eine Verfassung, die auf der US Constitution aufbaut, aber auch den eigenständigen Status jedes Stammes betont. Jeder Stamm versteht sich als souveräne Nation, verhandelt mit der amerikanischen Regierung wie ein ausländischer Staat. Die Regierung eines Stammes bildet der Tribal Council (Stammesrat), die Judikative liegt in den Händen eines Stammesgerichts. Die meisten Stämme verfügen über ihre eigene Polizeitruppe, sind aber auch auf die Polizei des BIA angewiesen. Die Stammespolizei tritt lediglich bei Vergehen gegen die Stammesgesetze auf den Plan, muss Ermittlungen bei Kapitalverbrechen wie Mord und Vergewaltigung aber Bundesbehörden wie dem FBI überlassen.

Zur neuen Einnahmequelle für die Indianer wurden Spielcasinos. Ungefähr 240 der staatlich anerkannten Stämme betreiben nahezu 470 Casinos, die meisten mit »Class III Gambling«, das hohe Einsätze erlaubt. »New Buffalo« wurde zum Schlagwort für diese Industrie, weil sie für die heutigen Indianer genauso wichtig ist wie der Büffel für ihre Vorfahren. Über 32 Milliarden Dollar werden jährlich mit dem Glücksspiel in den Casinos der Reservate umgesetzt. Am meisten Umsatz machen die Betreiber in Ballungsgebieten, wie in Kalifornien, nur zwölf Prozent der Casinos sind für 65 Prozent des Gesamtumsatzes verantwortlich. Was bedeutet, dass die meisten Casinos nur wenig zum Wohlstand auf den Reservaten beitragen. Rachel »Strange Owl« Magpie, eine Cheyenne-Indianerin: »Den Indianern haben die Casinos wenig gebracht. Viele Angestellte sind weiß. Wir sehen kaum etwas von den Einnahmen. Den Jackpot bei diesem Deal haben die Nicht-Indianer gewonnen.«

Einen Ausweg aus der bedrückenden Gegenwart bietet die Rückbesinnung auf alte Traditionen. Eine Erfahrung, die auch Virgil Wounded Horse während seiner Ermittlungen im Indianerland macht. Nur indem er sich auf seine eigene Identität besinnt und die Kultur seines eigenen Volkes akzeptiert, findet er die Wahrheit. Eine bessere Zukunft kann aber auch er nicht garantieren.

Thomas Jeier ist Autor der Sachbücher »Das große Buch der Indianer« und »Die ersten Amerikaner«