Bedürfnis nach Gerechtigkeit

Ein Nachwort von Estelle Surbranche

©Max Soklov / Adobe Stock

Bei unserem allerersten Gespräch warnt Cédric Fabre mich vor: „Wissen Sie, ich bin nicht mehr derselbe wie in dem Moment, als ich das Buch geschrieben habe.“ Fürchtet der Marseiller Autor vielleicht, ich könnte ihn für so einen Aggro-Typen halten, der sinnlose Gewalt verherrlicht? Oder ist der Cédric von 2022 vielleicht nur weniger wütend als der von 2016? Jener Cédric, der in einem Zug 350 Seiten runterschrieb, auf denen es nur so wimmelt von aufgeplatzten Augenbrauen und blutenden Fäusten, weil jemand seine Wut an einer Wand ausgelassen hat oder an seinen Freunden!

Ja, richtig gelesen, an seinen Freunden.

Gleich zu Beginn von Ein kurzer Moment werden wir zu Beobachtern eines neuen Genres: einem Fightmob, Schlägerversion des Flashmobs. Manche Leute verabreden sich vor dem Gebäude einer Institution oder politischen Versammlung, um ihre Unzufriedenheit laut zu äußern. Die Helden bei Cédric Fabre hingegen dringen dort, wo sie Ärger machen wollen, ein – zum Beispiel bei einer rechtsextremen Versammlung – und fangen dann an, sich gegenseitig auf die Fresse zu hauen. Aber sozusagen rein freundschaftlich. So, dass wenn die Polizei kommt, um die Spieler festzunehmen, sich alle die Hände schütteln und lauthals beteuern, es sei nur ein Missverständnis gewesen.

Wie sagt man in Marseille? „Oh bonne mère!“ – Gütige Mutter Gottes, warum sind diese Leute nur so erpicht darauf, ihren Freunden die Zähne einzuschlagen?

(Konsumgesellschaft x korrupte Politiker)/ Outsider = eurem Siegerlächeln eins auf die Mütze

So eine Gleichung könnte Cédric Fabre aufstellen, um die Frage zu beantworten.

Nüchtern gesagt, wollen er und seine Figuren den großen Schwindel des Glücks der Globalisierung, das man uns im Alltag zu verkaufen versucht, nicht länger hinnehmen. „Letztendlich haben diejenigen triumphiert, die das künstliche Glück erfanden“, stellt die Hauptfigur verbittert fest. „Alles, was gewöhnliche Menschen davon verstehen können, ist, dass man sich einen Dreck um sie schert, dass es nach der Steinzeit, Eisenzeit, Bronzezeit, Glaszeit, Rattanzeit, Plastikzeit, Reifenzeit zwangsläufig Chancen auf Besserung gibt, dass man eines Tages im Zeitalter des Integralhelms ankommt, in dem man zu den Steinen und Eisenstangen zurückkehrt.“

Im Verlauf der Handlung lernen wir Leser die Raufbolde kennen und schließen sie ins Herz. Der Ich-Erzähler heißt Grégoire Lang und war Kriegsfotograf, der auf die andere Seite des Objektivs wechselte, um auf Seiten der afrikanischen Rebellen zu kämpfen.

Mit seinen in Doc Martens steckenden Füßen steht er fest auf der Erde, hat aber wegen der Gräuel, die er miterlebt hat, einen ziemlichen Knacks in der Psyche. Dann sind da noch das Muskelpaket Paolo, der Erfinder dieser neuartigen Happenings, und Mo, ein zeitgenössischer Künstler, der sich auch für Aktionen interessiert, die die etablierte Ordnung durcheinanderbringen. Diese Männer, Nerven wie Draht und immer ein Bier parat, die nie um einen Faustschlag verlegen sind, werden mit einem Schlag niedergestreckt vor Schmerz und Liebeskummer, als Olivia, die Tochter von Mo, die erst mit Lang, dann mit Paolo liiert war, an einem tunesischen Strand von einem Terroristen erschossen wird.

Mit der Abwesenheit dieser Frau gilt es klarzukommen und sich nicht von der Todessehnsucht mitreißen zu lassen… Und vielleicht fühlt man sich ja genauso am Leben, wenn man einen Faustschlag ins Gesicht bekommt, wie wenn einen jemand streichelt oder küsst? Wer weiß schon, was in den Köpfen von Männern vor sich geht? Mir als Frau fehlt es für diese Art Mechanismus an Verständnis. Dieser Durst nach Gewalt tief im Innern, wie ein Urbedürfnis, und die Schlägereien, die ihn stillen sollen … Ich gebe zu, damit kann ich wenig anfangen. Aber keine Sorge, die Frauen bleiben bei Cédric Fabre deshalb nicht auf der Strecke. Sie spuken in seinem Roman herum. Zum einen ist da Olivia, über deren Verlust niemand hinwegkommt – von ihr, ihrem Gespenst, erzählt der Roman im Wesentlichen. Wie soll man auch hinwegkommen über den Verlust einer so lebensfrohen Frau, mit der es so einfach war, glücklich zu sein? Dann sind da noch die Freundinnen der Fighter, die nach den Happenings ihre Wunden versorgen. Oder die Mütter, die dem Wahnsinn ihrer Söhne am wenigsten etwas entgegensetzen können. Und dann ist da noch Awa.

Sie ist die Frau voller Geheimnisse, die in Marseille strandet und kopfüber in diesen schwarzen Sumpf der Verzweiflung fällt, aus dem der Selbstmord als einziger Ausweg erscheint. „Sie ist etwas über dreißig, der Kopf aufrecht, der Blick stolz, die Gesichtszüge gespannt. Sie trägt die entkrausten, glatten Haare kurz und ein Kreuz auf einer olivgrünen, leicht durchsichtigen Bluse, unter der sie mit gutem Geschmack einen schwarzen Spitzen-BH angelegt hat. Üppige Brüste, wie Kritiker sagen. Der Typ, der die Brüste erfunden hat, und der Typ, der die Üppigkeit erfunden hat, kennen sich bestimmt, und ihr Weg hat sich mit dem des Typen gekreuzt, der die Geschmeidigkeit von Fingern erfunden hat.“

Sie ist unwiderstehlich, und sie erzählt Lang eine alte Geschichte, die auf sein schlechtes Gewissen wie ein klingelnder Wecker wirkt. Er schuldet ihr was, dieser Überlebenden der männlichen Grausamkeit. Es trifft sich gut, dass sie ihn um einen Gefallen bittet, nämlich, dass er ihren Sohn aus der Pflegefamilie holt …

Jeder der Protagonisten wird dann seinen „kurzen heroischen Moment“ haben, diese Hundertselsekunde, in der man sich entscheidet, lieber zu verzeihen und Gutes zu tun als den Weg des Wahnsinns und Mordens zu wählen.

Cédric Fabre hat die Franzosen genau beobachtet und ihnen zugehört und ich glaube, er hat sie in diesem Buch verstanden. Es gab in Marseille – und andernorts in Frankreich – in diesem Jahr 2016 so ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit, vermischt mit der Lust, sich mit den Institutionen und Politikern anzulegen, die im besten Fall als schlecht angesehen wurden und im schlechtesten Fall als absolut feindlich.

Ein paar Jahre danach, um genau zu sein, am Samstag, den 17. November 2018, entstand daraus die Bewegung der „Gilets Jaunes“, der Gelbwesten. Tausende Franzosen schlüpften in die neongelbe Weste, Standardausrüstung in jedem Auto, um auf den Straßen zu demonstrieren oder die Kreisverkehre zu besetzen. Sie protestierten gegen die Erhöhung der Benzinpreise, aber im Grunde zeugten sie von einem grundsätzlichen Unbehagen, dass immer mehr Menschen unter prekären Verhältnissen lebten und jedes Monatsende unmöglich wurde … Es war ein brutales Aufwachen aus einem Traum. Die Zukunft würde nicht unbedingt glücklich werden. Unsere Kinder würden nicht unbedingt ein besseres Leben haben.

Dieser kurze heroische Moment war durch diese tausenden Menschen Wirklichkeit geworden. 2022 ist die Bewegung der „Gilets Jaunes“ erloschen und ziemlich viele Träume endeten mit ihr … Aber wer sagt, dass die Glut nicht noch schwelt?

Übersetzt von Corinna Popp