Wanderer zwischen den Welten

Ein Nachwort von Carsten Germis

 

©Max Soklov / Adobe Stock

Dieser ungarische Ermittler fällt aus der Reihe. Balthazar Kovács ist Polizist, ein Vertreter des Rechts und staatlicher Ordnung. Und er ist Roma. Ein bodenständiger Mann zwischen zwei Welten. Für manche seiner Kollegen in der Budapester Mordkommission ist und bleibt er ein Roma, dem sie mit Skepsis und Vorurteilen begegnen. Ein Roma bei der Polizei ist Außenseiter. Für die eigene Familie, die tief in die kriminelle Rotlicht- und Schlepperwelt der ungarischen Hauptstadt verstrickt ist, ist er ein Überläufer. Er steht auf der falschen Seite. Konflikte treiben im Kriminalroman bekanntlich die Handlung voran. Wie verhält sich ein Polizist, wenn dieser Konflikt schon in seiner eigenen Person selbst angelegt ist? Wenn die Blutsbande der Familie stark sind und Loyalität einfordern, wenn die Ermittlungen direkt zu den Geschäften des eigenen Clans führen? Mit dem Budapester „Bullen“ Balthazar Kovács hat der britische Journalist und Krimiautor Adam LeBor eine Figur geschaffen, die mit ihren Loyalitäten in diesen zwei Welten gefangen ist. Das hat großes kreatives Potential, das der Autor in seinen drei Kriminalromanen mit dem Roma-Kommissar mit immer wieder neuen überraschenden Volten ausschöpft.

Die Idee, mit Balthazar Kovács einen Roma-Ermittler zu schaffen, kam LeBor, als er als Auslandskorrespondent auf einem Empfang der britischen Botschaft in Budapest war. Die Botschaft hatte Mitglieder der ungarischen Roma-Polizei Gewerkschaft eingeladen, einer Gewerkschaft, in der sich Polizisten organisiert haben, die als Roma in den Sicherheitsorganen eines Landes arbeiten, in denen Vorurteile gegen „Zigeuner“ besonders stark sind. Die Geschichten, die diese Männer LeBor erzählten, faszinierten den Journalisten. Er ging damals schon lange mit der Idee schwanger, einen Kriminalroman zu schreiben, der in seiner Wahlheimat Budapest spielt. Warum nicht einen Roma zum Protagonisten machen? Die ungarische Hauptstadt kennt der Journalist wie seine Westentasche. Kurz nach dem Fall der Mauer kam er Anfang der 1990er Jahre als Auslandskorrespondent für britische Medien nach Budapest – LeBor schreibt aktuell unter anderem für renommierte Medien wie die Financial Times oder den Economist – und berichtete seitdem über Ungarn und die Nachbarländer auf dem Balkan. Mehr als 25 Jahre lebte er dort, bis er 2019 mit seiner Familie zurück nach London zog. Über Roma hat er in dieser Zeit als Korrespondent immer wieder berichtet, über ihre Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft, über ihre eigene Parallelgesellschaft, in der Blutsbande und aus Sicht der modernen, westlichen Gesellschaft archaische Rituale bis heute eine andere Bedeutung haben.

LeBor widersteht in seinen Krimis mit Balthazar Kovács der Versuchung, politisch korrekten Kitsch mit schlichten, berechenbaren Täter-Opfer-Zuweisungen zu schreiben. Der Roma-Polizist ist keiner, der an den Verhältnissen leidet und zerbricht. Im Gegenteil: Kovács handelt, er gestaltet den Lauf der Geschichte aktiv – er agiert, er reagiert nicht nur. Und das macht er in einer post-kommunistischen Gesellschaft, in der die politische Elite aus Ex-Genossen, neureichen Oligarchen bis hin zu Nationalisten schnell ihren Frieden mit dem Kapitalismus geschlossen und sich und ihren Freunden am Trog der EU-Subventionen und des Staates die Pfründe gesichert haben. Der Roma-Kommissar betritt die Bühne auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015. Auf den Keleti-Bahnhof in Budapest richteten sich damals die Augen der Welt. Hier kampierten tausende Flüchtlinge und Migranten aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan und aus den Magreb-Staaten auf dem Weg über den Balkan nach Österreich, Deutschland und Skandinavien. Der Budapester Bahnhof mit seiner alten Fassade aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie war das Epizentrum der Krise.

LeBor war damals als Journalist regelmäßig dort und berichtete für seine britischen Medien. Die Bilder der Menschen, die vor dem Bahnhof campierten, gingen um die Welt. Ungarn beschloss unter dem Druck der Massen, die über die Balkan-Route ins Land strömten, die Grenzen zu schließen und den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Budapest war der Flaschenhals, in dem sich alles staute, solange der Weg in den Norden verbaut war. Erst die Entscheidung der deutschen Regierungschefin Angela Merkel, die nach Deutschland drängenden Flüchtlinge aufzunehmen, nahm den Druck aus dem Kessel. Vor diesem Hintergrund hat LeBor einen Polit-Thriller geschrieben, der die Bilder dieser Zeit in der Erinnerung wieder lebendig werden lässt. Es geht um korrupte Oligarchen, politische Komplotte, arabische Investoren und bestechliche Politiker, die Wege für islamistische Terroristen nach Westeuropa ebnen wollen. Es geht aber auch um Empathie, um Freundschaft und Hilfe. Der Autor verzichtet dabei konsequent darauf, mit erhobenem Zeigefinger politische Botschaften zu predigen. Die Szenen, die er beschreibt, das Handeln seiner Charaktere allein schaffen es, die Situation lebendig und mit Empathie zu beschreiben.

Der Roman hat seine Stärke auch darin, dass die umfangreichen und jahrelangen Recherchen des Journalisten in die Geschichte eingeflossen sind. Das Setting stimmt, die Fakten, die den Rahmen der Handlung bilden, sind gründlich recherchiert. Das gilt auch für die Welt der Roma, ihre Gesellschaft und ihre Kultur in Ungarn. Trotz der politischen Komplotte in diesem Thriller, trotz der dramatischen Flüchtlingskrise stehen im Mittelpunkt des Romans die Menschen: der Ermittler Balthazar Kovács, sein Bruder Gaspar mit der Roma-Familie, eine engagierte Journalistin, eine ungarische Geheimdienstfrau aus einer alten aristokratischen Familie, die im postkommunistischen Ungarn genauso eine Außenseiterin ist wie der Roma-Polizist, der christliche syrische Flüchtling Simon Nazir mit seiner Frau Maryam und ein IS-Terrorist, schlicht „der Gärtner“ genannt. Dazu kommen korrupte Politiker, westliche Geheimdienste, brutale Gendarmen und saubere Polizisten. Die Charaktere treiben den Plot, nicht die Politik. LeBor schafft eine fiktionale Wirklichkeit, die politischer ist als jeder engagierte Leitartikel. Der Autor selbst spricht von seinen drei Budapester Kriminalromanen als eine „Noir Crime“-Serie. Die Ausbeuter, die Gauner, die korrupten Politiker verfügen über die gesellschaftliche Macht. Bei LeBor bleiben die Ausgebeuteten, die an den Rand Gedrückten, aber handelnde Subjekte, nicht gesellschaftlich marginalisierte Opfer. Die Krimis um Balthazar Kovács orientieren sich nicht an klassischen Polizeiromanen wie denen von Ed McBain, sie stehen auch nicht in der sozialkritischen Tradition von Autoren wie Jean-Patric Manchette oder dem schwedischen Autorenpaar Maj Swöjall und Per Wahlöö. Sie sind eher wie ein Hybrid zwischen Krimi und politischem Verschwörungs-Thriller.
Verschwörungstheorien erzählen packende und dramatische Geschichten. Es geht um den alten Kampf zwischen Gut und Böse, um den Konflikt zwischen den Übeltätern, die im Verborgenen agieren, und den wenigen, die alles tun, die Verschwörung zu vereiteln. Verschwörungsthriller setzen das gewöhnlich dramatisch in Szene. LeBor gelingt es, mit Grautönen jenseits schlichter Schwarz-Weiß-Beschreibung ein Bild Budapests zu zeichnen, das gerade aus seiner Ambivalenz seine Spannung bezieht.

Die Schilderung der komplexen Gesellschaft der Roma, ihre Erfahrungen mit Vorurteilen und Diskriminierung erzählt LeBor wie nebenbei in Handlungsszenen mit Spannung und Dialogen. Die Blasenwelt der selbstgerechten, linksliberalen westlichen Schickeria, in der sich die geschiedene amerikanische Ehefrau Kovács’, eine Lehrbeauftragten für Genderforschung, bewegt, spießt der Autor mit nüchterner Distanz auf. Auch in den westlichen, politisch korrekten, ultraliberalen Kreisen, die in den hippen Wohlstandsvierteln Budapests leben, ist ein Roma allenfalls als professionelles Aushängeschild bei wohltätigen Stiftungen und Bildungseinrichtungen willkommen. Ein Roma als Polizist ist hier so wenig vorzeigbar wie in den Kreisen reaktionärer Milizen.

Politische Thriller sind stärker in den Ereignissen der Gegenwart verwurzelt als andere Krimis. Sie spielen meistens vor dem Hintergrund aktueller Krisen – und Politiker treten als Figuren auf, bei denen die Vorbilder oft klar erkennbar sind. LeBor nutzt das. Er reizt in seinen Romanen aber auch die Freiheit des Schriftstellers aus, die Welt trotz aller Bezüge zu realen politischen Ereignissen kreativ umzugestalten. So widersteht er in seinen Büchern um Balthazar Kovács der Versuchung, in der Figur des machtbesessenen Ministerpräsidenten, der aus dem Amtssitz im Karmeliterkloster in Budapest die Fäden spinnt, eine Karikatur des Populisten Victor Orban zu zeichnen. Als Wirtschafts- und Finanzjournalist hat LeBor in seinen Jahren in Budapest die Bereicherungsorgien korrupter Ex-Kommunisten, die sich nun demokratische Sozialisten nennen, miterlebt. Die Demokratie leidet, wenn autoritär-populistische Parteien die Machthaber stellen – ganz gleich, aus welchem politischen Lager sie kommen. LeBor hat das als Journalist in Ungarn und auf dem Balkan aufmerksam beobachtet. Manche Spitze aus der Erfahrung als Auslandskorrespondent hat so Eingang in den Roman gefunden. Zum Beispiel wenn Reka, die schillernde Justizministerin, wegen der „tiefen Besorgnis“ der EU über die politische und wirtschaftliche Korruption der im Roman 2015 in Budapest gerade wieder an die Macht gekommenen Ex-Kommunisten nach Brüssel fliegt und dort mit „großen blauen und ehrlichen Augen“ erklärt, dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe.

„Nach acht Jahren rechtskonservativer Herrschaft hatte die ungarische Regierung den eindeutigen Wählerauftrag, einen Wandel herbeizuführen, und genau den, so erläuterte sie, setzten sie jetzt um. Die Eurokraten schmolzen dahin.“ Man spürt beim Lesen den Spaß, den es LeBor gemacht haben muss, im Ungarn des Rechtspopulisten Orban die erste linke Regierungschefin ins Amt zu hieven.

Balthazar Kovács führt sein Fall, der Mord an einem der Flüchtlinge vom Keleti, mitten hinein in die politischen Komplotte Budapests. LeBor, der in Großbritannien auch erfolgreich Sachbücher über Banker und Banken und über den Bürgerkrieg im zerbrechenden Jugoslawien geschrieben hat, schreibt konventionell erzählte Kriminalromane. Und doch schafft er es, Budapest vor dem Auge der Leser lebendig werden zu lassen. Getragen von den starken Protagonisten und Antagonisten baut er einen Plot auf, der immer wieder überraschende Wendungen hat. Er wollte eine starke Geschichte mit starken Charakteren schreiben, sagt er selbst. Die Erfahrungen und Recherchen seiner journalistischen Arbeit fließen eher nebenbei ein. Von der Kunst, sich in Ungarn richtig vorzustellen, dem ausgeprägten System des Gebens und Nehmens, den Rivalitäten zwischen politisierter Gendamen und regulärer Polizei erfahren die Leser zwischen den Zeilen. Trotz der düsteren Geschichte wird das Buch so auch eine Liebeserklärung an Budapest.