Das schwarze Herz des kleinen Ortes Cobb

Ein Nachwort von Lore Kleinert

Wir neigen dazu, Identität als etwas zu betrachten, das uns zu unseren Wurzeln zurückbringt, als einen Teil unseres Selbst, der über die Zeit im Wesentlichen gleich bleibt. Tatsächlich aber ist Identität ein nie abgeschlossener Prozess des Werdens – ein Prozess veränderlicher Identifizierungen, nicht eine einzelne, vollständige, fertige Daseinsform.

aus Stuart Hall, Vertrauter Fremder

Wohin führt das alles? Was wird aus uns? Es führt zueinander. Wir werden wir selbst.
Patti Smith, Just Kids. Die Geschichte einer Freundschaft

©Max Soklov / Adobe Stock

Noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war Auswanderung nach Australien ein Thema in der deutschen Bundesrepublik, in Familien, unter Schülerinnen und Schülern. Wenn es nach dem verlorenen Krieg irgendwo ein besseres Leben gab, konnte man es erreichen. Denn wir waren weiß, jedenfalls die meisten, und dass man erwünscht war, wenn Ausbildung und Sprachkenntnisse mitgebracht wurden, wussten alle. Mit den späten sechziger Jahren waren diese Träume vorbei, hatten anderen, meist näherliegenden und mitunter fernerliegenden Zielen Platz gemacht. Und erst in den Billigserien des Privatfernsehens kehren sie seit einigen Jahren wieder, als seltsam unfreundliche Zerrbilder des Scheiterns. Flucht und Vertreibung haben die Welt in einem Ausmaß verändert, wie es sich auch die engagiertesten Weltveränderer und Aktivistinnen gegen Atomstrom und Repression in aller Welt kaum je vorgestellt hatten. Nicht nostalgisches Fernweh und Auswanderung spielen noch eine Rolle, sondern Flucht, Asyl, Einwanderung aus Kriegs- und Hungergebieten. In Peter Papathanasious erstem Roman treffen Kinder der hoffnungsvollen Einwanderer der fünfziger Jahre mit denen zusammen, die der Krieg aus ihren Ländern vertrieb. Die Eltern des Autors kamen 1956 aus Griechenland, nachdem seine Großeltern schon 1923 aus der Türkei nach Griechenland vertrieben worden waren. Nachdem sie in Australien Fuß gefasst hatten, adoptierten sie ihn, ein griechisches Kind, das schließlich einen Doktortitel in Biomedizin erwarb und einen Bachelorabschluss als Strafrechtler. Wie »Neuankömmlinge« in seinem Land behandelt werden, liegt ihm am Herzen, und sein Buch war für ihn das Sprungbrett, um die vielen Facetten von Einwanderung und Fluchterfahrung genauer zu untersuchen: »Ich persönlich glaube nicht, dass der Multikulturalismus ein gescheitertes Experiment ist. Ich denke, dass es immer Anlaufschwierigkeiten geben wird, aber letztendlich wird eine Gesellschaft durch die kulturelle Vielfalt reicher.«

Detective Inspector George Manolis als Protagonist entspricht auf den ersten Blick gängigen Strickmustern erfolgreicher Thriller: ein Polizist, der in Scheidung lebt und in einen Ort zurückkehrt, an dem er seine Kindheit verbrachte, um bei der Untersuchung eines Mordes die einheimischen Kräfte zu unterstützen. Doch seine Abstammung und der Aufstieg seiner Eltern prägten ihn: Migranten waren sie, die hier das erste griechische Café aufmachten und den seit 1788 meist aus England eingewanderten und oft in Ketten deportierten, puritanischen Landbewohnern eine von den USA beeinflusste, lockere Lebensart beibrachten. Er schaut genauer hin, nimmt die Veränderungen mit empfindlicheren Antennen wahr.

Das schwarze Herz des kleinen Ortes Cobb ist das Internierungslager für Geflüchtete, das »Braunenhaus«, gehasst von den älteren weißen Einwohnern, ignoriert von den meisten anderen. Arbeitsplätze und Aufschwung wurden versprochen, – was der Ort bekam, waren Drogenhandel und Verelendung. Die privatwirtschaftliche Verwaltung des Lagers liegt überwiegend in den Händen von angeheuerten unausgebildeten Hilfsaufsehern, die die Insassen schlecht behandeln. Außer für Teilzeitputzkräfte wurden keine Arbeitsplätze geschaffen, und die Regierung will schlechte Presse um jeden Preis vermeiden und scheut jegliche Kritik, denn sie lagerte das Problem aus. Als eine Lehrerin des Ortes an den Folgen einer Steinigung stirbt, werden sofort Verdächtigungen laut – Misstrauen gegen Muslime ist in Australien genauso Thema wie bei uns. Von diesen vielfältigen Empfindungen und Haltungen gegenüber den Asylbewerbern lässt sich Manolis bei seiner Untersuchung leiten, muss aber auch zur Kenntnis nehmen, wie sehr tief verwurzelter Frauenhass und die Zerstörung der Existenzgrundlagen der Aborigines das Bild dieser Gesellschaft prägen. »In diesen Teilen Australiens gilt das Land aufgrund der härteren Bedingungen und der körperlichen Arbeit immer noch als ›Männerland‹. Besonders in ländlichen Gebieten werden Frauen als Bürgerinnen zweiter Klasse angesehen.« (Interview Peter Papathanasiou) Wer also brachte die freundliche, aber auch umstrittene Lehrerin Molly auf solch eine hasserfüllte Weise ums Leben?

Korruption und Gewalt stehen in vielen australischen Kriminalromanen im Zentrum. Peter Temple, Garry Disher und zuletzt auch Jane Harper und Candice Fox haben detaillierte Bilder gezeichnet, zu Recht mit vielen Preisen gewürdigt, die Einblick in die Gesellschaft des Fünften Kontinents bieten, und die Polizei und
Justizbehörden kommen dabei allemal nicht gut weg. Wir lernten Städte wie Perth, Melbourne oder Sidney kennen, ebenso wie menschenleeres Outback mit seiner einzigartigen Natur oder die idyllischen Küsten und Touristenziele.

»West-Australien hat die Größe des alten Westeuropas, mit rotem Dreck, tropischen Zyklonen im Norden, alten Wäldern im Süden, spektakulären Landschaften; eine reiche und blutige Geschichte, große Unterschiede im Einkommen und tief verwurzelte Korruption und Rassismus. Wer würde hier nicht eine Kriminalgeschichte ansiedeln?«, fragt Alan Carter, und zum Glück wurden viele dieser Geschichten ausgezeichnet übersetzt und europäischen Leserinnen und Lesern zugänglich gemacht. Alan Carter erschuf mit seinem Polizisten Cato Kwong einen Protagonisten mit chinesischen Wurzeln, der sich ebenfalls mit den Schattenseiten australischer Identität auseinandersetzt. Papathanasious neuer Ermittler Manolis ist weniger Außenseiter als Cato Kwong, sondern eher Vertreter einer jüngeren Generation, der unter den Unzulänglichkeiten seiner Gesellschaft leidet, sich seiner Herkunft und auch seiner Chancen bewusst ist. Was ihn auszeichnet, ist eine hohe Sensibilität für falsche Töne und unterschwellige Botschaften, aber auch fehlende Berührungsangst mit den im »Braunenhaus« internierten Menschen wie dem Iraker Ahmed Omari, dem Schlepper seinen Pass abnahmen. Er interessiert sich für dessen Geschichte und muss sich für sein Mitgefühl nicht verstecken. Das räumt ihm im Kreis der Protagonisten vieler großartiger Kriminalromane seines Landes einen guten Platz ein, der auf weitere Romane hoffen lässt. Doch nicht nur diese besondere Feinfühligkeit zeichnet Peter Papathanasious Arbeit aus. Seine Recherchen haben den Stoff für überraschende Geschichten zutage gefördert, von denen wir hierzulande noch nicht unbedingt gehört haben: etwa die des Internierten Lee Francis Cook, der mit drei Jahren nach Australien kam, immer hier lebte und später als Soldat kämpfte, doch weil sein Kindervisum nie verlängert wurde, gilt er als Engländer und soll wegen kleiner Vergehen abgeschoben werden. Eine australische Besonderheit, die der Autor für seinen Roman nutzt.

Constable Andrew Smith, genannt Sparrow, der als Angehöriger der Aborigines die Verhältnisse verändern will und deshalb Polizist wurde, ist ein glaubwürdiger Charakter im Ensemble der Dorfbewohner. Der Autor bindet mit ihm nicht nur die Geschichte der Gräueltaten an den australischen Ureinwohnern geschickt in seinen Roman ein, sondern ebenso die Auswirkungen auf Menschen, die man von ihrem Land vertrieb, zwangsumsiedelte und bis heute benachteiligt. Sparrows Tapferkeit und Hartnäckigkeit ist für die australische Polizei unverzichtbar, und sein Zorn auf die Weißen, deren Verbrechen nie bestraft wurden, speist sich aus der Erinnerung an die Katastrophe seines Volkes.

Auch die junge Polizistin Kerr ist eine Bereicherung für George Manolis’ Team, das Teamarbeit erst mal einstudieren muss, denn sie kritisiert die Landflucht junger Leute, die aus Langeweile und Sensationslust die kleinen Orte verlassen, bis es dort keine Arbeitsplätze mehr gibt. Wie Sparrow hat sie ihre Ecken und Kanten, die Papathanasiou ausspielt, ohne allzu sehr auf psychologische Tiefbohrungen zu setzen, was seinem ersten Buch einen angenehmen Drive verleiht. Man verfolgt die Aktionen mit Spannung, aber der Autor weiß genau, wie er sie inszeniert, ohne den Beteiligten allzu nah zu treten – er lässt ihnen ihre Geheimnisse.
Mit der Lehrerin, deren Mord aufgeklärt werden muss, ist eine Frau getötet worden, die sich engagierte, den Internierten Englisch beibrachte, eine, die geblieben war und deren Tod deshalb zum Symbol für Zerstörung einer Gemeinschaft wird. Insofern kämpft die Gruppe der Polizisten nicht nur gegen einen oder mehrere Mörder, sondern auch für das Überleben in einem kleinen Ort, dessen Zukunft düster aussieht, nachdem ihn Drogen und Alkoholabhängige geflutet haben. Die Ankunft einer neuen Drogenlieferung in Cobb wird dadurch signalisiert, dass nachts Feuerwerkskörper gezündet werden, auch dies ist von einer wahren Geschichte aus einer kleinen australischen Stadt inspiriert worden. Wenn Detective Manolis sich an das Krankenhaus seiner Kindheit erinnert, einen freundlichen, sauberen Ort, wird der Gegensatz zum heruntergekommenen, verdreckten Asyl, wo er die Leiche der Getöteten aufbewahrt findet und untersuchen lässt, sehr anschaulich, ohne dass er Schuldige ausmacht und anklagt. Lernen muss er, vor alter Schuld nicht die Augen zu verschließen, selbst wenn sie die eigene Familie betrifft. Auch das ist eher beiläufig und elegant eingeflochten ins Gewebe dieses ersten Kriminalromans eines begabten Autors. Was die Leserinnen und Leser australischer Kriminalromane schon wussten, wird auf angenehme Weise bestätigt und neu erzählt, denn der Autor hat nicht nur einen roten Faden, sondern einen differenzierten Plan und angemessene Sprache: die Welt eines australischen Dorfs am Rand der Wildnis ist komplex, und das nicht nur wegen der Kängurus und Haarnasenwombats.