Gemeinsame Wurzeln in Brooklyn

Ein Nachwort von William Boyle
©Max Soklov / Adobe Stock

Eines der entscheidendsten Ereignisse in meinem jungen Leserleben war, dass mir auf dem väterlichen Dachboden “Clockers” von Richard Price in die Hände fiel. Seit dreißig Jahren habe ich meinen Vater nicht mehr gesehen und auch damals, als er meine Mutter und mich verließ, um in Jersey eine neue Familie zu gründen, und ich ihn dort an den Wochenenden besuchte, standen wir uns nicht besonders nahe, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich die Leidenschaft fürs Lesen von ihm geerbt habe. Unter den wild übereinandergestapelten Büchern auf dem Dachboden entdeckte ich Stephen King und Ed McBain. Weil er zwar Leser, aber kein Sammler war, überließ er mir bereitwillig seine Hardcover, sobald er sie fertig gelesen hatte. Und so kam ich an “Clockers”, einen Roman, der mir die Augen geöffnet hat, wie man nicht nur das Schreiben sehen und verstehen kann, sondern die ganze Welt. Ich erwähne “Clockers”, weil mich Robert Reulands exzellenter Roman “Brooklyn Supreme” so sehr daran erinnert – ein Roman, der von dem kaputten System handelt, das die in den amerikanischen Städten herrschenden Spannungen aufrechterhält und verstärkt, ein Roman über Gerechtigkeit und Gnade und den Umgang mit der Vergangenheit, ein Roman, der einen Blick in den tiefen Abgrund menschlicher Gebrochenheit wagt.
Der Titel “Brooklyn Supreme” bezieht sich auf den Kings County Supreme Court und könnte einen zu dem Schluss verleiten, man habe es hier mit einem Gerichtskrimi in der Art von Law and Order zu tun. Tatsächlich ist dieser Roman das glatte Gegenteil. Reuland zeigt eher auf, wie falsch die Welt, über die er schreibt, in Fernsehen und Film dargestellt wird. Das gelingt ihm unter anderem dadurch, wie er über Gewalt schreibt. Weder will er sie glorifizieren, noch strickt er eine Heldengeschichte darum oder stilisiert sie. Auch das Leben der Opfer ist ihm nicht egal. Er steht mit beiden Beinen in der Realität. Gewalt ist verworren. Die Folgen von Gewalt sind verworren. Das System, das mit Gewaltverbrechen umgeht, ist verworren. Und auch der Mensch. Nicht nur mit der Story, sondern auch mit Stimme, Ton und Atmosphäre arbeitet er gegen die unzureichenden Darstellungen an. Von Seite eins an verströmt dieses Buch einen Brooklyn-Vibe, den ich wiedererkenne, selbst wenn es in einem anderen Teil Brooklyns angesiedelt ist als dem, in dem ich aufwuchs. Oft musste ich an Thomas Wolfes wunderbare Short Story „Nur die Toten kennen Brooklyn“ denken. Reulands Brooklyn liegt nur ein paar Meilen von meinem entfernt und ist doch so fern von allem, was ich als Kind erlebte. Dennoch sind der Plot, die Figuren und die Dialoge von einer Authentizität durchdrungen, die sich weder erfinden noch nachahmen lässt. Reuland kennt die Welt seines Buchs in- und auswendig, was “Brooklyn Supreme” vor allem zu einem großartigen Roman über einen Ort macht.
Der Roman spielt im Jahr 1999, als New York City große Veränderungen durchmachte, und zwei Jahre vor 9/11 – und das sprach mich mit am meisten an. Meine ersten Bücher spielen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, aber dann bin ich tiefer in die Vergangenheit eingetaucht, in das Brooklyn meiner Kindheit und Jugend, das ich am besten kenne, das der 1980er und 1990er Jahre. Mittlerweile habe ich mehrere Bücher, die in dieser Zeit angesiedelt sind, geschrieben und kann mir nicht vorstellen, sie so schnell wieder zu verlassen, weil es mir so vorkommt, als lägen dort all meine Geschichten. Daher war ich sehr neugierig, dass Reuland sich auf denselben Zeitraum konzentrierte. Diese Zeit war für mich derart prägend, dass ich oft den Fehler begehe, sie allein aus meiner persönlichen Perspektive zu betrachten. Damals kam es jedoch in vielerlei Hinsicht zu tektonischen Verschiebungen, sodass es mehr als nahelag, genau in diesem historischen Abschnitt die Geschichte über Will Way anzusiedeln, einen Vertreter der Polizeigewerkschaft, der mit den Folgen der Erschießung eines jungen Schwarzen durch eine Polizistin umzugehen hat. Sie ist noch nicht lange bei der Polizei, und auch sie ist jung und schwarz. Wenn man in den 1990ern in New York City aufwuchs, musste man sich mit Themen wie Rassismus, Gerechtigkeit und Justiz auseinandersetzen. Ich wurde in einem spießigen, stark italoamerikanisch geprägten und notorisch rassistischen Teil Brooklyns groß. 1989, da war ich elf, wurde bei mir in der Gegend Yusuf Hawkins erschossen. Es brauchte Filmemacher und Autoren wie Spike Lee und Pete Hamill, um mich wachzurütteln. Reulands Buch behandelt diese aufgeheizte Atmosphäre – unüberwindbare Rassen- und soziale Schranken, eine Stadt kurz vor der Explosion.
Auch wenn Will Way eine fiktive Figur ist, fühle ich mich ihm von ferne verwandt, was vielleicht daran liegt, dass wir dieselbe Highschool besuchten, die Xaverian in Bay Ridge. Wir gingen durch dieselben Straßen, über denen der Geist von “Saturday Night Fever” hing. Will ist zwölf Jahre älter als ich, daher dürften seine fiktiven Erfahrungen auf der Xaverian nicht mit meinen allzu realen übereinstimmen (die Xaverian firmiert in den meisten meiner Bücher unter dem Namen Our Lady of the Narrows), und dennoch habe ich das Gefühl, dass dank des Besuchs der Xaverian ein Band zwischen uns besteht. Genau wie ich hatte er einen langen Schulweg. Ich musste jeden Tag eine Dreiviertelstunde mit dem Bus fahren. Will hatte es noch weiter. Es gefällt mir, wie das Buch nach und nach Wills Vergangenheit aufblättert und alles zusammentrifft, je weiter seine Geschichte voranschreitet. An den Rändern der Gegenwart kommt die Vergangenheit durch und scheint die Zukunft auf.
“Brooklyn Supreme” ist eine Meisterleistung. Es ist poetisch, gewagt, aufregend, kompromisslos. Reuland gestaltet seine Welt wunderbar aus, niemals beschwert er die Geschichte mit zu vielen Details und kann so die Spannung stets hochhalten. Schade, dass Sidney Lumet keinen Film mehr daraus machen kann. Dieser Film könnte leicht mit seinen Meisterwerken “Serpico”, “Prince of the City” und “Tödliche Fragen” mithalten. Es mag schon stimmen, dass nur die Toten Brooklyn kennen, aber Reuland ist nah dran.