Durch die Wüste: Desert noire

Ein Nachwort von Hanspeter Eggenberger
©Max Soklov / Adobe Stock

Kriminalromane, die in der Wüste spielen – wer kommt denn auf so was? Da gibt es ja fast nichts, da passiert nichts. Tote Hose! Wer mit solchen Vorbehalten auf die Inhaltsangaben zu den Romanen von James Anderson reagiert, wird bei der Lektüre auf spektakuläre Art eines Besseren belehrt. Denn was in »Lullaby Road«, und davor auch in »Desert Moon«, abgeht, ist fesselnd. Dies nicht nur wegen den Geschehnissen, sondern auch wegen der Art, wie Anderson erzählt. Bei ihm gehen Poesie und Gewalt auf eine ganz eigene Weise Hand in Hand.

Dass Verbrechen längst nicht mehr nur im Großstadtdschungel geschehen, der lange Zeit das wichtigste Biotop der modernen Kriminalliteratur war, zeigen seit einigen Jahren immer mehr Werke, die in ruralen Welten spielen. Stichwort: Country noir. Auch vermeintlich öde Käffer in der Pampa bieten Stoff für Geschichten, die unter die Haut gehen. Der Kontrast durch die ländliche Idylle kann dort als Katalysator die Wirkung der Gewalt noch verstärken.

Eine noch viel dünner besiedelte Einöde, die von vielen sonst alltäglichen Einrichtungen abgeschnitten ist, setzt da noch einen drauf. Tatsächlich erweist sich die Wüste bei Anderson nicht nur als überraschend gut geeignetes Setting für seine Kriminalromane, sondern spielt darin selbst eine wesentliche Rolle. Denn die Wüste bestimmt das Leben der dort lebenden Menschen in einem oft geradezu dramatischen Ausmaß. »Unkenntnis über sich selbst, seine Nachbarn, die Landschaft, die Ressourcen und das Wetter führt zu Verletzungen oder zum Tod«, sagt Anderson.

Die Wüste ist unerbittlich. Sie wirft einen zurück auf einen selbst. So gilt sie denn als ein Ort der Klärung, der Entscheidung, der Selbstfindung und auch der Neuorientierung. »In der gesamten Menschheitsgeschichte war die Wüste schon immer ein Ort, an dem Suchende, Asketen, Adepten und so weiter in die Isolation gegangen sind, um durch Einsamkeit Klarheit zu erlangen«, sagt James Anderson. Und er bringt auf den Punkt, was dabei für seine Romane essenziell ist: »Die einzige Person, der man in der Wüste absolut nicht entkommen kann, ist man selbst.«

Das ist genau der Punkt, der auch für mich die Wüste schon seit langer Zeit faszinierend macht. Einen ersten entfernten Eindruck davon bekam ich als kindliche Leseratte von Karl May, dessen »Durch die Wüste« ich nach den »Winnetou«-Bänden verschlang. Dass die Wüste, entgegen dem Eindruck, den die Bilder geben, lebt, zeigten mir Dokumentarfilme im Fernsehen. Dabei ging es aber um echte Tiere und nicht um die Art von Wüstenratten, mit denen Anderson seine Romane besetzt. Als Teenager gaben mir Anfang der Siebzigerjahre Textpassagen im Hit »A Horse with No Name« der Band America zu denken: »In the desert you can remember your name / ’Cause there ain’t no one for to give you no pain.« Wenig später nahm mich Paul Bowles mit seinem Roman »Himmel über der Wüste« (»The Sheltering Sky«) mit in die Sahara auf eine existenzialistische Sinnsuche.

Trotz solcher Vorbereitungen war die erste direkte Begegnung mit der Wüste mit Anfang zwanzig im Süden Tunesiens ein überwältigendes Erlebnis. Die Wüste wurde sogleich zu einem Sehnsuchtsort, und ich bereiste deswegen in den folgenden Jahren Marokko und Algerien. In der Wüste suchte ich nicht in erster Linie nach dem Geheimnis dieser Einöde, sondern nach mir selbst. In »Lullaby Road« erzählt einmal ein alter Mann, zuweilen kämen Menschen in die Wüste, um nach etwas zu suchen, und manchmal würden sie es auch dann finden, wenn es gar nicht da sei. Mein Drang, die Wirkung der Wüste auf die Seele direkt zu erleben, ließ mit dem Älterwerden etwas nach. Doch die Faszination für die weite Leere blieb bis heute.

In eine solche Welt, nicht in der Sahara, sondern in der Four Corners genannten Region, wo die US-Bundesstaaten Utah, Colorado, Arizona und New Mexico aufeinandertreffen, setzt James Anderson seinen Protagonisten Ben Jones. Aus dessen Sicht erzählt er in der ersten Person. Ben ist halb Indianer, halb Jude. So sei er, sagt Anderson, »der ultimative Vertriebene in einem Land der Vertriebenen«. Aufgewachsen ist Ben, ein Waisenkind, zudem bei einer Mormonenfamilie. Heute ist er als Truck Driver sein eigener Kleinunternehmer. Er beliefert die Menschen, die zurückgezogen entlang der State Road 117 zwischen den fiktiven Städten Price und Rockmuse leben, mit lebensnotwendigen Gütern. Trinkwasser, Sprit für Generatoren, Lebensmittel, Ersatzteile für Haushaltsgeräte und für Motorräder, Pferdefutter. Im Auftrag der drei großen privaten Postunternehmen liefert er auch deren Postsendungen aus, nachdem eigene Fahrer auf dieser Route zu Tode gekommen waren.

Ben Jones ist auf den ersten Blick ein sehr unspektakulärer, durchschnittlicher Typ. Er zeichnet sich nicht, wie so manche Romanhelden, durch außergewöhnliche Fähigkeiten aus. Anderson sieht ihn als Typen, der »jeden Tag aufsteht und sein Bestes gibt – so wie die meisten von uns auf dieser Welt«. Durchschnittsmenschen, die nicht aufgeben und versuchen, anständig zu bleiben, seien für ihn »die wahrhaftigsten Helden«.

Ben ist nicht nur ein außergewöhnlicher Protagonist, sondern auch ein glaubwürdiger. Dies gilt auch für die anderen Menschen, die abgeschieden in dieser abgelegenen Gegend rund 350 Meilen südlich von Salt Lake City abseits der Zivilisation leben, ohne den für die meisten Menschen in der Ersten Welt alltäglichen Komfort. Manche Leute gingen an einen solchen Ort »nur um in der Hölle allein gelassen zu werden, um der Zivilisation zu entfliehen, manchmal auch den Strafverfolgungs-behörden«, sagt Anderson. Er versteht es, diese Menschen, die nicht die Gesellschaft anderer suchen und Besucher schon mal mit der Flinte im Anschlag begrüßen, mit wenigen Worten greifbar zu machen. Doch bei den meisten wird nicht eindeutig klar, warum sie sich für ein Leben in der Einsamkeit entschieden haben. Denn besonders mitteilsam sind die wenigsten. Das macht die durchwegs stimmigen Dialoge oft etwas wortkarg. Während sie manchmal ganz einfach mit wenigen Worten auf den Punkt kommen, schwingt bei anderen eine tiefere Bedeutung in einer vordergründig oberflächlichen Unterhaltung mit.

Nicht nur durch das Setting, die Figuren und die Plots heben sich Andersons Romane markant von konventionellen Krimis ab, sondern auch durch ihre Sprache, die von The York Times Book Review treffend als »die poetischste Prosa diesseits von Salt Lake City« bezeichnet wurde. James Anderson ist tatsächlich ein Poet, und dies im wahren Sinn des Wortes. Als er achtzehn oder neunzehn Jahre alt war, wurden erste Gedichte von ihm in Zeitschriften veröffentlicht. Auch später hat er sich weiter der Lyrik gewidmet, aber auch zahlreiche Short Storys und Essays geschrieben. Doch dann wurde er Buchverleger und hörte auf, seine eigenen Texte zu publizieren, auch wenn er nie zu schreiben aufhörte. In den folgenden dreißig Jahren habe er auch sechs Romane vollendet, verriet er mir. In seinen Fünfzigern war er vor allem als Produzent von Dokumentarfilmen tätig. Er sei da zwar erfolgreich gewesen, habe dann aber erkannt, dass das Schreiben ohne die zahlreichen Ebenen der Zusammenarbeit, die beim Film nötig sind, ihn mehr interessierte. So kam es dann 2016 endlich zur ersten Romanveröffentlichung des zu dieser Zeit bereits sechzigjährigen James Anderson: »The Never-Open Desert Diner« (Deutsch: »Desert Moon«, 2018). Zwei Jahre später folgte das vorliegende Werk, »Lullaby Road«.

Die Lebenserfahrung des Autors spürt man bei der Lektüre seiner beiden Romane, ohne dass er damit bei den Lesern direkt hausieren gehen würde. Die Geschichten bieten Spannung und Action, angenehm trockenen Humor und einfühlsame Schilderungen und sind dadurch immer unterhaltsam. Doch sie bleiben dabei nicht an der Oberfläche, sondern behandeln scheinbar leichthändig, fast beiläufig in die Tiefe gehend, auch grundsätzliche Themen wie beispielsweise Verlust und Einsamkeit, Liebe und Leidenschaft, Gewalt und Religion.

In »Lullaby Road« geht es in einem Handlungsstrang um Missbrauch und Ausbeutung von Kindern. Dieses große globale Thema reduziert Anderson auf eine kleine Geschichte in der Wüste. Das Thema ist ihm wichtig. »Unser existenzieller Wert als Spezies wird jeden Tag daran gemessen, was wir unseren Kindern und in gewissem Umfang auch unserer Umwelt antun«, sagt er. »Wenn wir ein Kind ignorieren und traumatisieren, kann dieses Kind, wenn es überlebt, durchaus zum Terroristen von morgen werden.«

Gewalt und Verbrechen sind Teil von Andersons Romanen, die aber keinem gängigen Schema der Kriminalliteratur entsprechen. Er habe es versucht, aber er sei offenbar nicht fähig, einen traditionellen Krimi oder Thriller zu schreiben, erzählte er mir, er habe von Verlagen und Agenten viel Ablehnung, teils in rüdem Tonfall erlebt. Doch Genres interessieren ihn ohnehin nicht wirklich. Ihm geht es ganz einfach um eine gute Geschichte, die gut geschrieben ist. Obwohl er als erklärter Vielleser auch Krimis liest – zu seinen Helden zählen da etwa James Lee Burke, Robert B. Parker, C. J. Box, Sara Paretsky, John le Carré und der Niederländer Janwillem van de Wetering –, inspirieren ihn beim Schreiben seiner eigenen Romane eher klassische Autoren. Besonders wichtig sind ihm dabei Goethe und Rilke, Mark Twain, Eudora Welty und Willa Cather, Gabriel García Márquez und Michail Bulgakow.

Anderson ist geerdet durch die eigenen Erfahrungen, belesen in klassischen wie der neuen Literatur der Welt. Und er ist, sowohl als Leser wie als Autor, stark beeinflusst durch die Lyrik. Obwohl nur wenige Romantautoren diese Ansicht teilten, sei er überzeugt, dass die Möglichkeiten der Sprache der Poesie zur Vermittlung von Empathie beim Schreiben von Romanen nicht nur hilfreich, sondern wesentlich seien.

Trotz des Einflusses durch Klassiker wie Goethe und Rilke und die Sprache der Poesie sind Andersons Romane sehr modern. Und sie sind beinhart. Düster. Desert Noir. Simpel sind sie nie. Dafür voller Paradoxe, die oft ziemlich ironisch daherkommen. Und immer wieder stößt man bei der Lektüre auf beiläufige Aussagen, die einem, oft auch mit einem Augenzwinkern, unaufdringlich Einsichten oder Lebensweisheiten mit auf den Weg geben. Einer meiner Lieblingssätze dieser Art in »Lullaby Road« lautet: »Was dich nicht umbringt, macht dich nicht stärker oder sogar weiser, es wartet geduldig auf eine weitere Chance.«

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