Es war ein erstaunliches Archiv

Ein Nachwort von Jürgen Ruckh
©Max Soklov / Adobe Stock

Als William Gay am 23.Februar 2012 starb hatte er drei Romane und drei Kurzgeschichtensammlungen veröffentlicht. Die Romane »The Long Home«, »Provinces of Night« und »Twilight« erschienen auch auf Deutsch im Arche Verlag und bei Argon. Somit war das dem Lesepublikum zugängliche Œuvre bei seinem Tod sehr überschaubar. Dies lag sicherlich auch daran, dass William Gay seine erste Veröffentlichung erst im Alter von 55 Jahren abschließen konnte. Ab diesem Jahr, 1998, änderte sich das Leben von William Gay. Bis in die späten 1990er Jahre hatte William Gay den größten Teil seiner Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Seine Notizbücher enthielten die vier Romane »The Lost Country«, »The Long Home«, »Province of the Night« und »Fugutives of the Heart«. Auch die Geschichte um Stoneburner befand sich darunter.

William Gay, der nach eigener Aussage am 27.Oktober 1941 im Lewis County, Tennessee, geboren wurde, war der älteste von drei Brüdern. Die Familie lebte in der ärmsten Gegend des Landes, in der sogenannten Swiss Colony. Über das Geburtsjahr gibt es verschiedene Angaben, oder wie das Leben von Gay schon beschrieben wurde: Es scheint, dass es von allen Angelegenheiten, die in Beziehung zu William Gay stehen, keine Tatsachen, sondern nur Geschichten gibt. So erscheint als Angabe des Geburtsjahres auch das Jahr 1943 während, laut seinem Bruder, William im Jahre 1939 geboren wurde. Als William ungefähr 15 Jahre alt war, zog die Familie nach Grinder’s Creek um. Sie kamen auf einer großen Farm als Pächter unter und brauchten keine Miete zu bezahlen. Die Familie musste sich nur um alles kümmern. Mit der Literatur kam William Gay durch einen Lehrer in Berührung. Dieser bemerkte, dass William sehr viel las. Darunter alles von Zane Grey und Erle Stanley Gardner, Mickey Spillane und Erskine Caldwell. Der Lehrer gab ihm »Look Homeward, Angel« von Thomas Wolfe und »The Sound and the Fury« von William Faulkner. William Gay beschreibt es wie folgt: »Das Buch (Look Homeward, Angel) änderte mein Leben. Ich begann in der gleichen Nacht zu lesen und wurde vom ersten Satz an in das Buch hineingezogen. Die Landschaft, die Wolfe beschrieb, wurde greifbarer für mich als mein eigener Hinterhof und die Personen in Wolfes Roman wurden so real wie die Menschen in meinem täglichen Leben. Das Buch hob einen Vorhang von der Welt.«

Als er von der Schule abging, schrieb er sich in der Navy ein und diente dort zwei Jahre. Auch in Vietnam. Als William seinen Dienst beendet hatte, ging er nach New York und lebte dort für eine Weile im Village. Er fand seinen Weg zurück nach Lewis Country, brach aber bald wieder auf, um mit seinem Bruder nach Chicago zu gehen, um Geld zu verdienen. Er fand Arbeit, aber das Leben in der Stadt machte ihn nicht zufrieden und bald ging er zurück nach Hohenwald, siedelte sich dort an und verbrachte den Rest seines Lebens dort. Von da an, bis er 1998 anfing die ersten Texte zu veröffentlichen, arbeitete er als Zimmermann, Trockenbauer und Anstreicher. Ab und zu arbeitete er in einer Fabrik, aber dies dauerte immer nicht allzu lange. Während dieser Zeit schrieb er, wann immer er Zeit dafür fand, in seine Notizbücher. Kurzgeschichten, Entwürfe und ganze Romane.

1968 heiratete er Diane Bowen und wurde Vater von zwei Jungs und zwei Mädchen. Während der gesamten Zeit schrieb er in seine spiralgebundenen Notizbücher, füllte sie mit seiner Handschrift auf beiden Seiten. Eines Tages fand er das Buch »Outer Dark« von Cormac McCarthy in einem Kramladen. Er war fasziniert, jemanden zu finden, der in einem Stil schrieb, der vergleichbar mit den großen Schriftstellern war, wie z. B. Faulkner, den William so bewunderte. Die über die Menschen und die Orte des ländlichen Tennessee schrieben. Er nahm Kontakt mit McCarthy auf und daraus entwickelte sich eine intensive Freundschaft und schriftstellerische Zusammenarbeit. So bekam William Gay eines Tages das unveröffentlichte Manuskript von »Suttree« oder William Gay gab McCarthy einen langen Auszug von »Provinces of the Night« zum Vorablesen. Diese kollegiale Freundschaft war auch der Grund, dass das Manuskript von »Stoneburner« erst im Nachlass gefunden wurde.

J. M. White, ein enger Freund und Bewunderer von William Gay, lernte ihn in Hohenwald kennen. J. M. White arbeitete für eine gemeinnützige Organisation in Hohenwald. Hohenwald ist eine sehr kleine ländliche Stadt von ungefähr 3.000 Einwohnern in einem Hinterwäldler Land. Und es ist die Kreisstadt vom Lewis County, das ungefähr eine Einwohnerzahl von 11.000 hat. Hier hörte er zum ersten Mal von William Gay und kaufte sich seine Bücher. Er fand es erstaunlich, dass ein Schriftsteller von seiner Kraft und Stärke in diesem kleinen obskuren ländlichen Dorf geboren worden und aufgewachsen ist. Er suchte ihn auf und blieb mit ihm in Kontakt.

Nach dem Tod von William Gay erhielt er einen Anruf von Williams jüngsten Sohn, der ihm erzählte, er hätte eine Wanne voll mit Notizbüchern seines Vaters und bat ihn vorbeizukommen, um das Material zu sichten. Als er dort eintraf, wurde ihm eine Plastikwanne gezeigt, gefüllt mit den handschriftlichen Notizen, meist auf gelben Blöcken und ein paar spiralgebundene Notizbücher. Darunter auch einiges, das mit Schreibmaschine geschrieben worden war. Ein erstaunliches Archiv, das hier von William Gay auftauchte. Insgesamt wurden 58 Notizbücher gefunden. Aus diesem Fund wurden bislang drei Romane posthum veröffentlicht. »Little Sister Death«, das eine Romanfassung der berühmten Gespensterhaus Sage um die »Bell Witch« in Tennessee ist, »The Lost Country« und unter diesen vielen Manuskripten fand sich ebenfalls auch der Roman »Stoneburner«. Die Geschichte der Vietnam Veteranen Stoneburner, der sich als Privatdetektiv durchs Leben schlägt, und Thibodeaux, die einmal Freunde waren. Thibodeaux, der nun mit einer wunderschönen Blondine und einem Koffer voller Geld auf der Flucht ist und dem alternden ehemaligen Sheriff Cap Holder in die Quere gekommen ist. Holder, der viel Geld in Hollywood verdient hatte und nun von seinem Ruhm lebte. Pate für diese Figur stand der wirkliche Sheriff Buford Pusser, eine lokale Legende von Tennessee, dessen Leben auch für den Film »Walking Tall« verarbeitet wurde.

Thibodeaux und Stoneburner hatten im Krieg eine Art Freundschaft geschlossen. Nun zurück in der Heimat suchen sie nach einem Platz, an den sie gehören. So war Thibodeaux »nach zwei Jahren im Dschungel mit nichts zurückgekehrt als einer billigen, mit Samtimitat ausgeschlagener Schachtel für eine Medaille, die er nicht wollte, und einer Menge nach Plastik aussehenden Narbengewebe auf dem rechten Oberschenkel, das er ebenfalls nicht wollte. Das Leben hatte ihn abgehängt.« Auch Stoneburner, der ebenfalls auf der Suche oder auf der Flucht vor der Vergangenheit und vor sich selbst ist, hat an Vietnam zu knabbern: »Der Krieg hat uns alle kaputt gemacht. Er hat es allerdings auf unzählige Arten und Weisen getan, und manchmal merkt man’s gar nicht.«

Viel wird in diesem Roman gebaut. Stoneburner baut sich eine Hütte am Fluss und Thibodeaux ist Hilfsarbeiter beim Bau. Geschildert wird die Zurückgeworfenheit auf das einfache manuelle Arbeiten, das mit eigenen Händen erbaute und geschaffene. Hier dürfte viel von William Gay selbst enthalten sein, der ja selber seinen Lebensunterhalt mit Hilfstätigkeiten beim Bau verdient und sich auch sein eigenes Haus hergerichtet hat. So kam Thibodeaux das stetige Anschleppen von Backstein und Mörtel wie der einzige klare, verständliche Teil seines Lebens vor, und deshalb, so dachte er, sollte er es besser jemand Fähigerem überlassen, den Rest zu ordnen.

Beide sind auf der Suche. Nach einem Platz in der Gesellschaft, nach dem Glück, nach Liebe, aber beide wissen, dass sie all dies wahrscheinlich nicht mehr finden werden. Sie scheitern. Thibodeaux auf seine verrückte Art und Stoneburner in vollem Bewusstsein, dass die Welt voller Lüge und Verrat ist.

»Ab da war mir alles egal. Ich war hierhergekommen, weil ich nichts Besseres hatte, aber jetzt überkam mich ein primitives Bedürfnis, weiterzuziehen, nach Westen, meinen Pick-up mit Vorräten vollzuladen, einen Schlafsack mitzunehmen und dem allmächtigen Highway zu folgen.«

William Gay hatte J. M. White einmal erzählt, dass er einen Roman geschrieben habe, der bereit war zur Veröffentlichung. Die Geschichte war im Stil einer hardboiled Detektivgeschichte geschrieben und sollte wahrscheinlich eine Reminiszenz an Lew Archer und dessen Schöpfer Ross Macdonald sein. Ross Macdonald war einer der Lieblingsautoren von William Gay. Gay hatte schon einen Verleger, der diese Geschichte veröffentlichen wollte und dann, gerade als er soweit war den Roman zu veröffentlichen, wurde das Buch von Cormac McCarthy »No Country for Old Men« herausgebracht. Eine Geschichte um einen Drogenhandel, der schiefging, einen Akteur mit einem Koffer voller Geld und einen alten Sheriff, der sich an seine Verfolgung macht. William Gay entschied, seine Geschichte nicht zu veröffentlichen, da es, wenn er seinen Roman veröffentlichte, danach ausschauen könnte, dass er die Story von McCarthy gestohlen hätte. So zog er das Manuskript vor der Veröffentlichung zurück. Dazu kam, dass William Gay immer sehr empfindlich gegenüber Vergleichen mit Cormac McCarthy war. William Gay schrieb auf das Manuskript von Stoneburner:

»Meine ursprüngliche Idee zu diesem Roman, einem Krimi oder Thriller, entsprang dem Mangel an einer besseren Welt und war es eine Serienfigur in der Art von Raymond Chandlers Philip Marlowe oder Lew Archers von Ross Mcdonald zu erschaffen, um eine Art »Film Noir auf Papier« zu schreiben. Aber Bücher, wie Faulkner schon sagte, passen nie zu dem Traum, die sie davon hatten, und es ergab sich, dass es sich schlussendlich um drei Charaktere handelte, die mit der Vergangenheit versklavt sind und sich nicht ganz davon befreien können.«

In der Welt von William Gay liegt das Gesetz meistens machtlos und ausgetrocknet auf der anderen Seite der Stadt, wie es einmal beschrieben wurde. Das Gesetz kann ohne großen Aufwand beschwichtigt oder ganz ignoriert werden. Und wenn es sich trotzdem einmal Respekt verschaffen will, scheint dies ein hartnäckiger Affront gegen das Recht eines Einzelnen auf Freiheit zu sein. In seinen besten Passagen schrieb Gay mit der Weisheit und Geduld eines Mannes, der selbst schwere Zeiten erlebt und daraus gelernt hat, dass Verzweiflung oder Sicherheit bessere Zeiten nicht zurückbringen werden. Er betrachtet Schönheit und Gewalt gleichermaßen und erstellt eine genaue Abrechnung darüber, wie viel von jedem in Einem steckt. Dabei ähnelt er seinem Vorbild Faulkner, der die Fähigkeit des Menschen, Leid zu erfahren, zu erdulden und ihr ärmliches und mühseliges Leben zu leben beschreibt. Und wie William Faulkner, der einen Großteil seines Schaffens auf das fiktive »Yokmapatawpha Country« und dort in der Stadt Jefferson in Mississippi konzentrierte, schuf William Gay eine Heimatstadt, Ackerman‘s Field in Tennessee, für seine äußerst exzentrischen, wütenden und moralischen Charaktere.