»EIN MANN SIEHT ROT«

Ein Nachwort von Peter Henning

»Ein Mann kann sich immer an die Regel gehalten haben, und plötzlich ist alles scheißegal«

Raymond Carver

©Max Soklov / Adobe Stock

Es ist eine an sich kleine und für die amerikanisch-mexikanische Grenzregion, in der sie spielt, leider allzu alltägliche Geschichte, die Sam Hawken in seinem nunmehr dritten, auf Deutsch vorliegenden Roman erzählt: Ein Mann sucht seine dort verschwundene Stieftochter – und stößt darüber auf die dunkle, gewalttätige Seite seines Ichs.

Doch Hawkens beeindruckende epische Gelassenheit, mit welcher er sie wie in Zeitlupe vor uns ablaufen lässt, bewirkt in Verbindung mit der psychologischen Genauigkeit, mit der er seine Figuren ausleuchtet, dass eine große gleichnishafte Erzählung daraus wird. Auch wenn sie so schmutzig und blutig endet wie das meiste dessen, was sich an ihrem Schauplatz, der im nördlichsten Bundesstaat Mexikos Tamaulipas gelegenen Stadt Nuevo Laredo abspielt; jener sozial zutiefst zerrissenen, 384 Tausend-Seelen zählenden »Grenzhölle«, die die meisten meiden wie die Pest. »Denn da drüben werden jeden Tag fünf, sechs Leute umgebracht«, heißt es entsprechend in Hawkens 2015 auf Deutsch erschienenem Roman »Kojoten« dazu. »Die haben es mit einer Situation zu tun, die gerade außer Kontrolle gerät.«

Kein Happy End – nirgends! sollte demzufolge in riesigen Lettern an den Ortseingangs- und Ausgangsschildern von Nuevo Laredo stehen. Denn da, wo Hawkens »Vermisst« langsam anrollt, und unweit davon baumhohe Zäune die Grenze zu Amerika sichern sollen, sind Korruption, Vergewaltigung und Mord und Menschenhandel an der Tagesordnung.

Ein Schauplatz wie gemalt für einen Erzähler, der es sich seit nunmehr drei Büchern zur Aufgabe gemacht hat, mit seinen Sätzen in diesem Sumpf herum zu leuchten wie ein Onkologe in verkrebstem Gewebe: Um Aufklärung zu betreiben und Partei zu nehmen für jene, die dort verrecken. Und um unseren Blick für das, was da tagtäglich mit mörderischer Stringenz abläuft, immer neu zu schärfen. Denn wenn Leute wie er es nicht tun, wer dann?

Offenbar hegt dieser beinharte Moralist ein ausgeprägtes Faible für all jene, die gegen alle Logik und den bösen Geist des Ortes an ihren moralischen Grundwerten festhalten – und selbst in der größten menschlichen Finsternis nach einem flackernden Lichtlein suchen, das ihnen den Weg weist in ein wenn auch noch so kleines Glück. Oder einfach nur den Pfad nachhause, nachdem das Morden zu Ende ist. Und man noch lebt.

Hawken hat an der Universität von Maryland Geschichte studiert – und offenbar früh begriffen, dass Leben kämpfen heißt, seit es Menschen mit und unter Menschen auszuhalten versuchen.

Häufig um Würde, Respekt und Anstand. Viel öfter aber um die eigene, in Gefahr geratene Haut. Insbesondere da, wo die Grenzen der USA auf die von Mexiko knallen, die Tektonik hochfragil und die Stimmung latent explosiv ist – und die Salven abgefeuerter Revolver Nacht für Nacht die warnende, beklommen machende Melodie des Todes anstimmen.

Doch genau dieses unselige Stimmungsgemisch liefert Hawken den Treibstoff für seine mitreißenden, latent wütenden Bücher, die bei allem Engagement behutsam gezeichnete Bilder des Lebens in den amerikanisch- mexikanischen Todesstreifen liefern; Sozialstudien vom entzündeten, schorfigen Rand der amerikanischen Gesellschaft – ohne Larmoyanz und falsches Pathos.

Man kennt Derlei aus den von dornigen Hinterwäldler- Kulissen geprägten Romanen von Daniel Woodrell, dem ungekrönten König des Country-Noir, oder aus Tom Boumans hypnotischen, in den Apalachen, im Nordosten Amerikas wurzelnden Endspielen, in denen um ihr Land und noch mehr Betrogene einen sinnlosen Abnutzungskrieg gegen den Staat und rücksichtlose Fracking-Unternehmen führen, die mit ihren Baggern tiefe Wunden ins Erdreich – und ihre Seelen reißen.

Was Hawkens Bücher aber vor allem so faszinierend macht, das sind die Figuren, die in ihren Zentren stehen – und die das Gegenteil von Abziehbildern sind: trotzige Don Quichotte-Figuren, die er immer neu in ihre aussichtslosen Windmühlen-Kämpfe schickt auf der Suche nach der verborgenen Wahrheit.

Sie spielen dort, wo der amerikanische Traum längst zum amerikanischen Alptraum geworden ist. Und dieser Erzähler – daran lassen seine Arbeiten keinen Zweifel – kennt das, was er beschreibt.

Er weiß, dass realistische Literatur, wie er sie produziert, nur so überzeugend ist wie das Material ist, das sie verhandelt. Kommt beides zusammen, entstehen Bücher wie die seinen, in denen die Bilder sich wie von selbst abspulen: Kopf-Kino – hart und sinnlich und pur.

Waren es zuletzt in »Kojoten« (2015) eine Texas-Rangerin, ein ehemaliger Schleuser und sogenannter »Kojote« und eine junge Frau aus El Salvador, die in der Grenz- und Todesregion zwischen El Paso und Juárez um Sinn und ums Überleben ringen, so ist es in Hawkens nunmehr drittem, und wohl bestem Grenz-Epos »Vermisst« ein Mann, der seine Aufgabe darin sieht, gegen Lohn Häuser zu sanieren – und seine beiden Stieftöchter großzuziehen, nachdem deren Mutter früh verstorben ist. Einer, der auf den Namen Jack Searle hört, und irgendwann aufgehört hat, mehr als das zu wollen. Und Gott nicht mal anruft, wenn es wirklich eng für ihn wird, weil da oben sowieso keiner ist – oder, wenn doch, ja doch immer nur besetzt ist.

Der klassische Kriminalroman folgt, das wissen wir nicht erst seit Patricia Highsmiths Band »Suspense«, bestimmten Grund-Kriterien. In Hawkens Büchern lösen sie sich teilweise auf. Zwar folgen sie allesamt dem erzählerischen Fluchtpunkt des »whodunit«, erweisen sich aber genau betrachtet weniger als klassische Krimis, sondern vielmehr als hochauflösende Gesellschaftsromane, in denen kriminelle Dinge geschehen.

In Jack Searle nun, einem amerikanischen, im Schmerz und Verlust von seinen Werten abfallenden Jedermann kristallisiert sich exemplarisch jenes altehrwürdige Gemisch aus letzten Resten von Romantik, verschrobenem Individualismus und dem nicht tot zu kriegenden Glauben an Gerechtigkeit, das Leute wie ihn am Ende so überraschend und faszinierend erscheinen lassen. Warum? Weil sie darin über den klassischen, oft reglementierten Krimihelden hinausweisen, facettenreicher erscheinen. Vor allem nachdem Jack Searle zu einer Django- oder Dirty-Harry-Figur geworden ist, die nur noch auf Rache aus ist. Ein Einzelkämpfer auf verlorenem Posten, der – nachdem klar ist, dass er seine in den Labyrinthen des mexikanischen Menschenhandels für immer verloren gegangene Tochter Marina nie wiedersehen wird – seine Antwort darauf in Blut schreibt, in dem er nur noch dem biblischen Auge-um-Auge – Zahn-um-Zahn zu gehorchen vermag. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Mehr noch erinnert er darin an den New Yorker Architekt Paul Kersey aus Michael Winners Streifen »Ein Mann sieht rot« von 1974, der – nachdem seine Frau bei einem Überfall getötet und seine Tochter vergewaltigt wurde, zur Waffe greift, und – genau wie Jack Searle, nachdem er nicht länger auf die Hilfe der Polizei zählen kann – Selbstjustiz übt, sich mit Gewalt gegen Gewalt zur Wehr setzt und die Wahrheit hinter Türen sucht, die man nicht ungestraft öffnet.

All das führt Hawken in einer Sprache vor, die befreit ist von jeglichem Ballast. Er hat ein Ohr für das gesprochene Wort seiner Figuren, spricht ihre Sprache. So fährt er immer neu ganz nah ran an sie – vertraut im Umgang mit adaptierten Elementen aus der Filmsprache wie Close-Up, Totale, Schuss-Gegenschuss. Denn er beherrscht das gekonnt, was man das Setting nennt.

Und bei all dem lässt er keinen Zweifel daran – auch wenn Jack Searle am Ende des Feldzugs, den er mehr oder weniger erfolglos gegen die Mörder seiner Tochter und deren Cousine führt, lebend heimkehrt – dass die Zustände im von ihm sondierten Grenzgebiet Vorboten eines latenten Wandels sind, die bereits im Begriff sind sich fortzupflanzen, von den Rändern hinein ins Innerste Amerikas. Und die weitere zahllose Opfer einfordern werden in diesem großen Schlachten und Verschleppen. Männer wie Jack Searle. In den Appalachen, in Nuevo Laredo, in den Ozarks und anderswo. Heute. Morgen. Nächstes Jahr.

Doch noch haben die Vorboten die Kapitalen nicht erreicht, noch tobt dieser schmutzige Krieg an den rostigen Rändern der Gesellschaft, in Hillbilly-Land, wie J. D. Vance die äußersten Regionen fern der Zentren der USA in seinem gleichnamigen Buch nennt – wo Verlierer gegen Verlierer kämpfen. Oder – wie in Hawkens Büchern – unbescholtene Bürger gegen korrupte Polizisten, Drogensüchtige gegen ihre Dealer und umgekehrt. Frauen gegen ihre Kidnapper und Kindesentführer.

Doch die gröberen Lebensformen – auch daran lassen Hawkens Bücher keine Zweifel – machen bereits mobil. Das Geschwür wächst, breitet sich scheinbar unaufhaltsam aus, frisst sich weiter fort auf Amerikas Landkarte.

Cormac McCarthy, dieser lange in El Paso und in der Gegend von Tesuque lebende Prediger des Untergangs, hat diese Botschaft bereits vor Jahren in verstörenden Meisterwerken wie »Verlorene«, »Die Abendröte des Westens« oder »Grenzgänger« unmissverständlich vorformuliert.

Sam Hawken, dieser unerschrockene literarische Anwalt der Gedemütigten, Geschlagenen und Gejagten verleiht ihr mit seinen Büchern nun eindrucksvoll Nachdruck.

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