Leseprobe: Attica Locke – Black Water Rising

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Gerade als sie zurück in die Kajüte gehen wollen, hören sie den Schrei, der im ersten Augenblick wie der einer Katze klingt, schrill und verzweifelt. Er kommt von der Nordseite des Bayou, irgendwo hoch über ihnen aus dem Dickicht der Bäume und Büsche am Ufer. Jay denkt an ein Tier, das sich im Gestrüpp verfangen hat. Doch dann hört er es erneut. Er sieht zu seiner Frau, die ebenfalls zwischen die Bäume späht. Aus dem engen Ruderhaus am Bug, in dem Steuerinstrumente und Armaturen untergebracht sind, taucht der alte Mann mit der Baseballkappe auf. »Was war das?«, fragt er und sieht Jay und Bernie an. Jay schüttelt den Kopf, obwohl er es bereits weiß. Irgendwo tief in seinem Inneren weiß er es. Was er da gehört hat, war kein Tier. Das war eine Frau. Der Alte verschwindet in der Kajüte. Ein paar Sekunden später verstummt die Musik, und dann folgt Stille, nur unterbrochen vom leisen Plätschern der Wellen, die gegen den Rumpf des Boots schlagen, während es langsam auf dem Bayou dahingleitet.

Der Alte tritt aus der Kajüte wieder an Deck. »Haben Sie das auch gehört?« »Es kam von da drüben«, sagt Bernie und zeigt auf das Ufergestrüpp. Jay versucht, hinter den Bäumen Gebäude zu erkennen, die ihm verraten, wo sie sind. Rasch überschlägt er die Entfernungen, um abzuschätzen, wie weit sie noch nach Downtown haben, wie lange sie schon wieder nach Westen gefahren sind. Aber in der Dunkelheit und mit einem vom Alkohol beeinträchtigten Zeitgefühl kann er nur raten. Sie dürften sich in der Nähe des Lockwood Drive befinden, in der Nähe des Fifth Ward. Von hier aus kann er einen Teil der Uhr an der Freedman’s National Bank sehen, die sich hinter den Bäumen erhebt. Es ist spät, kurz vor Mitternacht. Er hat einige Fälle aus dem Fifth Ward vertreten. Eigentumsstreitigkeiten und Bagatelldiebstähle. Aber auch Schlägereien und Raubüberfälle und einen Jungen, der einen anderen niedergestochen hat, nur weil der seine Musik zu laut laufen ließ. Jay weiß, dass sie auf der Rückseite eines der rauesten Viertel der Stadt unterwegs sind.

Bernie dreht sich zu ihm um. »Da stimmt was nicht, Jay.« Hinter ihnen ist erneut ein Schrei zu hören, genauer gesagt ein Aufheulen, ein Flehen. Die Stimme einer Frau, die ganz deutlich ein Wort ausstößt: Hilfe. Jay spürt ein leichtes Flattern in der Brust, als hätte er vor Schreck Schluckauf bekommen. Bernie senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Was zum Teufel ist da los?« Der alte Mann verschwindet im Ruderhaus. Ein paar Sekunden später taucht er mit einer Taschenlampe wieder auf. Bernie und Jay treten auf dem engen Deck zur Seite, damit er an ihnen vorbei zum Heck gehen kann. Er richtet den schwachen Lichtstrahl auf das Gebüsch am Nordufer des Bayou und ruft jemandem, den sie in der Dunkelheit nicht sehen können, zu: »Alles okay da drüben?« Niemand antwortet. Der Alte leuchtet mit der Taschenlampe zwischen die Bäume. In gleichmäßigem, langsamem Tempo gleitet das Boot dahin und entfernt sie immer weiter von der Frau. Der Alte ruft erneut. »Hey … alles okay da drüben?« Ein Schuss zerreißt die Stille. Jays Herzschlag setzt aus, alles erstarrt. Das war’s, denkt er einen panikerfüllten Moment lang. Unwillkürlich blickt er an sich hinunter, ob er getroffen ist, eine alte Gewohnheit, ein Überbleibsel aus seinem anderen Leben, in dem ihn jede Fehlzündung in Angst und Schrecken versetzte. Dann folgt ein zweiter Schuss. Wie ein Donnerschlag hallt er durch die Luft. Dem Alten entweicht ein heiseres Stöhnen. »Gott steh uns bei.« Bernie murmelt ein Gebet. Jay packt sie bei der Hand, zieht sie zur Kajütentür, weg vom offenen Deck. Bernie reißt sich mit einer so kraftvollen, heftigen Bewegung los, dass sie auf dem glitschigen Deck ins Rutschen kommt. Sie hält sich an der Reling fest und dreht sich zu dem Alten. »Sir, ich denke, Sie sollten besser umdrehen.« Der Alte starrt Bernie an, unsicher, ob sie das ernst meint. »Geht nicht«, sagt er an sie und Jay gerichtet. »Dafür ist’s viel zu eng hier. Nach dem Basin gibt’s bis Allen’s Landing keine Stelle mehr, wo ich umdrehen könnt.« »Dann halten Sie das Boot an«, sagt Bernie.

Als der Alte einen raschen Blick zu Jay wirft, um klarzustellen, dass er von der Schwangeren keine Anweisungen entgegennimmt, die der Ehemann nicht abgenickt hat, wird Bernie wütend. »Halten Sie das Boot an«, wiederholt sie. Schließlich gibt der Alte nach und setzt sich in Richtung Ruderhaus in Bewegung. Jay packt ihn am Arm. »Nicht.« »Da drüben steckt jemand in Schwierigkeiten, Jay!« »Da drüben sind zwei Leute, B«, sagt er. »Die Frau und irgendwer oder irgendwas, vor dem sie wegläuft.« Er sieht einen Überfall vor sich oder eine Prügelei, ein streitendes Liebespaar oder etwas Schlimmeres … etwas sehr viel Schlimmeres. »Misch dich nicht ein«, hört er sich selbst sagen. Bernie starrt Jay an. »Was ist denn bloß los mit dir?« Ihre Stimme ist nur mehr ein Flüstern. Ihre Enttäuschung trifft ihn, aber darum geht es jetzt nicht. »Da drüben schießt jemand, B«, sagt er. »Auf diesem Boot sind nur ich und er …« Er zeigt auf die einzige andere einsatzfähige Person an Bord, ein Mann um die siebzig. »Und meine Frau«, fügt er hinzu und senkt ebenfalls die Stimme. Er sucht nach Argumenten. »Ich werde weder dich noch mich in Gefahr bringen, indem ich mich in was einmische, von dem wir keine Ahnung haben. Wir kennen diese Frau nicht, wir wissen nicht, in welche Schwierigkeiten sie uns vielleicht bringt«, sagt er und hört selbst den abstoßenden Zynismus in seiner Stimme, trotzdem muss er es sagen. Der älteste Trick der Welt, denkt er, eine Frau in Not. Das Mädchen mit der Reifenpanne am Straßenrand, dessen Freund im Gebüsch lauert, um sich auf einen zu stürzen, sobald man anhält, um zu helfen. »Misch dich einfach nicht ein«, sagt er. Ein paar qualvolle Sekunden lang sieht Bernie ihn an, kneift die Augen zusammen, als würde sie ihn abschätzen, jemanden, den sie eigentlich gut zu kennen glaubt. »Mensch, Jay«, sagt sie schließlich mit einem Seufzen.

»Wir benachrichtigen die Polizei«, sagt er plötzlich entschlossen. Das ist gut: sauber, einfach, vernünftig. Der Alte steht verlegen da und schabt mit dem rechten Fuß über das Deck. »Wir haben keine Lizenz von der Stadt, um die Zeit mit dem Kahn rumzufahren.« »Was?«, sagt Jay. »O Gott«, murmelt Bernie. »Rufen Sie die Polizei, Mann«, sagt Jay bestimmt. Der Alte seufzt und geht zu einem ehemals weißen Telefon, das öl- und dreckverschmiert neben der Tür des Ruderhauses hängt. Er nimmt den Hörer, der wie ein Walkie-Talkie oder ein CB-Funkgerät aussieht. Er wählt, wartet, lauscht, angestrengt, wie es scheint. Jay und Bernie sehen zu, wie er ein paarmal auf die Tasten drückt. Als er nichts hört, knallt er den Hörer wieder auf die Gabel. Offenbar funktioniert das Telefon nicht. »Jimmy, dieser Blödmann«, sagt er. Erneut ertönt ein Schrei, näher dieses Mal. Bernie reißt dem Alten die Taschenlampe aus der Hand und richtet den trüben weißen Lichtstrahl gerade rechtzeitig aufs Ufer, um eine Regung zwischen den Bäumen, eine Bewegung im Gebüsch einzufangen. Sie sehen, wie jemand fällt, über die steile Böschung stürzt, zwischen dem Gestrüpp und den Erhebungen im Boden hin und her geworfen wird. Der Körper rollt bis ans Ufer und dann … verschwindet er. Jay hört ein leises Platschen und ein saugendes Geräusch, als der Bayou den Körper verschluckt. Dann … nichts mehr. Eine gefühlte Ewigkeit lang. Bernie sieht Jay an. Tief in der Kehle spürt er seinen Herzschlag. Gleich darauf kräuselt sich die Wasseroberfläche, und kleine Wellen breiten sich aus wie Arme, die sich zu einer Umarmung öffnen. »Da bewegt sich was«, murmelt der Alte. Es blubbert und gurgelt. Etwas taucht auf. Jay hört Wasser aufspritzen, dann einen heiseren Schrei, ein Ringen nach Luft. Ohne um Erlaubnis zu fragen, stapft Bernie zum Ruderhaus.

Der Alte macht Anstalten, sie aufzuhalten, besinnt sich dann anders. Bernie schafft es kaum, sich in den engen Raum zu quetschen. Sie muss an ihrem Bauch vorbeigreifen, um den Schlüssel zu packen, der aus dem Armaturenbrett ragt, und dreht ihn nach links. Stotternd verstummt der Motor. Keiner an Deck rührt sich, keiner sagt etwas. Bernie und der alte Mann sehen Jay an. Wortlos nimmt er mit einer raschen Bewegung die Uhr ab, aber nicht den Ehering, und dabei geht ihm durch den Kopf, dass dies einer der Momente ist, in denen das Mannsein, oder besser gesagt dessen einigermaßen überzeugende Verkörperung, die Oberhand über sein Urteilsvermögen gewinnt. Er ist nicht besonders kräftig, und im Lauf der Jahre hat sein Körper die Drahtigkeit verloren. Jay schleudert die Schuhe von sich, reißt das Hemd über dem kleinen Rettungsring um seine Mitte aus der Hose. Er will es sich über den Kopf ziehen, überlegt es sich dann aber anders. Unbeholfen klettert er auf die Reling, holt tief Luft, hält sie an und springt. Das Wasser ist warm und bitter. Es ist überall, dringt in seinen Mund und Rachen, durch seine Kleidung. Unter der schwarzen Oberfläche ist der Bayou lebendig, zieht an ihm, zerrt an seinen Armen und Beinen. Er spürt, wie Zweige und Blätter und etwas, von dem er hofft, dass es Fische sind, seine Arme und Beine streifen. Er meint einen schwachen Lichtschein vom Boot her zu erkennen, aber seine Augen brennen, und er kann nicht klar sehen. Blind bewegt er sich durch die Finsternis, folgt dem Klang der Stimme, den Geräuschen. Als seine Hände in etwas Strähniges greifen, das sich um seine Finger windet, weiß er, dass er sie gefunden hat, er hat ihre Haare in den Händen. Sie röchelt, spuckt, hustet. Er legt einen Arm um ihren Brustkorb und hält sie über Wasser, zieht sie. Er dreht den Kopf zum Boot, und das helle Licht blendet ihn und raubt ihm einen Moment lang die Orientierung. Er zieht und schwimmt und schwimmt und zieht, bis seine Beine brennen, bis seine Arme schwer werden, bis er sicher ist, dass sie beide ertrinken werden. Ein paar Meter vom Boot entfernt legt er noch einmal zu, zwingt sich über seine Grenzen hinaus. Als er die schmale Leiter am Heck des Boots erreicht, nimmt er alle Kraft zusammen, um die Frau hochzustemmen. Der alte Mann beugt sich über die Reling und hilft ihm, den erschöpften und erschlafften Körper an Deck zu hieven.