»Ich neige dazu, ein Beobachter zu sein. Ich liebe es, den Menschen beim Sprechen zuzuhören.«
Ein Nachwort von Lore Kleinert

Bevor John Vercher seinen Xavier »Scarecrow« Wallace erschuf, hat er ausgiebig beobachtet, zugehört, nachgedacht. Kampfsport der harten Art, Mixed Martial Arts, lernte er am eigenen Leib kennen, MMA ist eine multidisziplinäre Sportart, die Boxen, Ringen und brasilianisches Jiu Jitsu kombiniert, eine Form des Bodenkampfes, die sich auf Unterwerfungsgriffe konzentriert. Vercher hat als junger Mann MMA trainiert, und obwohl er nie professionell gekämpft hat, weiß er, wie es sich anfühlt, in einen MMA-Käfig zu steigen, denn hier kämpft man nicht in einem Boxring, und wenn man zu Boden geht, wird auch nicht bis acht gezählt, sondern weiter draufgehalten. Er ist in diese Welt wie ein Tourist eingetaucht und gibt uns Lesern die Möglichkeit eines Kurztrips in eine fremde Sphäre. Beängstigend und herausfordernd, denn Vercher hat sie so erlebt, ohne mehr als ein Tourist zu riskieren, aber durchaus bereit, sich faszinieren zu lassen. Und zugleich für sein Selbstbewusstsein als junger Mann zu sorgen. Sein beschädigter Held Xavier »Scarecrow« Wallace steckt mittendrin und hat nicht viel anderes, obwohl er über dreißig ist, sehr angeschlagen, verletzt. Aber er will wieder eine Chance haben und nach seiner Auszeit um ein Comeback kämpfen. Er liebt das Training, den Sport, und aus seiner Sicht muss seine Geschichte erzählt werden.
»Dieses Buch war eine Erkundung des Konflikts zwischen meiner Liebe zum Kampfsport und den ethischen Konflikten, die ich empfinde, wenn ich mir diese Wettkämpfe anschaue und sie genieße. Da ich mehr als ein Jahrzehnt im Gesundheitswesen verbracht habe, verstehe ich die psychologischen und physischen Folgen dieser Sportarten auf den menschlichen Körper besser als die meisten anderen, und dennoch habe ich sowohl als Zuschauer als auch als Wettkämpfer teilgenommen. Es ist ein Widerspruch, mit dem ich mich immer noch auseinandersetze.«
Vercher hat beobachtet und zugehört: er war als Physiotherapeut tätig, hat die Folgen der Liebe zum Sport, der Begeisterung kennengelernt, die Wirkung der Verletzungen, die Beeinträchtigungen der menschlichen Sinne. Fußball betrifft das übrigens ebenso wie alle Kampf- und Kontaktsportarten, da ist er sich sicher. Vercher verurteilt nicht, er nutzt seine Erfahrung, um den Fokus immer schärfer zu stellen, immer näher an seinen kaputten Helden heranzukommen. Was bedeutet es, das Gedächtnis zu verlieren, wenn zum Beispiel die Frontallappen des Gehirns durch Schläge und Stürze verletzt werden? »Er leidet unter dem, was ich als Verfall seines Frontallappens beschrieben habe«, sagt Vercher über seine Figur. »Er leidet unter dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Er hat heftige Stimmungsschwankungen. Er schwankt zwischen glücklich, ängstlich und wütend – nicht, dass wir das nicht alle in unserem normalen Leben tun würden, aber er erlebt das jetzt in einem sehr verstärkten Ausmaß.«
Xavier hat Hühnerfleisch und Gemüse eingekauft, und die Lebensmittel verrotten in seinem Auto, denn er kann sich nicht mehr erinnern, sie gekauft zu haben. Xavier nimmt einen Hund auf, den niemand sonst wollte, und verspricht, ihn nie wieder allein zu lassen. Er entpuppt sich jedoch als ein Mann, der seine Versprechen nicht halten kann. Ein unzuverlässiger Held, dessen Erinnerungen und Wahrnehmungen nicht zu trauen ist. Wir werden in den Bann gezogen, von einem Autor, der sich selbst in den Bann hat ziehen lassen, seiner Faszination jedoch nicht verfallen ist. In diesem neuen Roman stellt er eine Figur in den Mittelpunkt, die die Grenze überschritten hat und Schritt für Schritt auf Abgründe zusteuert. »Ich kämpfe«, sagt Vercher im Interview, »mit meiner Liebe zum Kampfsport und meinem Wissen über dessen Folgen, und empfinde dies als sehr widersprüchlich. Als ich als Athlet Kampfsport betrieben habe, war in meinem Kopf noch kein Platz für diesen Konflikt.
Im Nachhinein habe ich jedoch Klarheit gewonnen und in der Fiktion habe ich diese Problematik dann rückblickend erforscht. Es war wichtig, dass ich die durch eigene Erfahrung gewonnene Authentizität auf das Papier brachte, um das Trauma, das diese Athleten erleben, nicht zu trivialisieren oder für Unterhaltungszwecke auszunutzen.«
Ein Widerspruch, mit dem der Autor spürbar noch immer kämpft. Dadurch, dass er die Abwärtsspirale im Leben Xaviers beständig weiterdreht, wird deutlich, dass Vercher die Beschädigungen für wichtiger hält als das Thema der Gewalt. Xaviers Erfahrung als Kämpfer erscheint als zweitrangig gegenüber der größeren Geschichte über seinen Gedächtnisverlust, seine nachlassenden geistigen Fähigkeiten. Die innere Stimme, die ihm Gewalt als einzigen Ausweg und in der Geschichte der Menschheit tief verankert einflüstert, die Überzeugung, der Mensch sei für Gewalt geboren, erscheint als das, was bleibt, wenn alle Kontrollinstanzen der Vernunft versagen. Als Leser hofft man auf Heilung, denn Xaviers Stimmungsschwankungen bieten ebenso wie seine Handlungen scheinbar einen Spielraum dafür an, doch Verchers Schreibstil erweckt die CTE (chronische traumatische Enzephalopathie) in allen Einzelheiten zum Leben. Dazu gehört, dass den Geschädigten die Verantwortlichkeit für ihr Leben, für ihre Fehler abhandenkommt. Schuldig sind dann immer die anderen.
Gespiegelt wird Xaviers Kampf gegen seinen Verfall durch die Alzheimer-Erkrankung seines Vaters Sam: im Pflegeheim wird Xavier Zeuge, dass Sam gegenüber vielen MitarbeiterInnen rassistisch ausfällig wird und in seiner Demenz sogar körperlich gewalttätig geworden ist. Schockierende Vorfälle, die Wahrheiten über seine Vergangenheit und seine Familie ans Licht bringen und Xavier mit seiner schwarzen Mutter in eine neue Verbindung bringen. Auch diese Realität aggressiver alter Weißer, die in ihrer absoluten Schwäche auf längst überwunden geglaubte rassistische Muster zurückfallen, kennt Vercher aus eigener Anschauung.
»Mein berufliches Leben selbst war die Recherche. Ich habe mehr als ein Jahrzehnt als Physiotherapeut in verschiedenen Bereichen gearbeitet, darunter in der Fachkrankenpflege, der häuslichen Krankenpflege und der Sportmedizin, wo ich Zeuge vieler ähnlicher Szenarien wurde, die in den Gesundheitseinrichtungen im Roman vorkommen.«
In seinem Roman verfolgt Vercher die Spuren des alltäglichen Rassismus bis in die Familie seiner Hauptfigur. Seine Mutter verließ die Familie, und ohne zu verurteilen, macht der Autor doch die Ambivalenz jeglichen Handelns in diesem familiären Spannungsfeld deutlich: ihre eigene Befreiung bedeutete für den Sohn Instabilität und mangelnde Möglichkeit, seine eigene Situation realistischer zu beurteilen. Im Kern der Geschichte geht es auch um fehlgeleitete Loyalität und darum, wie formbar und trügerisch das Gedächtnis sein kann, wenn es die Erzählung im eigenen Kopf bestätigen muss. Wie soll sich der Held der Geschichte zudem mit seiner Vergangenheit versöhnen, wenn er die Gegenwart nicht festhalten kann? Die große US-amerikanische Autorin Toni Morrison, für Vercher ein Vorbild, schrieb im Vorwort zur Neuausgabe ihres Romans »Sehr blaue Augen« 2008:
»Vielleicht wissen manche von uns auch, wie es ist, gehasst zu werden – gehasst für etwas, das sich unserem Einfluss entzieht, das wir nicht ändern können. Wenn so etwas geschieht, ist es ein gewisser Trost zu wissen, dass die Ablehnung oder der Hass unberechtigt sind – dass man dergleichen nicht verdient hat. Und wenn man über ein gefestigtes Gefühlsleben und/oder Rückhalt bei der Familie oder den Freunden verfügt, bleibt der Schaden gering oder lässt sich ungeschehen machen.«
John Verchers erstes Buch, WINTERSTURM (Originaltitel »Three-Fifths«), erzählte die Geschichte eines jungen Mannes, der sich mit seiner Rassenidentität auseinandersetzt, nachdem er in ein Hassverbrechen verwickelt wurde. Der Autor selbst hat einen schwarzen Vater und eine weiße Mutter, und auch für ihn war es eine besondere Herausforderung, herauszufinden, wohin er gehört, in einer Gesellschaft, in der Chancengleichheit keineswegs selbstverständlich ist, sondern beständig erkämpft werden muss. Und mit dem Vorurteil, dass Freundschaft mit schwarzen Menschen gegen den eigenen, tief verwurzelten Rassismus immunisiert, räumt Vercher auch in diesem Roman gründlich auf. Sein Schreiben ist insofern auch ein Weg, die gesellschaftlichen Räume zu erforschen, sehr unterschiedliche Facetten aufzuspüren, die eigene Identität immer wieder zu hinterfragen. Seine lebendigen Dialoge zeugen davon, wieviel an Flexibilität und genauer Beobachtung für schwarze Menschen nötig ist, um allen Fallstricken rassistischer Vorverurteilung zu entgehen. Xavier wohnt im Haus seines Vaters in Montgomery County, einem überwiegend weißen Vorort von Philadelphia, und muss sich die offene Feinseligkeit eines Nachbarn gefallen lassen. Seine Konfrontation mit den beiden Polizisten in diesem Viertel ist ein Beispiel für drohende Gewalt, und nur sein Status als bekannter Sportler schützt ihn letztlich.
Die unbedingte und größtmögliche Nähe zu seinem Protagonisten in Verchers zweitem Roman ist zugleich ein Mittel, die Risse im gesellschaftlichen Gefüge aufzuspüren. In der aktuellen Entwicklung der USA drohen sie größer zu werden, mit unabsehbaren Folgen. Xavier wird zum Seismographen dieser Erschütterungen, und anders als in Verchers eigener Biographie ist er durch seinen riskanten Weg als MMA-Kämpfer dazu verurteilt, Opfer zu werden.
»He went down down down
And the devil called him by name
He went down down down
Hangin‘ on the back of a train
He went down down down
This boy went solid down«
(Tom Waits, Album Swordfishtrombones, in Tom Waits, Wilde Jahre, Wolke Verlag)
»Die größte Lernerfahrung für mich war, weiterhin das zu schreiben, was ich lesen wollte, und nicht das, was ich dachte, was von mir erwartet wurde.« (John Vercher 2024)