»Ich bin als Autor ziemlich egoistisch«

John Vercher im Gespräch mit Lore Kleinert
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Das Thema Gewalt macht Faustkämpfe so faszinierend – Xavier, Ihre Hauptfigur,  hört eine innere Stimme, die Gewalt als etwas heraufbeschwört, das in Menschen existiert und schon immer existiert hat. Der Roman verknüpft dies mit dem Thema Rassismus. Wer den „harmlosen Negro“ spielt, habe nichts davon, weil er nicht mehr genug Kraft zum Kampf  aufbringt. Welche Rolle spielt diese Stimme für Xavier, die besagt, dass der Mensch für Gewalt geboren ist? – Wie wichtig ist dieses Thema in der US-Gesellschaft? 
Die Stimme soll Xaviers beschädigten Frontallappen repräsentieren – den Filter des Gehirns, seine Quelle der Vernunft, die Region, die uns davon abhält, Dinge zu sagen, die wir manchmal nicht sagen sollten, die uns davon abhält, Dinge zu tun, die wir nicht tun sollten. Dass die Stimme auf diese Weise zu ihm spricht, soll der Art und Weise, wie wir Gewalt rechtfertigen, auf den Grund gehen. In der amerikanischen Gesellschaft ist es geboten, den angeborenen, animalischen Instinkt zu unterdrücken, als Teil des Gesellschaftsvertrags. Auf der Ebene der Personen geht es darum, dass Xavier sein Talent für Gewalt im Mixed Martial Arts-Käfig und seine moralische Ablehnung dieser Gewalt im Alltag in Einklang bringt, und es bleibt dem Leser überlassen zu entscheiden, welche Identität die jeweils wahre ist und sich gerade durchsetzt.

Welche Rolle spielt die Konfrontation mit Gewalt in Ihrem Schreiben?
Ich bin als Autor ziemlich egoistisch, weil ich zugleich mein Publikum bin. Dieses Buch war eine Erkundung des Konflikts zwischen meiner Liebe zum Kampfsport und den ethischen Konflikten, die ich empfinde, wenn ich mir diese Wettkämpfe anschaue und sie genieße. Da ich mehr als ein Jahrzehnt im Gesundheitswesen verbracht habe, verstehe ich die psychologischen und physischen Folgen dieser Sportarten auf den menschlichen Körper besser als die meisten anderen, und dennoch habe ich sowohl als Zuschauer als auch als Wettkämpfer teilgenommen. Es ist ein Widerspruch, mit dem ich mich immer noch auseinandersetze.

Xavier nimmt einen Hund auf, den niemand sonst will und verspricht, ihn nie wieder allein zu lassen. Er entpuppt sich jedoch als ein Mann, der seine Versprechen nicht halten kann. Warum er sich so entwickelt hat, hat mit seiner Geschichte und vor allem mit den Folgen der Kämpfe für seinen Verstand zu tun; er leidet unter partiellen Gedächtnislücken. Ihr Roman zeichnet Xaviers Weg präzise nach, begleitet ihn, bleibt dicht an seiner Seite und nimmt seine Perspektive ein. War Ihnen von Anfang an klar, wohin ihn das führen würde? Oder haben sich manche Dinge erst beim Schreiben entwickelt?
Ein bisschen von beidem. Ich wusste genau, wie der Roman enden würde, und auch der Anfang war glasklar. Die Mitte entwickelte sich beim Schreiben, das ist in der Regel mein Prozess des Arbeitens.

Xavier kann seinen gewalttätigen Ausbruch während eines Trainings nicht wirklich verarbeiten, muss mit seinem Gewissen klarkommen, kann mit dem Potenzial in ihm nicht wirklich umgehen, trinkt zu viel, nässt sich ein. Das Trauma seiner Kindheit: der Verlust seiner Mutter – was fehlt ihm, um sich wie ein Erwachsener zu verhalten?
Xavier ist ja kein Trinker. Er macht sich nicht aufgrund von Trunkenheit nass, sondern aufgrund seiner nachlassenden geistigen Fähigkeiten. Die entscheidende Antwort ist, dass Xavier die Stabilität einer starken Beziehung zu beiden Elternteilen fehlt. Die weniger offensichtliche ist jedoch auch, dass es Xavier schwerfällt, sich für die Fehler in seinem Leben verantwortlich zu fühlen. Er zeigt schnell mit dem Finger auf alle anderen, nur nicht auf sich selbst. Obwohl er dem Alter nach erwachsen ist, lebt er ausgesprochen kindisch und macht Fehler.

Der Roman kreist aus vielen Blickwinkeln um das Thema Demenz und Gedächtnisverlust. Bei Xavier als Folge des Kampfes, bei seinem Vater als Zugang zum weißen Rassismus, bei seinem Cousin als Erinnerung an Erlebnisse, die sie beide teilten, die Xavier aber verdrängt hat. Wie wichtig waren Ihnen diese unterschiedlichen Facetten?
Sehr wichtig. Diese Themen sind in meiner gesamten Arbeit präsent und werden es wahrscheinlich auch weiterhin sein, da ich sie in verschiedenen Szenarien und durch unterschiedliche Charaktere in all meinen Romanen hinterfrage.

Eine sehr wichtige Rolle kommt auch den Pflegerinnen von Xaviers Vater Sam zu,  und ihren Erfahrungen mit aggressiven alten Menschen, – wie haben sie diese selten erkundete Realität in Kliniken der USA  recherchiert?
Mein berufliches Leben selbst war die Recherche. Ich habe mehr als ein Jahrzehnt als Physiotherapeut in verschiedenen Bereichen gearbeitet, darunter in der Fachkrankenpflege, der häuslichen Krankenpflege und der Sportmedizin, wo ich Zeuge vieler ähnlicher rassistischer Szenarien wurde, die in den Gesundheitseinrichtungen im Roman vorkommen.

Ein weiteres wichtiges Thema: Xaviers Faszination für das Kämpfen an sich, das ihm das Gefühl gibt, sich lebendiger zu fühlen als jemals sonst. Wie nah sind Sie dieser Faszination gekommen, als Sie selbst Erfahrungen mit Kämpfen der Mixed Martial Arts gemacht haben? Wie wichtig war diese Erfahrung für die Struktur Ihres Romans?
Wie ich eingangs erwähnt habe, kämpfe ich mit meiner Liebe zum Kampfsport und meinem Wissen über dessen Folgen, und ich empfinde dies als sehr widersprüchlich. Als ich als Athlet Kampfsport betrieben habe, war in meinem Kopf noch kein Platz für diesen Konflikt. Im Nachhinein habe ich jedoch Klarheit gewonnen und in der Fiktion habe ich diese Problematik dann rückblickend erforscht. Es war wichtig, dass ich die durch eigene Erfahrung gewonnene Authentizität auf das Papier brachte, um das Trauma, das diese Athleten erleben, nicht zu trivialisieren oder für Unterhaltungszwecke auszunutzen.

Xaviers Geschichte als Sohn eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter erschließt sich im Laufe des Romans allmählich immer präziser. Sie gewähren ihm als Autor die Chance, klarer zu sehen, seine Geschichte aus der Sicht seiner Mutter zu betrachten. Warum fällt es ihm so schwer, diese Chance zu nutzen?
Diese Schwierigkeit würde ich auf den oben erwähnten Mangel an Verantwortungsbewusstsein zurückführen. Xavier hat nicht den Mut, seine Erkenntnisse nach innen zu kehren. Deshalb sagt ihm sein Cousin Shot oft die Wahrheit, die er nicht hören kann und will. Die Schönheit von Shots Figur  liegt in seiner Weigerung, diese Wahrheit zurückzuhalten, egal wie schmerzhaft sie ist.

Xavier fühlt sich auch ständig schuldig gegenüber seinem Cousin Shot, er reagiert wie ein gescholtenes Kind, ist ständig in einer Zwickmühle und in Gefahr. Welche Rolle haben Sie Shot zugewiesen? Hat auch er so etwas wie ein Doppelgesicht, das zwischen Realismus und falscher Wahl schwankt, in die er verstrickt ist?
Shot ist meine Lieblingsfigur in dem Roman, weil er trotz seiner Unehrlichkeit als eine Art Wahrsager zu verstehen ist. Seine Liebe zu Xavier hat keine zwei Gesichter. Shot ist aber ein Beispiel dafür, dass mehr als eine Sache gleichzeitig wahr sein kann.

Xaviers Entsetzen über die rassistische Aggression seines Vaters wird sehr deutlich. Kann dies eine Möglichkeit, ein Weg sein, seine eigenen Irrtümer klarer zu erkennen? In seinem Gespräch mit seiner Mutter beschreiben Sie eindringlich, wie tief Rassismus verwurzelt sein kann – ist das das eigentliche Thema des Romans?
Ich glaube nicht, dass der Roman damit ein zentrales Grundthema hat, aber dennoch ist es sicherlich ein wichtiges Thema. Ich habe mit mehreren Patienten gearbeitet, deren Familienmitglieder schockiert und verlegen waren, als sie hörten, was ihre Angehörigen gesagt hatten, nachdem Demenz und Alzheimer ihre Filter ausgeschaltet hatten. Dieses Phänomen zu beleuchten, halte ich für ausgesprochen wichtig, denn es kommt selten zur Sprache.

Sie selbst sind mit einem schwarzen Vater und einer weißen Mutter aufgewachsen. Hat Ihnen das die Möglichkeit gegeben, sich genauer in die Gefühlswelt Ihrer Charaktere hineinzuversetzen? Welche Rolle haben ihre Erfahrungen beim Schreiben gespielt? 
Ich mag den Gedanken nicht, den Autor mit dem Protagonisten des Romans zu verschmelzen, aber die kurze Antwort lautet ja. Ich strebe in meinen Romanen nach Empathie und ich nutze dafür die Emotionen, die ich selbst erlebt habe oder die mir bei anderen begegnet sind. Für meine schriftstellerische Arbeit ist das von entscheidender Bedeutung.

Auch Xaviers Schuldgefühle werden im Roman thematisiert. Seine Mutter bittet ihn schließlich, nicht immer wieder um Vergebung zu bitten. Ist das Problem tiefer in der Psyche verwurzelt, nicht nur als persönliches, sondern als soziales Defizit, mit dem die schwarze Bevölkerung konfrontiert ist?
Schwarze Menschen sind natürlich keine homogene Gruppe, daher wäre es zu kurz gegriffen, dies als ein generelles soziales Defizit der schwarzen Bevölkerung darzustellen. Dieses Buch befasst sich mit bestimmten Charakteren in bestimmten Situationen. Wie sie mit ihren Situationen umgehen, ist für sie individuell, unabhängig davon, ob es dennoch einheitliche kulturelle Merkmale gibt.

Die Szene mit den beiden Polizisten vor dem Haus seines Vaters: Xavier wäre in Gefahr gewesen, erschossen zu werden, wenn der jüngere Polizist ihn nicht erkannt hätte. Ist dies ein Bild des immer noch vorherrschenden Hardcore-Rassismus?
Ja.

Die innere Stimme hindert ihn daran, den Weg zu gehen, den seine Mutter ihm anbietet, er arbeitet mit aller Kraft gegen diese Option. Was treibt ihn da an? Er klammert sich an sein falsches Bild, warum?
Das führt zurück zu der Frage, welche Stimme wirklich Xaviers ist. Ich überlasse es dem Leser, das zu entscheiden.

Beim Lesen Ihres Buches empfindet man viel Mitgefühl für Ihren Protagonisten, obwohl sein Weg immer schwieriger wird. Ist das ein wichtiges Ziel Ihres Schreibens? Und wie waren die Reaktionen Ihrer amerikanischen Leser und Leserinnen? Haben Sie Unterschiede in den Reaktionen von Männern und Frauen beobachtet?
Empathie ist zweifellos der Schlüssel in meinen Romanen. Sympathisch, unsympathisch – diese Eigenschaften spielen für mich keine Rolle. Empathie ist immer das Endziel. Ich habe festgestellt, dass weibliche Leser überrascht waren, als sie erfuhren, dass das Buch nicht auf Mixed Martial Arts fokussiert ist. Mehrere Leser waren über das Schicksal des Hundes bestürzt, manche sogar mehr als über das der Menschen, was ich, selbst als Hundeliebhaber, immer wieder erstaunlich finde.

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Roman, das Nachfolgebuch zu diesem ist ja bereits in den USA erschienen. Welche Themen werden darin im Mittelpunkt stehen? Können Sie uns etwas über die Autoren erzählen, die Sie am meisten mögen?
Mein dritter Roman wurde im Juni 2024 in den USA veröffentlicht und kam recht gut an. Ich befinde mich in der Anfangsphase meines nächsten Romans, der sich wie mein dritter Roman auf Surrealismus und Satire konzentrieren wird. Mein Ziel ist es, mich als Autor ständig weiterzuentwickeln. Die Liste der Autoren, die ich am meisten schätze, wäre für unsere Zwecke hier zu lang, aber einige, zu denen ich regelmäßig zurückkehre, sind Matt Johnson, Nafissa Thompson-Spires, Jesmyn Ward, Paul Beatty, James Hanaham, Han Kang, Pervical Everett, Phillip B. Williams, und es gibt noch viele mehr.