So Wat Cha Sayin’

Xavier öffnete die Augen.
Hatte er geschlafen?
War er zu Hause?
Die Zimmerdecke gehörte nicht zu seinem Zimmer. Der Boden, auf dem er lag, war nicht sein Bett.
Er war zu Hause.
Er hob den Kopf. Clay hielt Xaviers Füße hoch, schüttelte Blut aus den Beinen ins Gehirn. Aber Clay sah ihn nicht an. Er schaute zur anderen Seite des Käfigs, wo Shot und zwei Sportler aus dem Gym neben einem Körper standen, dessen Beine steif über dem Boden schwebten.
»Clay«, fragte Xavier, »was ist da los?«
»Aye, yo, Shot«, rief Clay. »Er ist wach.«
Shot blickte über seine Schulter. Wut trieb Falten in seine Stirn, und er marschierte zu seinem Cousin. Xavier setzte sich auf. Er kämpfte gegen eine Schwindelattacke an und spähte durch Shots Beine hindurch. Lawrence lag am Rand des Käfigs, das Gesicht geschwollen und blutüberströmt.
»Was … Clay, was ist denn mit Lawrence?«
Bevor Clay antworten konnte, schubste Shot ihn beiseite, griff Xavier unter die Achselhöhlen und zog ihn hoch. Er brachte die Nase ganz nah an Xavier heran, und seine leise Stimme klang bedrohlich. »Du warst das, Cuz.« Er stieß den Zeigefinger in Xaviers Brust, als wollte er sein Herz aufspießen. »Den Scheiß hast du verbockt.«
Xavier spürte, dass jeder Knochen in seinen Händen schmerzte und sich über einem Knie ein Bluterguss bildete. Er hatte gekämpft. So viel war sicher.
»Shot, ich weiß nicht …«
»Nein. Lass mich mit dem Scheiß in Ruhe.«
»Shot …«
»Verschwinde. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Geh in die Umkleide und komm ja nicht noch mal in seine Nähe. Ich warte hier auf den Scheißkrankenwagen.«
»Shot.«
Shot ging wieder zu Lawrence und kniete sich neben ihn. Langsam löste sich die Starre aus Lawrences Beinen und seine Füße glitten schlaff zur Seite. Mit offenem Mund stand Clay zwei Schritte von Xavier entfernt, als hätte er Angst, sich von der Stelle wegzubewegen, wo Shot ihn hingeschoben hatte. Er schaute von Shot zu Xavier und wieder zurück, als warte er auf Erlaubnis, sich zu rühren.
Xavier, der sich schämte, weil er ein Blutbad angerichtet und das sofort vergessen hatte, schlich mit gesenktem Kopf zur Käfigtür. In Gedanken sah er Lawrences zerschundenes Gesicht. Eine neue Art von Schwindel ließ die Welt rotieren, und ihm knickten die Beine weg. Doch bevor die Matte auf ihn zuraste, schlang ihm jemand einen Arm um die Hüften und schob dünne, aber kräftige Schultern unter seinen eigenen Arm. Clay brachte ihn zum Eingang des Käfigs.
»Clay, so bin ich nicht, Mann.«
»Nee, aber checken tu ich’s schon. Diese ganze Scheiße, die er zu dir gesagt hat? Dafür hätte ich ihn auch fertiggemacht. Fast alle hier haben doch nur drauf gewartet, dass er die Rechnung kassiert, weil er das Maul so weit aufreißt. Der Poser hatte nichts andres verdient.« Clay half Xavier die Stufen hinunter; als Loki, der davor hockte, ihn sah, wischte sein Schwanz über den Boden. »Als Shot dich gepackt und weggezogen hat, dachte ich, der Hund springt gleich über den Zaun in den Käfig. Aber warum bellt der nicht? Sah aus, als würde er’s versuchen, aber außer einem komischen Pfeifen kam nichts raus.«
»Lange Geschichte. Erzähl ich ein andermal.«
»Yeah, okay.«
Xavier nahm Lokis Leine und führte den Hund zur Umkleide. Clay begleitete ihn.
Er hatte ihn nur trösten wollen, das wusste Xavier, aber seine Worte hatten ihr Ziel verfehlt. Als er den Job bei seinem Cousin angetreten hatte, hatte Xavier noch gedacht, Nachwuchstalente zu trainieren sei unter seiner Würde, weil er selbst so kurz davor gewesen war, richtig groß rauszukommen. Aber mit der Zeit hatte es ihm immer mehr Spaß gemacht. Die meisten Kids hatten Sachen erlebt, die er sich nicht mal ansatzweise vorstellen konnte, und er war für sie Trainer und Mentor in einer Person. Er zeigte ihnen, wie sie ihre Aggressionen durch Kämpfen in andere Bahnen lenken konnten und durch den Sport einem Leben am Abgrund entgingen, das sie unweigerlich erwartete, wenn sie sich durch ihre nur allzu verständliche Wut den Weitblick vernebeln ließen. Und jetzt hatte er all das getan, wovor er die Kids immer gewarnt hatte. Noch schlimmer aber war, dass Clay ihn dafür bewunderte. Xavier wurde schlecht.
Bei der Umkleide angekommen, rannte er in die erstbeste Toilettenkabine und würgte heiße Galle hoch, bis ihm der Rücken vor Anstrengung wehtat. Hinter der Tür fragte Clay, ob bei ihm alles okay sei. Ja, erwiderte Xavier, bedankte sich für die Hilfe und sagte Clay, er könne gehen. Sobald der andere den Raum verlassen hatte, kam Xavier aus der Kabine und setzte sich vor die Spinde.
Er löste das Tape, das er zur Sicherheit über die Klettverschlüsse seiner Handschuhe gewickelt hatte. Das weiße Band war von Lawrences Blut rötlich braun verfärbt. Nachdem er die Handschuhe abgestreift hatte, löste er die Bandagen an seinen Händen und ließ sie zum Tape auf den Boden fallen. Loki beschnüffelte den Haufen, nieste und drehte sich einmal im Kreis, bevor er sich neben Xaviers Füße legte.
Xavier spreizte die Finger und ballte die Hände zur Faust. Seine Knochen schmerzten so stark, dass er das Gesicht verzog. Die Bandagen und die Polsterung der Handschuhe hatten die Wucht der Schläge kaum abgefangen. Er massierte die Flüssigkeit weg, die sich um die Knöchel herum bereits gesammelt hatte. Er spürte, wie die Kalkablagerungen knirschten, die durch die unzähligen Knochenprellungen und Brüche über Jahre entstanden waren und nie richtig hatten verheilen können, weil ihm das Geld oder eine entsprechende Krankenversicherung für Gipsverbände und Operationen fehlten. Dass seine Kämpfe schwere Verletzungen nach sich zogen, deren medizinische Versorgung er sich nicht leisten konnte, war ein schlechter Scherz, der ihm in Momenten wie diesem besonders sauer aufstieß. Nur dass es einen Moment wie diesen eigentlich noch nie gegeben hatte.