Manifest einer Frau

Felicity McLean im Gespräch mit Günther Grosser
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Sie haben viel Erfahrung als Journalistin und Autorin gesammelt, bevor Sie Ihren ersten Roman CORDIE geschrieben haben; dann kam RED mit seinem sehr eigenwilligen Stil. Ich nehme an, Sie hatten viel Spaß mit diesem Stil, aber auch damit, sich von der konventionellen Art des Schreibens zu lösen, oder? 
Ich hatte sehr viel Spaß beim Schreiben von RED: Bewusstseinsstrom, keine Zeichensetzung. Es ist anders als alles, was ich bisher geschrieben habe, und beim Schreiben hatte ich ständig das Gefühl, mir säße ein Lektor mit dem Rotstift im Nacken.
Der Stil ist eine Hommage an ein in Australien sehr berühmtes Schriftstück: den Jerilderie-Letter, der 1879 vom Bushranger Ned Kelly verfasst wurde. Kelly ist eine der bekannteste historischen Persönlichkeiten Australiens, und sein »Manifest« ist ein unglaubliches Schriftstück. Lyrisch, bewegend, poetisch. Kelly sag beispielsweise, dass er »keine andere Wahl hatte, als mit dem brutalen und feigen Benehmen eines Packs an großen, hässlichen Stiernacken mit Wombat-Köpfen, fetten Bäuchen und Elstern-Beinen, den schmalhüftigen, plattfüßigen Söhnen irischer Amtsmänner und englischer Landlords abzufinden, besser bekannt als Justizbeamte oder Polizei Victorias, die manche als ehrliche Gentlemen bezeichnen.«
RED ist ein Roman, der von einer Stimme lebt: Wie Ned Kellys Jerilderie-Letter ist er ein Manifest, hier das Manifest einer Frau, ihre polemische Kampfansage. Es ist ihre Chance, endlich einmal ihre Seite der Geschichte zu erzählen, und deshalb macht sie noch nicht einmal Pause zum Luftholen.

War es schwierig, sich an diesen Stil zu gewöhnen? Als Sie erst einmal dabei waren, war es wahrscheinlich einfach, aber am Anfang? 
Der Anfang war schwierig, aber noch schwieriger war es, damit aufzuhören.

In Ihrem Vorwort schreiben Sie, RED sei die erste weibliche Version der Kelly-Gang-Geschichte und dass Sie sich gefragt haben, ob Australien auch dann noch vom Outlaw Kelly fasziniert wäre, wenn er eine Frau, ein Mädchen sei. Wie hat Australien darauf reagiert? Hat es funktioniert? 
Ich denke, es liegt vielleicht an den Lesern zu entscheiden, ob es funktioniert hat. Ich hoffe jedoch, dass RED in den deutschen Lesern Verbündete finden wird.

In der gesamten Literatur spielt die Beziehung zwischen dem Individuum und dem sozialen Umfeld, zwischen dem Individuum und Gruppen, eine zentrale Rolle. Gibt es eine bestimmte australische Art dieser Beziehung? 
Das Motiv des Underdogs ist in der australischen Populärkultur sehr verbreitet, und wenn das Individuum gegen die Gruppe antritt, stehen die Chancen oft schlecht für das Individuum, ähnlich wie bei David und Goliath. Bonuspunkte gibt es allerdings, wenn dieser Kampf sich als antiautoritär erweist.

Das Buch zeichnet ein eher ungünstiges Bild der australischen Polizei. Gibt es dazu aktuelle Bezüge? 
RED spielt in den frühen 1990er Jahren, in den Jahren unmittelbar vor der Wood Royal Commission, die sich mit mutmaßlicher Polizeikorruption in New South Wales befasste. Die Untersuchung deckte weit verbreitete systemische Korruption auf; es war eine Zeit, ähnlich wie in den 1870er Jahren, zu Zeiten Ned Kellys als Outlaw, als Polizeikorruption weit verbreitet war. In jüngerer Zeit sieht sich Australien mit einer anhaltenden Krise im Zusammenhang mit Todesfällen von Indigenen in Polizeigewahrsam konfrontiert.

Die Autos und einige der Konsumgüter in dem Buch stammen eindeutig aus den 1970er- und 1980er-Jahren. Warum haben Sie die Geschichte in dieser Zeit angesiedelt? 
Ich habe die Geschichte in den frühen 1990er Jahren angesiedelt, um die Korruption bei der Polizei thematisieren zu können¸ viele der Referenzen stammen jedoch noch aus den 1970er- und 1980er-Jahren, wie zum Beispiel die Datsun-Autos und Betamax-Videokassetten.

Verlieren wir den Kontakt zur Natur? Sowohl in CORDIE als auch in RED spielt die Natur eine wichtige Rolle als »das Andere«, das vom Menschen Unabhängige. 
Der Schauplatz ist in meinen Romanen ein bedeutender eigener Charakter, und häufig handelt es sich dabei um die australische Vorstadt. Ich interessiere mich besonders für diese wunderbaren Schwellen-Landschaften des Übergangs, wo normale Wohn-gebiete an Buschland, Flüsse und unberührte Gegenden grenzen. Diese Landschaften sind hier in Sydney weit verbreitet und bieten einen sehr reizvollen Schauplatz für Romane. In solchen Zwischenwelten kann viel schiefgehen.

Ich habe 54 Tierarten gezählt, vor allem Vögel, dazu zahlreiche Pflanzen, die im Roman erwähnt werden, und ich bin mir sicher, dass ich einige übersehen habe. Haben Sie vor, irgendwann die gesamte Flora und Fauna Australiens in Ihren Romanen zu erwähnen? (Manchmal hatte ich Ruth Rendell im Verdacht, dass sie das für Großbritannien vorhatte). 
Ich bin beeindruckt, dass Sie mitgezählt haben! Als Leser interessiere ich mich immer sehr für die Flora und Fauna eines Schauplatzes, deshalb versuche ich, dieses Gefühl für den Ort zu vermitteln, wenn ich schreibe, insbesondere für internationale Leser.

Wird es ein weiteres Buch aus der Sicht einer Frau oder eines Mädchens geben, oder werden Sie die Perspektive wechseln?
Ich habe gerade ein neues Manuskript fertiggestellt, das aus der Perspektive einer 24-jährigen Frau geschrieben ist und in Sydney, Madrid, London und Teilen des ländlichen Spaniens und Englands spielt. Freuen Sie sich auf weitere weibliche Perspektiven – und jede Menge neue Flora und Fauna!