Wege zum Glück
Ein Nachwort von Marcus Müntefering
»Death is not the End« (Bob Dylan)
»Meine Geschichten enden nicht mit dem Tod« (Doug Johnstone)

Der Tod gehört zum Kriminalroman wie Haggis zur schottischen Nationalküche. Und natürlich wird auch in den Romanen des Schotten Doug Johnstone, Edinburghs aktuell aufregendstem Schriftsteller, reichlich gestorben. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: In »Schwarze Herzen« und den weiteren Romanen der Skelf-Reihe ist der Tod nicht die Ausnahme, keine Anomalie, kein Rätsel, dessen Lösung verspricht, den gesellschaftlichen Status Quo wiederherzustellen wie in klassischeren Krimis. Der Tod in Johnstones Romanen ist ein essenzieller und unvermeidlicher Teil des Lebens. Was natürlich sehr viel mit den Tätigkeiten seinen Heldinnen zu tun hat: Dorothy, Jenny und Hannah Skelf führen ein Bestattungsinstitut – und nebenbei ein Detektivbüro. Das klingt nur so lange skurril, bis man zum ersten Mal in ihre Welt abtaucht. Schnell merken wir Leser, wie schlüssig diese Kombination ist: Denn mit dem Tod haben beide Tätigkeiten viel zu tun. Und während sie als Bestatterinnen absolute Profis sind, würden die meisten Fälle, die sie als Detektivinnen auf den Tisch bekommen, einem Philip Marlowe oder John Rebus nur ein irritiertes »Spinnt ihr?« entlocken.
Die Skelfs sind keine Wiedergängerinnen von Miss Marple, V.I. Warshawski oder Lisbeth Salander, weder neugierige alte Damen noch toughe Einzelkämpferinnen und schon gar keine kampfsporterprobten Hackerinnen. Nein, diese drei Frauen sind ziemlich normale Menschen – oder zumindest fast: Manchmal wünscht mancher Leser sich wahrscheinlich, so offenherzig und vergebend zu sein wie Dorothy oder so achtsam und engagiert wie ihre Enkelin Hannah. Jenny hingegen, Hannahs Mutter, ist mit ihren Zweifeln und ihren Ausbrüchen von Selbsthass, Schuldgefühlen und Selbstzerstörung die Skelf-Frau, die am wenigsten als Vorbild taugt – und vielen von uns gerade deshalb wohl am ähnlichsten ist. In »Schwarze Herzen« ist sie an einem Tiefpunkt in ihrem Leben angekommen, und das hat natürlich wieder mit dem Tod zu tun.
Höhepunkt des vorherigen Skelf-Romans »Einbalsamiert« (im Original »The Great Silence«) war ein Kampf um Leben und Tod zwischen Jenny und ihrem früheren Ehemann Craig, der die Skelf-Frauen jahrelang terrorisierte. Die wohl furchterregendste Figur in einer Romanreihe, in der Verbrechen selten von Psychopathen verübt werden, sondern eher Resultat gesellschaftlicher Missstände oder emotionaler Verwüstung sind. Jenny blieb sieghaft in diesem brutalen Kampf, und in einer spektakulären Szene trieb Craigs brennende Leiche aufs Meer hinaus. Ein kathartischer Moment könnte man meinen, und so wäre es wohl auch in den meisten Kriminalromanen angelegt: Das Böse ist besiegt, und damit auch psychische Konflikte und innere Dämonen. Bei Doug Johnstone ist das anders. Ganz anders. Der Tod löst keine Probleme, Mord ist alles andere als eine schöne Kunst. Johnstone erzählt in seinen Romanen vor allem von dem Danach, von Trauer und von Trauma. Und er hat das noch nie zuvor so intensiv getan wie in »Schwarze Herzen«.
Ursprünglich hätte bereits »Einbalsamiert« das Ende der Skelf-Reihe sein sollen, doch Johnstone mag sich einfach nicht trennen von seinen Figuren, die ihm mindestens so sehr ans Herz gewachsen sind wie seinen Lesern. Und so sind in Großbritannien bereits sechs Skelf-Romane erschienen, wie viele noch folgen werden, weiß Johnstone selbst nicht. Der Tod markiere jedenfalls nicht das Ende seiner Geschichten, sagt er.
Trauer, so sinniert Dorothy zu Beginn von »Schwarze Herzen«, »kam in unendlichen Gestalten, es gab so viele unterschiedliche Arten zu trauern, wie es Menschen gab.« Einige davon lernen wir auf den folgenden 380 Seiten kennen. Den japanischen Witwer Udo zum Beispiel, dessen Frau vor Kurzem gestorben ist und ihn jetzt, so ist er überzeugt, als Geist verfolgt. Ein typischer obskurer »Fall« für die Skelfs: Dorothy bekommt den Auftrag, herauszufinden, ob der Geist von Udos Frau unglücklich ist oder ein Dämon ihn heimsucht. Oder die Studentin Laura, die Hannah stalkt und sich nicht von der Leiche ihrer jüngst verstorbenen Mutter trennen mag. Manchmal möchte man Dorothy bei der Lektüre von »Schwarze Herzen« schütteln, weil sie vielleicht ein bisschen zu viel Verständnis für andere aufbringt. Sie nimmt auch Laura immer wieder in Schutz, eben weil sie trauert, und wird so zumindest eine Teilschuld an der finalen Katastrophe haben. Auch das zeigt Johnstone in »Schwarze Herzen«: Zu viel Empathie kann gefährlich sein.
Und manchmal muss man einfach hilflos zusehen, wie die Nächsten und Liebsten leiden. Dorothy, die für jeden Verständnis und ein gutes Wort hat, findet einfach keinen Draht zu ihrer Tochter Jenny, die in »Schwarze Herzen« scheinbar haltlos auf den Abgrund zurast. Jenny, so sagt Johnstone, sei die Skelf-Frau, die am meisten mit ihm selbst zu tun habe, er kenne ihre Zweifel und verstehe ihren Hang zur Selbstzerstörung. Wie sie ist auch Johnstone Teil der Generation X, der zwischen 1965 und 1980 Geborenen, die heute ein wenig in Vergessenheit geraten ist im Trubel der Grabenkämpfe zwischen Gen Z, Millennials und Boomern. Zwar war zuletzt in der britischen »Vogue« zu lesen, dass die Gen X die eigentlich coolste Generation sei, aber laut des Wirtschaftmagazins »Economist« sind Gen Xer ärmer und unglücklicher als die Generationen vor und nach ihnen.
Zwischen den Stühlen sitzt auch Jenny, gleichermaßen cool und unglücklich, und ihre wenigen Aufs und zahllosen Abs zu beobachten war schon in den ersten drei Romanen gelegentlich eine emotionale Prüfung. Doch in »Schwarze Herzen« treibt Johnstone sie weiter dem Verderben entgegen: Sie sucht Trost in unendlichen Gin Tonics, hat Sex mit ihrem Therapeuten und schwimmt so weit auf den Firth of Forth raus, den Meeresarm vor Edinburgh, auf dem Craig brennend entschwand, dass sie kaum mehr zurückkommt: »Wieder brach eine Welle über ihrem Kopf, und sie wollte in die Vergessenheit gezogen werden.« Und als sei das alles noch nicht genug, taucht auch noch Craigs Schwester Stella bei den Skelfs auf – und Jenny scheint eine neue extrem gefährliche Feindin zu haben. Jennys Abstieg mitzuerleben gehört zu den berührendsten und schmerzhaftesten Momenten des Romans, aber immerhin: Johnstone versichert auf Nachfrage, dass für seine gepeinigte Heldin mit »Schwarze Herzen« der Tiefpunkt wohl erreicht sei.
Tod und Verzweiflung, Schmerz und Trauer – man könnte den Eindruck gewinnen, dass Doug Johnstone ein Pessimist ist. Wenn man ihn danach fragt, bestätigt er das zunächst: »Die Idee des Glücks«, sagt er im Interview mit dem Polar Verlag, »steht im Grunde im Gegensatz zum Kapitalismus, zur Vermehrung von Reichtum und der Verherrlichung von endlosem Wachstum.« Er habe das Gefühl, dass die Menschen in einem System feststeckten, das nicht gesund sei für sie, dass wir ständig Kämpfe gegen Kräfte führten, die uns wie bei »Star Wars« auf die dunkle Seite der Macht ziehen wollten. Ein Grund aufzugeben sei das aber nicht, so Johnstone weiter: »Wir müssen versuchen, die positiven Dinge im Leben zu wertschätzen, denn Positivität erzeugt mehr Positivität.«
Das Positive suchen auch fast alle Figuren in Johnstones Romanen – sie finden Trost und Zuversicht in ihren Beziehungen zu Freunden und Familie. Zumindest temporär. Alle Skelf-Romane erzählen davon, wie wir in einer Welt, die oft genug grausam und abweisend scheint, lernen müssen, aufeinander zuzugehen. Um das zu verdeutlichen nutzt der promovierte Nuklearphysiker Johnstone immer wieder Metaphern aus der Astrophysik. Ein zentrales Motiv in den Büchern ist die Entropie, die kurz gesagt, den unvermeidlichen Kältetod des Universums beschreibt. Eine tote Unendlichkeit. »The Big Chill« hieß der zweite Roman »Eingefroren« im Original. Auch der Titel von »Schwarze Herzen« leitet sich aus der Astrophysik ab. »Jede uns bekannte Galaxie besitzt ein schwarzes Herz«, lernt Hannah in einer Vorlesung. »Manche mathematischen Modelle sagen voraus, dass wir in das supermassive schwarze Loch gesaugt und dabei auseinandergerissen werden. Andere Modelle legen nahe, dass wir in die Schwärze des Raums hinausgeschleudert werden. So oder so werden wir nicht mehr da sein, um es zu sehen.«
Finstere Aussichten, eigentlich kaum zu ertragen – außer mit Humor. Und von dem besitzt Johnstone reichlich. Natürlich diesen sehr speziellen schottischen Humor, der oft aus Verzweiflung und Schmerz geboren zu sein scheint. Johnstone spürt in seinen Romanen dem Absurden im Tragischen nach. Am radikalsten vielleicht in der Auftaktszene von »Eingefroren«, in der ein Begräbnis durch ein über den Friedhof rasendes Auto zu einem jähen Ende kommt, eine Szene, die der Beginn von »Schwarze Herzen« spiegelt: Zwischen Trauergästen kommt es zu einer Schlägerei, die darin endet, dass der Sarg zersplittert und die Leiche herausfällt. Purer Slapstick, comic relief, ein ähnlicher Effekt wie bei der berühmten Szene in Shakespeares »Hamlet«, als die Totengräber an Ophelias Grab Witze übers Ertrinken reißen.
Überhaupt Beerdigungen: Johnstone lässt seine Figuren in »Schwarze Herzen« auch darüber nachdenken, wie zeitgemäß unsere Riten hier noch sind. Schließlich, so erklärt Hannahs Ehefrau Indy, ihrer Schwiegermutter Jenny, sei der CO2-Fußabdruck von Beerdigungen fürchterlich, ob es Erd- oder Feuerbestattungen seien, um dann Alternativen aufzuzählen: Menschen könnten erst gefriergetrocknet und dann zu Granulat verarbeitet werden oder als Biotop für Pilze dienen. Auch dieser Gedanke ist zugleich komisch und erschreckend – selbst als Leichen zerstören wir Menschen den Planeten. »Wir sind so was von am Arsch«, fasst Jenny Indys Ausführungen gewohnt borstig zusammen. In Schottland nennt man Jennys Haltung »thrawn«, was so viel bedeutet wie widerspenstig oder stur, und das kann durchaus als Kompliment gemeint sein.
Etwas weniger radikal (und weniger klimafreundlich) als Gefriertrocknung oder Kompostierung ist die Jazz-Bestattung, an der Hannah und Indy teilnehmen, auf der Bühne der Kapelle ein Trio mittelalte Männer in zu engen Anzügen – und Dorothy am Schlagzeug. Musik, das ist neben Empathie und Humor für Johnstone der dritte Weg, zu so etwas wie Glück zu finden. Und natürlich ist es kein Zufall, dass Dorothy es ist, die Schlagzeug spielt.
Johnstone ist selbst Musiker und spielt unter anderem die Drums bei der Band Fun Lovin‘ Crime Writers, an der mit Val McDermid und Chris Brookmyre auch weitere führende schottische Krimiautoren beteiligt sind. Als Drummer weiß Johnstone natürlich, dass es kaum ein besseres Instrument gibt, um mal richtig Dampf abzulassen – und dass der Schlagzeuger derjenige ist, der den Takt in einer Band angibt, der alles zusammenhält, so wie es Dorothy in ihrer Familie versucht.
In einer der schönsten Szenen von »Schwarze Herzen« spielt Dorothy Schlagzeug zu dem Song »Robber« der kanadischen Indie-Band The Weather Station, und währenddessen denkt sie erst über all das Elend in der Welt nach, über Klimakrise, Konsumdenken und Kapitalismus. Doch irgendwann wird sie mitgerissen von der Musik: »Sie schwitzte, lebte ihr unvollkommenes Leben so gut sie konnte. Es war nie genug, aber der Trick bestand darin, es immer wieder weiter zu versuchen.« Glück ist möglich, wenn man es nur zu erkennen weiß. Festhalten kann man es bekanntermaßen nicht.
Der nächste Roman der Skelf-Reihe heißt übrigens »The Opposite of Lonely«, das Gegenteil von einsam. Das weckt die Hoffnung, dass Johnstone seinen geplagten Figuren zumindest eine Atempause gönnt nach den niederschmetternden Ereignissen in »Schwarze Herzen«, ihren Wunden Zeit zu heilen gibt. Wobei, eines ist natürlich klar: Gestorben wird immer.
