Ein tief verwurzelter Rassismus

Ein Gespräch mit Attica Locke von Benjamin Whitmer

 

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BW: Bei einer Podiumsdiskussion mit Lansdale und Ellory stellte der französische Schriftsteller Pierre Lemaitre eine hochinteressante Frage: Welche literarische Vater- oder Mutterfigur würden Sie umbringen? Wie man diese Frage interpretieren soll, ließ er mehr oder weniger offen, aber ich würde sie folgendermaßen verstehen: Welchen Schriftsteller würde ich aus dem Spiel nehmen, damit ich mich in seinem Sandkasten tummeln kann? Was meinen Sie?

AL: Was für eine Frage. Deren Interpretation sagt genauso viel aus wie die Antwort. Ich nehme sie mal wörtlich. Man hat ja viel darüber geredet, dass in Harper Lees Gehe hin, stelle einen Wächter aufgedeckt wird, Atticus Finch sei wahrscheinlich Rassist gewesen – wobei ich ins Feld führen würde, dass nie jemand gesagt hat, er sei kein Rassist; er war ein guter Anwalt, was nicht gleichbedeutend ist mit guter Mensch -, und es würde mich interessieren, die Figur der Scout ohne ihren Vater kennenzulernen und mich mit ihr auseinanderzusetzen. Das fand ich immer eine spannende Vorstellung, weil Scout wegen der Beteiligung ihres Vaters an dem Gerichtsverfahren, das in Wer die Nachtigall stört eine zentrale Rolle spielt, zu den Weißen gehört haben könnte (von denen ja einige Südstaatler waren), die sich in den 1950er- und 1960er-Jahren der Bürgerrechtsbewegung anschlossen, weil sie durch die frühe Konfrontation mit Ungerechtigkeit vielleicht ein feineres Gespür für den tief verwurzelten Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft entwickelt hätte. Was aber, wenn so etwas nie passiert wäre? Was, wenn sie nie miterlebt hätte, wie ihr Vater Tom Robinson verteidigt? Wäre sie von sich aus darauf gekommen, rassistisch motivierte Ungerechtigkeiten und Gewohnheiten in Maycomb, Alabama, infrage zu stellen, oder wäre sie wie so viele andere weiße Südstaatler damals gewesen, die an die Überlegenheit der Weißen glaubten und davon profitierten? Anders gesagt, was macht manche Weiße auf rassistisches Unrecht aufmerksam und andere blind dafür – sei es durch bewusste Ignoranz oder einen soziopathischen Mangel an Interesse am Wohlergehen von Menschen, die anders aussehen? Eine Antwort auf diese Frage würde mich wirklich interessieren, weil sie mit Kindern zu tun hat. Wie verhindert man, dass man Rassisten großzieht?

BW: In einem anderen Interview habe ich gelesen, dass Sie viele der schmutzigen Wahlkampftricks, von denen Sie schreiben, aus erster Hand von der Arbeit für Ihren Vater, als er sich um das Bürgermeisteramt bewarb, kennen. Vielleicht möchten Sie einen davon verraten?

AL: Wenigstens so viel will ich sagen … eines der großen Probleme während des Wahlkampfs meines Vaters war, dass es in der Stadt nur eine große Zeitung gab, die über die Wahl berichtete und dadurch meiner Meinung nach zu viel Einfluss auf die Wahrnehmung der Wählerschaft hatte. Man bekam den Eindruck, dass sie sich auf eine bestimmte Sichtweise versteifte und jede Berichterstattung entsprechend hinbog. (Nach der Wahl haben mir sogar einige Reporter erzählt, dass die Redaktion vor dem Druck in ihre Artikel eingriff.) Wir brauchen in der politischen Berichterstattung unbedingt eine Vielzahl von Stimmen. Noch etwas, das ich in dem Buch beschreibe, passierte im Wahlkampf meines Vaters, nämlich die Sache mit den gefälschten Flugblättern. Damals wurden in ganz Houston Flugblätter eines schwarzen Pastors verteilt, mit denen die Wähler aufgefordert wurden, meinen Vater zu wählen, weil er der einzige aufrechte Christ sei, womit implizit darauf hingewiesen wurde, dass die Kontrahentin meines Vaters lesbisch war – und gleichzeitig wurde unterstellt, dass mein Vater sich gegen Homosexualität wenden würde. Nur gab es diesen schwarzen Pastor offenbar gar nicht, genauso wenig wie seine Kirche. Niemand konnte beweisen, dass er oder seine Kirche überhaupt existierten.

BW: Ich habe auch gelesen, dass Sie Pleasantville bis zum Wahlkampf Ihres Vaters kaum kannten. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie dort viel herumgelaufen sind, um darüber schreiben zu können. Gibt es etwas, das Sie im Buch nicht unterbringen konnten, obwohl Sie es gern getan hätten?

AL: Es gibt sogar ein ganzes Buch über das Pleasantville der 1950er-Jahre, das ich gerne schreiben würde. Es war ein sehr lebendiges Viertel, in dem die glamourösen, gebildeten und wohlhabenden „schwarzen Eliten“ wohnten. Weil die Hotels in Downtown Schwarzen nicht offenstanden, kamen außerdem viele schwarze Stars, die auf Tournee waren, dort privat unter. Dazu gehörten Dinah Washington, Joe Louis und Louis Armstrong, um nur ein paar wenige zu nennen. Zumindest könnte man eine Short Story daraus machen.

BW: Ich liebe Jay Porter. Jeder liebt Jay Porter, man kann gar nicht anders. Aber ich muss zugeben, dass ich seinen Kumpel Rolly noch lieber mag. Stand Ihnen irgendein reales oder fiktives Vorbild vor Augen, als Sie ihn geschaffen haben?

AL: Ehrlich gesagt ist er mir praktisch fertig aus dem Kopf gesprungen.

BW: Ich habe den Eindruck, dass Sie sehr viel lesen und eigentlich in jedem Genre schreiben könnten. Warum schreiben Sie gerade Kriminalromane, was kann man in diesem Genre tun, was bei keinem anderen Genre möglich wäre?

AL: Ich könnte gar nicht sagen, dass ich Kriminalromane schreibe, weil sie mir etwas Bestimmtes ermöglichen. Ich schreibe sie vor allem, weil ich sie mag und weil sie meinem Stil entsprechen. Was ich allerdings besonders daran schätze, ist, dass man ganz konkret und auf komplexe Weise über Moral schreiben kann, ohne dass es einfache Antworten gibt, selbst wenn es um alles oder nichts geht, um Leben und Tod.

BW: Eine letzte Frage: Welchen Klassiker werden Sie nie lesen?

Lolita. Ich hab’s versucht. Aber ich schaff’s nicht. Ich schaff’s einfach nicht.