Ich war immer Beobachter
William Boyle im Gespräch mit Günther Grosser
Gibt uns eines der beiden Mottos für den Roman – „Anything you don‘t see / Will come back to haunt you“ (Was du nicht siehst / wird dich später heimsuchen) aus Enid Dames Gedicht „Riding the D Train“ – einen Einblick in Ihren autobiografischen Ansatz? Schreiben Sie über Dinge, die Sie übersehen haben? Die damals nicht wichtig waren, aber in einem anderen Licht wichtig wurden?
Dieses Gedicht verfolgt mich, seit ich es vor Jahren zum ersten Mal gelesen habe, und ja, ich glaube, das stimmt: Beim Schreiben geht es sehr darum, Erinnerungen nachzugehen. Ich halte die Wiedergabe von etwas in meinem Kopf an, um zu sehen, wie etwa das Licht an einem bestimmten Tag durch das Fenster eines U-Bahnwagens fiel oder welche Geräusche in meiner Kindheit etwas bedeuteten, Geräusche, die jetzt für immer verschwunden sind. Da ich so viel über die Zeit in Brooklyn schreibe, in der ich dort aufgewachsen bin, geht es bei vielem von dem, was ich mache, darum, wieder Zugang zu sowas zu finden. Es ist nicht unbedingt so, dass die Dinge übersehen wurden – ich war immer Beobachter, habe alles aufgesogen, und jetzt muss ich mir das wieder neu erschließen. Das Gedicht enthält auch eine doppelte Handlung, die dazu auffordert, darüber nachzudenken, was Menschen, die man vielleicht nur flüchtig sieht, privat durchmachen.
In einem Essay für CrimeReads verraten Sie die reale Person, auf der Max Berry basiert, ohne seinen richtigen Namen zu nennen; Sie nennen ihn Mr. Bay Ridge. Kannten Sie jemanden, der die Leute mit einem so genannten Ponzi-System um ihr Geld betrog, als Sie in Brooklyn lebten?
Ja, ich kannte ihn. Die Figur basiert nicht explizit auf ihm, aber die beiden haben sicherlich einiges gemeinsam. Die Person, die ich kannte, war so etwas wie ein kleiner Bernie Madoff. Allerdings hat Madoff die Reichen bestohlen; diese Person hingegen hatte es auf anfällige, wehrlose Leute aus der Arbeiterklasse und auf ältere Menschen abgesehen, die von der Sozialversicherung leben. Er wurde schließlich gefasst und kam ins Gefängnis, aber er hatte in meiner Nachbarschaft und darüber hinaus unermesslichen Schaden angerichtet – viele Menschen verloren ihre Ersparnisse oder einen Teil davon.
„Brachland“ spielt in den frühen 1990er Jahren, „Eine wahre Freundin“ im Jahr 2006, „Gravesend“ und „Einsame Zeugin“ in den 2010er Jahren und „Shoot the Moonlight Out“ im Sommer 2001. Was bringt Sie dazu, einen bestimmten Zeitraum für einen Roman zu wählen? Was sind die entscheidenden Punkte?
Nachdem ich „Gravesend“ und „Einsame Zeugin“ geschrieben hatte, die beide, wie Sie sagen, in den 2010er Jahren spielen, war mir klar, dass ich das nicht noch einmal machen konnte. Ich lebe schon eine Zeit lang nicht mehr Vollzeit in Brooklyn, und das Brooklyn, über das ich schrieb, das ich mir vorstellte, fühlte sich immer wie der Ort an, an dem ich aufgewachsen bin. Wenn ich also, sobald ich mich zum Schreiben hinsetzte, die 80er, 90er und Nullerjahre vor Augen hatte, war mir klar, dass ich die Geschichten einfach in diesen Jahrzehnten ansiedeln sollte. Es war eine derart prägende Zeit für mich – bezüglich dessen, was ich las, sah und hörte, aber auch wie ich mein Leben lebte –, dass das einfach Sinn machte. Normalerweise wähle ich Jahre oder Momente aus, die für mich in irgendeiner Weise entscheidend waren oder die im Nachhinein in einem größeren Rahmen von Bedeutung sind. „Shoot the Moonlight Out“ spielt im Sommer vor 9/11. Nach diesem Sommer war nichts mehr so wie vorher, und so war es einfach, meine Erinnerungen an diese Zeit wieder aufzugreifen. Wir wussten damals nicht, dass wir das Ende einer Ära erlebten, aber so war es. Es ist alles immer noch so lebendig. Ich habe das Jahr 2006 für „Eine wahre Freundin“ gewählt, weil ich damals in der Bronx lebte und weil es auch ein Bronx-Roman ist – meine Erinnerungen an Throggs Neck stammen aus dieser Zeit. Ich wusste, dass Brachland
mein 90er-Roman werden würde – in jeder Hinsicht das prägendste Jahrzehnt für mich. Mein neuer Roman spielt in allen drei Jahrzehnten – den 80ern, 90ern und den Nuller Jahren.
„Shoot the Moonlight Out „ist – neben vielem anderem – ein Buch über Kreativität und Schreiben, über den Drang, etwas zu schaffen und andere dazu zu ermutigen. War das Teil des ursprünglichen Plans oder hat es sich während des Schreibprozesses ergeben?
Das ist eine gute Frage. Wenn ich mich richtig erinnere, ist es eher während des Schreibprozesses entstanden. Lily ist eine aufstrebende Schriftstellerin und Francesca eine aufstrebende Filmemacherin – in beide habe ich viel von mir selbst gesteckt. Als Kind in der Highschool wollte ich Schriftsteller und Filmemacher werden. Ich kannte aber niemanden, ich wusste nicht, wie man das macht. Ich wusste, dass ich lesen, Filme sehen, schreiben und all das dafür Nötige leisten musste, aber ich hatte keine Vorbilder oder Mentoren, und ich fühlte mich verloren. Ich habe viel von dieser Sehnsucht in Lily und Francesca gesteckt, die an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens stehen. Das Auftauchen von Mairéad in dem Buch war dann völlig unerwartet, in keinster Weise geplant, und sie ist dann diejenige, die diese Idee tatsächlich auf den Punkt bringt. Ich hab das Buch am Anfang der Pandemie geschrieben und wollte mich dazu ermahnen, dass – um einen Satz von Tim O‘Brien zu zitieren – Geschichten uns retten können.
Es gibt Schriftsteller, die mit einem neuen Projekt / Buch erst dann anfangen, wenn sie eine sehr klare Vorstellung von ihren Figuren haben – und es gibt die anderen. Manche sagen, Figuren können sehr widerstandsfähig sein, es kann zum Beispiel schwer sein, sie umzubringen. Wie sehr prägt oder verändert der Schreibprozess Ihre Figuren?
Bestimmte Dinge weiß ich von vornherein, aber ein Teil der Freude am Schreiben ist für mich der Nervenkitzel, wenn ich während des Schreibens neue Dinge über die Figuren entdecke. In diesem Buch gab es eine Hauptfigur, die ich umbringen wollte, es aber nicht fertigbrachte. Ich glaube, das ist mir da zum ersten Mal passiert. Vielleicht sagt das etwas darüber aus, wo ich in meinem Leben stehe: Verlust wird schwieriger.
In mehreren Ihrer Bücher haben Sie interessante Frauenfiguren und interessante Kinder, Heranwachsende, während die Männer schwächer sind und in sozialen Zusammenhängen nicht wirklich gut funktionieren – Jack ist jedoch eine Ausnahme von dieser Regel. Ein neuer Weg?
Oh Mann, also, ich will das hier nicht zu sehr in eine Therapiesitzung verwandeln. Es hat sich verändert, als ich älter geworden bin. Ich wollte Jack mehr Menschlichkeit geben, während ich mich den älteren Männern in meinen früheren Büchern aus einer Position der Wut heraus genähert hab, als Amalgam so vieler Männer, die mich in meinem Leben enttäuscht hatten.
Sie haben in Interviews mehrfach darauf hingewiesen, dass Ihr Vater die Familie sehr früh verlassen hat: Jack Cornacchia wirkt sehr wie jemand, den Sie geschaffen haben, um die Lücke zu füllen …
Ich denke, das ist wahr. Ich erinnere mich, dass ich als Kind Leon – Der Profi gesehen habe und dachte: „Mann, wär er bloß mein Vater.“ Ich war immer auf der Suche nach Vätern in Büchern und Filmen. Ich habe viel davon in die Beziehung von Lily und Jack einfließen lassen.
Sind Sie wie Lily das „ganz normale Mädchen, das der Traum, Schriftstellerin zu werden, aufs College führt,“? Wie viel von Ihnen steckt in Lily?
Nun, ich denke, viele meiner Figuren haben etwas von mir – in diesem Buch sind es Lily, Jack, Francesca und Bobby. Lily und ich haben jede Menge gemeinsam; sie ist die erste Figur, die ich Schriftstellerin sein ließ (abgesehen von einer lustigen Nebenfigur in „Brachland“), also ist da definitiv etwas Autobiografisches drin – wie ich in ihrem Alter darüber dachte, wie ich davon träumte, wie ich mir vorstellte, ein Leben daraus zu machen. Es ist schwierig, aufs College zu gehen, das Gefühl zu haben, dass man endlich etwas lernt, mit Leuten zusammen ist, die sich für das interessieren, was einem wichtig ist – und dann ist es so schnell vorbei und man ist wieder in der alten Gegend, treibt sich rum, hat den Zusammenhang verloren. Ja, Lily und ich haben eine Menge gemeinsam.
Die Geschichte hat eine Menge Sprengkraft – jeder will raus. Die Zentrifugalkräfte sind enorm. Hat das etwas mit Ihrem Drang zu tun, Brooklyn jetzt loszulassen und etwas Neues anzufangen?
Ich glaube, es hat mehr damit zu tun, wie ich mich in meinen späten Teenagerjahren und Anfang zwanzig gefühlt habe. Ich wollte raus. Ich wollte ausbrechen. Ich wollte in den Westen. Ich wollte alles sehen. Ich wollte einfach wo anders sein. Aber jetzt, wo ich so lange wo anders gelebt habe, fehlt mir Brooklyn sehr. Die Pandemie hat das noch verstärkt – ich konnte zum ersten Mal überhaupt fast ein ganzes Jahr lang nicht auf Besuch nach Hause fahren. Ich hab eher Angst, es loszulassen. Ich habe das Gefühl, dass ich an einem dünnen Faden mit Brooklyn zusammenhänge. Meine Mutter ist noch da, aber was, wenn sie beschließt wegzuziehen? Dann wird meine Verbindung gekappt. Es ist mein Zuhause. Es wird immer mein Zuhause sein. Ich hab sehr gerne in Oxford, Mississippi und anderswo gelebt, aber ich habe mich nie irgendwo anders zu Hause gefühlt.
Sie sind auf SocialMedia-Plattformen wie Instagram und Facebook sehr aktiv und posten über Ihre Arbeit, Filme, Musik usw. Wie beeinflusst diese Aktivität Ihre Arbeit?
Vieles an diesen Plattformen ist toxisch, zweifelsohne, also versuche ich, sie so zu nutzen, dass ich mich nicht beschissen fühle. Ich teile, was ich lese, sehe und höre und was mir gefällt – viel mehr nicht! Und danach schaue ich auch bei anderen Leuten. Auf diese Weise habe ich viele Schriftsteller, Filmemacher und Musiker entdeckt. Das hat meine Arbeit insofern beeinflusst, als dass ich dort Bücher, Filme und Alben gefunden hab, auf die ich sonst vielleicht nie gestoßen wäre und die dann großen Einfluss auf mich hatten. Außerdem gibt es dort Leute – Künstler, Kritiker –, denen ich generell Aufmerksamkeit schenke und von denen ich zu lernen versuche.