Ich versuche, über gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Lebenslagen zu schreiben, über Figuren, die sich bewusst sind, wie lächerlich schrecklich ihre Notlagen sind, und die diesen Umständen mit düsterem Humor begegnen
Interview mit Doug Johnstone – geführt von Anthony J. Quinn
In der Kriminalliteratur fasst man heute Werke aus einer bestimmten Region gerne zu Sub-Genres wie dem Nordic Noir zusammen. Kannst du etwas über den Tartan Noir erzählen, über die aktuelle Situation oder die Entwicklung der vergangenen Jahre? Wie wird der Tartan Noir von Lesepublikum und Krimikritik wahrgenommen? Gibt es bestimmte Merkmale, die zu so einer Klassifizierung beigetragen haben?
Ursprünglich stammt die Bezeichnung „Tartan Noir“ offenbar von James Ellroy, der sie Iain Rankin gegenüber zu Beginn von Rankins Karriere fallengelassen haben soll und die dann hängengeblieben ist. Die Wurzeln des Genres reichen jedenfalls bis zu den Krimis von Willie McIlvanney aus den 1970ern zurück, die sich aus der amerikanischen Hardboiled-Tradition speisen, als Gegenwicht zu den englischen Krimis des angeblich goldenen Zeitalters aber im ärmlichen Glasgower Arbeitermilieu spielen.
Heute ist die Kriminalliteratur breit aufgefächert und hat unzählige Subgenres, insofern bezieht sich Tartan Noir eigentlich nur auf schottische Krimiautorinnen und -autoren, eine ziemlich große, eng verflochtene und sehr diverse Szene. Da gibt es alles, von komischen Krimis über knallharte Polizeikrimis bis zu brutalen Thrillern, inklusive sämtlicher Abschattungen. Wenn etwas die schottischen Krimis verbindet, dann ist es vermutlich ein sehr schwarzer Humor in Verbindung mit einer Art fatalistischen Schwarzmalerei wegen unseres miserablen Wetters, das sich auf die schottische Psyche niederschlägt! Diese Beschreibung passt in jedem Fall auf meine eigenen Bücher, ich versuche, über gewöhnliche Menschen in ungewöhnlichen Lebenslagen zu schreiben, über Figuren, die sich bewusst sind, wie lächerlich schrecklich ihre Notlagen sind, und die diesen Umständen mit düsterem Humor begegnen.
Du hast klassische Noirs geschrieben, aber auch stärker Innenwelten erkundende „domestic noirs“ und „speculative Fiction“. Wo würdest du A Dark Matter in dein Werk einordnen?
Ich bin nicht sicher, ob’s eine griffige Formel für A Dark Matter gibt, aber ich wüsste gerne eine! Begräbnis-Noir? Todesprosa? Wie man’s auch nennt, A Dark Matter unterscheidet sich in vieler Hinsicht stark von allem, was ich bisher geschrieben habe, und das war auch beabsichtigt. Es ist mein elfter Roman, und die zehn davor standen alle für sich, eigenständige, meist sehr kurze Romane, die aus der Perspektive einer einzigen Figur erzählt waren. A Dark Matter aber ist der Beginn einer Reihe von Büchern mit drei Hauptfiguren, und es ist motivisch wie strukturell viel weiter aufgespannt.
Ich glaube, es ist außerdem ein viel zugänglicheres Buch als einige seiner Vorgänger. Was nicht heißen soll, dass die Hauptfiguren alle zu 100% liebenswert sind, aber im Grunde ihres Wesens sind es gute Menschen, die sich bemühen, anderen und sich gegenseitig in schweren Zeiten beizustehen. Als ich die Geschichte für dieses und die nachfolgenden Bücher mit denselben Figuren weiterentwickelt habe, haben sich deren Ausblicke aufs Leben definitiv ins Existenzielle gewendet. Das liegt zum Teil an der Grundidee dieser Bücher, aber für mich selbst werden die großen Gedanken über das Leben, den Tod, die Liebe und die Suche nach Sinn immer wichtiger. Also könnte man’s vielleicht existenzieller Noir nennen?
Einige deiner früheren Bücher spielen auf Inseln, aber in A Dark Matter wirft die bedrückende Präsenz Edinburghs ihren Schatten auf die Handlung. Welche Unterschiede gibt es zwischen Krimis, die in abgelegenen ländlichen Gegenden angesiedelt sind, und den in Städten, und welche Möglichkeiten bieten sie dem Schriftsteller? Gab es besondere Schwierigkeiten durch die Wahl einer so dicht bevölkerten literarischen Landschaft wie der Edinburghs?
Ich lebe seit über dreißig Jahren in Edinburgh, aber meine ersten Romane habe ich woanders verortet, zum Teil auch wegen dem, was du ansprichst. Edinburgh ist eine sehr bekannte literarische Landschaft, und ich habe erst gezögert, mich darauf einzulassen. Aber schließlich wurde mir klar, dass ich die vielen Erfahrungen, die ich durch das Leben in dieser wunderbaren Stadt gesammelt hatte, auch für meine Bücher nutzen sollte. Außerdem erlebt jeder eine Stadt anders – mein Edinburgh ist grundverschieden vom Edinburgh Irwin Welshs, Muriel Sparks, Ian Rankins. Daher habe ich schon vor A Dark Matter ein paar eigenständige Romane geschrieben, die in Edinburgh spielen, meist aber in geografisch eng begrenzten Teilen der Stadt, in den unansehnlicheren Vierteln, in die sich kein Tourist verirrt. Bei A Dark Matter gehörte es für mich zum besonderen Reiz, dass ich über die Stadt als Ganzes schreiben konnte, sie ist im Buch genauso eine Figur wie die Skelf-Frauen. Aber für mich sind weiterhin jene Gegenden, die die meisten Leute nicht sehen, ich aber am besten kenne, interessant, und ich möchte die gewöhnlichen Menschen zeigen, die in diesen Vierteln leben, arbeiten und lieben.
Und ja, drei meiner Bücher spielen auf Inseln, und weitere in anderen ländlichen Gegenden. Ich stamme aus einer Kleinstadt an der schottischen Ostküste, daher kenne ich die Mentalität auf dem Land ganz gut und finde es spannend, darüber zu schreiben. Das ist im Allgemeinen kein großes Thema in der Literatur, auch in der schottischen nicht. Zwischen den Alteingesessenen und den Neuankömmlingen gibt es immer Reibungen, auf die ich in den Büchern zurückgriffen habe. Bei den Inseln ist es außerdem das typische Noir-Gefühl, dass man seinem Schicksal nicht entkommen kann, sowohl im übertragenen Sinn wie ganz wörtlich. In Crash Land kommt der Protagonist nicht von Orkney weg, er sitzt fest – übers Meer sieht er zwar sogar das schottische Festland, aber er schafft es nicht dorthin.
Was hat dich dazu bewogen, ausgerechnet eine Familie von Bestattern als neueste Falllöser in deine ohnedies schon etwas schräge Sammlung von Detektiven aufzunehmen?
Wie bei den meisten Schriftstellern ist es bei mir nicht nur eine einzige Idee, aus der ein Roman entsteht, sondern ein ganzes Sammelsurium an Einfällen, die einem durch den Kopf gehen und sich allmählich zu einer Geschichte formieren. Bei A Dark Matter gab es mehrere Hauptideen, die sich wirklich gut zueinander fügten. Zunächst hatte ich vor ein paar Jahren eine Stelle als Writer-in-Residence bei einem Bestattungsunternehmen hier in Edinburgh. Das war eine erstaunliche und anregende Erfahrung, aber ich brütete auch ein paar Jahre darüber, ließ sie gären. Allerdings hatte ich davor schon über Tod und Trauer geschrieben und diese Themen umkreist. Ich hatte einen Roman über einen Selbstmord (The Jump) und einen über einen Nachrufschreiber (The Dead Beat) geschrieben, außerdem eine Story mit dem Titel „The Funeral Crasher“ über eine Frau, die zur Beerdigung von Fremden geht, um ihre eigene Trauer zu bewältigen.
Zugleich trug ich seit über einem Jahrzehnt die Idee zu einer Story über eine Privatdetektivin mit mir herum, die das Familienunternehmen übernehmen soll und keine Ahnung hat, was sie da tun soll. Zum Teil lag das daran, dass ich selbst auch keine Ahnung hatte, was es bedeutete, Privatdetektiv zu sein. So konnte ich es gleichzeitig mit der Figur lernen! Aber als Kind war ich auch ein großer Fan von Fernsehsendungen wie Detektiv Rockford – Anruf genügt, die ich für eine realistische Darstellung dieser Arbeit hielt, weil das kein Alleskönner-Knochenbrecher-Detektiv war, sondern er sich abmühte, das im Rahmen seiner Möglichkeiten Beste zu tun. Die ganze Zeit über hatte ich sogar den Namen meines fiktiven Helden im Kopf – Skelf. Auf Scots bedeutet „Skelf“ Splitter oder ein Schiefer, den man sich einzieht. Ein bisschen kitschig, schon klar, aber warum nicht?
Jedenfalls kam mir irgendwann die Idee, diese beiden Themen in einer Figur und einem Roman zusammenzubringen. Das bedeutete, dass ich einerseits ein erzählerisches Gerüst hatte, bei dem die Ermittlungen der Privatdetektivinnen die Handlung vorantreiben, und andererseits das Beerdigungsmotiv mir Raum und Gelegenheit bot, über Leben und Tod nachzudenken. Also das Beste aus beiden Welten.
Du hast einmal erwähnt, die Figur der Femme Fatale in deinem Werk aktualisieren zu wollen. Eine der bemerkenswertesten Seiten von A Dark Matter ist die Darstellung seiner Heldinnen, die auf einem faszinierenden und moralisch ambivalenten Terrain operieren. Wie siehst du die Rolle weiblicher Figuren in der modernen Kriminalliteratur?
Ich glaube, dass die Kriminalliteratur die abgeschmackten alten frauenfeindlichen Klischees der Vergangenheit größtenteils hinter sich gelassen hat. Das trifft jedenfalls für den Tartan Noir zu, der ohnedies überwiegend von Frauen geschrieben wird. Mir kam es sowieso immer leicht beknackt vor, wenn ich etwas las, in dem schablonenhafte Frauenfiguren nur dazu dienten, die Handlungen männlicher Hauptfiguren voranzutreiben. Die halbe Welt ist doch weiblich!
Deswegen gab es bei mir schon in ein paar eigenständigen Krimis vor A Dark Matter Frauen als zentrale Figuren, die ich wie alle Hauptfiguren behandelt habe – als Mischung aus guten und schlechten Zügen, als hoffentlich komplexe moralische Menschen, die sich entscheiden müssen, wie sie sich verhalten, wenn ihre Moralvorstellungen wirklich auf die Probe gestellt werden.
Das wollte ich mit den Skelf-Frauen fortführen. Die Hauptfiguren in A Dark Matter sind drei Generationen von Frauen aus einer Familie: Dorothy ist die Matriarchin, Jenny ihre Tochter und Hannah Jennys erwachsene Tochter. Das verschaffte mir mehr Freiraum, ihre unterschiedlichen Lebenseinstellungen zu erkunden, zum Teil, weil in ihren Leben sie verschiedene Erfahrungen machen, zum Teil, einfach weil sie verschiedene Personen sind. Genau wie wir haben sie alle ihre Probleme und Komplexe, und sie geraten auch miteinander in Konflikt, aber angesichts ihres eigenen Schmerzes begreifen sie, dass sie einander beistehen müssen, wenn sie im Leben weiterkommen wollen. Für mich sind das sicher keine Heldinnen, jedenfalls nicht mehr als wir alle welche sind.
A Dark Matter hat eine gut konstruierte Handlung und dynamische, lebendig gezeichnete Figuren. Was steht bei dir an erster Stelle – die Handlung, die Figuren, das Milieu oder die allgemeine Thematik oder Idee hinter dem Roman?
Wenn ich über ein neues Buch nachdenke, ist das anfangs immer eine Mischung von allem, aber es schält sich relativ rasch heraus, dass es zunächst und vor allem um die Figuren geht. Sobald man die Hauptfigur oder -figuren gefunden hat, kann man darüber nachdenken, wie sie sich in dieser oder jener Situation verhalten. Ich glaube, dass sich die Handlung aus den Figuren entwickelt – wie die zentralen Charaktere auf das reagieren, was man ihnen als Autor zumutet. Dabei kommen dann auch das Milieu und die Thematik ins Spiel, weil man beim Schreiben ja bestimmte Aspekte des Menschseins erkunden möchte, und das ergibt den Rahmen für alles, was man sich an Erlebnissen und Geschehen für die Figuren ausdenkt.
Mich haben immer moralische Grauzonen interessiert. Wir alle glauben doch gerne, dass wir unter schwierigen Bedingungen genau das Richtige täten, aber ich habe doch meine Zweifel, dass das stimmt. Es ist ja nicht erfunden, dass Menschen über andere hinwegtrampeln, um auf einem sinkenden Schiff für sich noch einen Platz im Rettungsboot zu ergattern. Deswegen versuche ich, meine Figuren möglichst viel zu prüfen – wie weit werden sie gehen, wo liegen ihre Grenzen? Für mich ist es interessant, wenn man beim Lesen unsicher ist, ob man das Verhalten einer Figur gutheißen kann – dann habe ich das Gefühl, dass sich mit meiner Arbeit etwas erreicht habe.
Nach diesen allgemeinen Ausführungen muss ich aber sagen, dass die Handlung in diesem Buch viel sorgfältiger konstruiert ist als bei seinen Vorgängern. Mit drei Hauptfiguren passiert so viel, es gibt so viele Beerdigungen, persönliche Schicksalsschläge und zu lösende Fälle. Ich musste sehr aufpassen, die ganzen Bälle immer in der Luft zu halten. Aber ich drück mir die Daumen, dass das hoffentlich halbwegs gelungen ist.
Du hast einen sehr dichten, sparsamen Schreibstil entwickelt, der dennoch viel über die Figuren aussagt, über ihre Gefühlstiefe und Beweggründe. Wer hat dich beeinflusst? Welche Schriftsteller haben dich speziell in die Kriminalliteratur geführt, und was hat dich an ihren Werken fasziniert? Gab es ein bestimmtes Buch, das dich zu dem Entschluss gebracht hat, es selbst in diesem Genre zu versuchen?
Ich versuche, meine Texte immer so glatt zu ziehen wie möglich. Redigieren und Überarbeiten macht mir eigentlich sogar Spaß. Meine ersten Entwürfe sind meist überladen, und beim Überarbeiten kann bis zu einem Viertel der Wörter wegfallen. Es geht darum, die Essenz der Story herauszudestillieren – dass kein Wort zu viel dasteht und so. Wenn man was streichen kann, soll man es auch streichen. Beim Redigieren stelle ich mir die Wörter als Feinde vor, je mehr man von ihnen loswird, desto besser.
Was den Schreibstil betrifft, so waren die Short Stories von Raymond Carver sicher einer der frühesten Einflüsse. Sie sind sehr knapp und direkt, aber zwischen den Zeilen schwingt immer viel Bedeutung mit. Das war eine Offenbarung. Mit Blick auf Krimis, so habe ich mich wegen einiger Autoren des klassischen amerikanischen Noir-Kanons in das Genre verliebt – Dashiell Hammett, Jim Thompson und vor allem James M. Cain. Für mich ist Cain der Meister einer knappen, dichten Prosa mit ungeheurer Tiefe. Hast du Double Indemnity gelesen? Da steckt alles drin – großartige Figurenzeichnung, eine tolle Erzählerstimme, komplexe Handlung, echte Gefühlstiefe und Bedeutung, und das auf nur 120 Seiten. Ich dachte, wenn ich auch nur in die Nähe davon komme, habe ich alles richtig gemacht.
Kriminalliteratur wirft meist auch ein Schlaglicht auf die zeitgenössische Gesellschaft und ihre wirtschaftlichen und kulturellen Probleme. Wie wichtig ist es für dich, sie in deinen Romanen anzusprechen?
Ziemlich wichtig, würde ich sagen, aber genauso wichtig ist es, sie damit nicht zu überfrachten. Wir alle kennen Bücher, in denen diese Themen sehr polemisch und plakativ behandelt werden, und das kann einen schon abtörnen. Wenn meine Arbeit gut ist, beleuchte ich Probleme wie Ungleichheit oder Ungerechtigkeit ja schon durch die Charaktere und die Handlung. Ich hoffe, das ist mir in meinem vorherigen Roman Der Bruch gelungen, in dem es um einen Jugendlichen geht, der aus einer Einbrecherfamilie stammt und in ihr festhängt. In dem Buch ging es um die Armut und Not, die im Schatten von Edinburghs großem Reichtum existieren, aber zugleich bot es hoffentlich auch eine spannende Geschichte.
Die gesellschaftliche Ungleichheit lässt sich auch in den Romanen über die Skelfs behandeln. Schließlich sterben wir am Ende ja alle, egal ob reich oder arm. Und die Art, wie wir Menschen im Tod behandeln, ist ein spannender Kontrast dazu, wie wir sie im Leben behandeln. Auch durch diese Geschichten lassen sich alle möglichen kulturellen Themen ansprechen, aber hier wäre ich vorsichtig, das allzu plakativ zu tun. Außerdem glaube ich, dass viele dieser Dinge eher unbewusst wahrgenommen werden. Ich denke nicht, dass ich in meinen Roman offen politisch bin, aber ich bin ziemlich sicher, dass man aus der Art, wie ich an den Stoff herangehe und wie meine Figuren die Welt sehen und darin handeln, auch meine Weltsicht herauslesen kann.
Übersetzung: Sven Koch