Alleinerziehende Eltern sind für mich seit langem Vorbilder
A. F. Carter im Gespräch mit Marcus Müntefering
Ihr Roman „Die Höfe“ spielt in einer ziemlich typischen, kaputten US-Kleinstadt im rust belt der USA. Erzählen Sie uns ein bisschen über Baxter, bitte.
Kleinstadt-Amerika, insbesondere die Orte in den Staaten des mittleren Westens, haben lange Zeit große Stabilität genossen, die vom Beginn des Industriezeitalters im späten 19. Jahrhundert bis in die jüngste Zeit anhielt. Diese Städte und Kleinstädte hingen oft von einem einzigen Industriezweig ab, von einer Gruppe miteinander verbundener Fabriken, einem Sägewerk oder, wie im Fall von Baxter, von vier Fleischverpackungsbetrieben.
Sind diese Kleinstädte nicht extrem langweilig?
Natürlich gab es dort keinen Glamour, aber dafür immerhin die Sicherheit, dass es einen Job für die Kinder geben würde, wenn sie alt genug wären, um zu arbeiten. „Die Höfe“ spielt zu einem Zeitpunkt, als diese Sicherheit verschwunden ist. Drei der vier Fabriken haben ihre Tore für immer geschlossen, die letzte steht vor dem Aus. Und das hat verheerende Folgen.
A. F. Carter ist ein Pseudonym, Ihren richtigen Namen wollen Sie nicht verraten, bekannt ist aber, dass sie als Schriftsteller in New York leben, wo auch ihre anderen Romane spielen. Was haben Sie als Großstädter für eine Beziehung zu Orten wie Baxter?
Gar keine. Der Grund, warum ich den Schauplatz meiner Romane von New York in den rust belt verlegt habe, ist ein ganz banaler. Wenn ein Verdächtiger nicht sofort identifiziert wird, geht es bei der Polizeiarbeit im heutigen New York City hauptsächlich um die Auswertung der Aufzeichnungen unzähliger Sicherheitskameras. Das ist langwierig und wenig dramatisch.
Klingt nicht nach dem Stoff, aus dem Krimis gemacht sind.
Die von Krimiautoren geliebten Ermittlungstechniken, die verbissene Befragung von Zeugen, die Ausbeutung der Informanten? So etwas kann man nicht mehr seriös schreiben, aber die Realität ist für einen Autor, der unterhalten will, zu langweilig. Besser ist es, einen Schauplatz zu finden, an dem es nur wenige Überwachungskameras gibt. Zum Beispiel eine kleine, sterbende, von Kriminalität geplagte Stadt mit einer unterfinanzierten Polizei.
Beide Heldinnen sind alleinerziehende Mütter – eher eine Seltenheit im Kriminalroman, oder?
Alleinerziehende Eltern sind für mich seit langem Vorbilder, vor allem alleinerziehende Mütter. Ich vermute, dass es in Deutschland viel mehr Unterstützung für Alleinerziehende gibt als in den Vereinigten Staaten, wo das Leben für die meisten Alleinerziehenden sehr hart ist. Manche Eltern brechen unter dem Druck zusammen, andere wiederum kämpfen. Meine Protagonistinnen Git O‘Rourke, eine Krankenschwester, und Delia Mariola, eine Polizistin, gehören zu dieser zweiten Kategorie. Ich finde sie heldenhaft, vor allem, weil sie gegen die Widrigkeiten des Lebens ankämpfen, ohne dass jemand ein Loblied auf sie singt. Ganz im Gegenteil. Sie werden im Allgemeinen eher verunglimpft.
Trotzdem ist mein Roman keine Seifenoper, in der die Kämpfe alleinstehender Mütter anstelle von Verbrechen und Bestrafung dargestellt werden. Die Probleme von Git und Delia grundieren „Die Höfe“ nur. Der Mord steht im Mittelpunkt.
Auch Covid grundiert Ihren Roman, anders als viele andere Autoren aktuell, die ihre Geschichten in der Vergangenheit spielen lassen oder Covid einfach ignorieren, stellen Sie sich dem Thema. In „Die Höfe“ hat die Epidemie die ohnehin schwer angeschlagene Stadt weiter geschwächt – und Git als Krankenschwester an ihre Grenzen geführt. Wie hat Covid Ihre eigene Arbeit verändert?
Gar nicht. Ich erkrankte früh an Covid, erholte mich schnell und schrieb weiter. Natürlich war auch ich versucht, Covid in meiner Geschichte zu ignorieren, so wie andere Autoren es getan haben.
(der Roman erschien in den USA bereits 2021, als noch nicht absehbar war, wie die Pandemie sich entwickeln würde, Anm. d. Red.) Aber ich habe mich diesen Vorbildern nicht angeschlossen. Covid zu ignorieren, wäre wie einen Krieg zu ignorieren. Manche Ereignisse sind einfach zu wichtig, und man kann ihnen nicht den Rücken kehren, vor allem nicht, wenn deine Protagonistinnen eine Krankenschwester und ein Polizist sind. Aber wie gesagt, auch die Covid-Epidemie ist in „Die Höfe“ nur Grundierung.
Ihr Roman handelt auch von der Drogenepidemie, die vor allem in der Mitte der USA ex-treme Verheerungen anrichtet. Können Sie uns das Problem und seine Ursachen kurz skizzieren?
Ach, das ist kompliziert und würde den Rahmen dieses Interviews sprengen. Lassen Sie mich nur soviel sagen: Als die wirtschaftliche Basis im mittleren Westen Amerikas zusammenbrach, blieb den Bewohnern ein Loch, das sie nur mit irgendeinem Rauschgift füllen konnten. Die Drogen, ob Heroin, Koks oder Methamphetamin, waren schon da, ein Raubtier, das im Unterholz lauerte.
Ihr Roman enthält viel ungeschminkte Realität. Schließen Sie sich der weitverbreiteten Meinung an, dass Kriminalromane das perfekte Genre sind, um aktuelle gesellschaftliche Verwerfungen zu thematisieren?
Nein. Ich will unterhalten. Für mich wäre das ultimative Kompliment: „Ich konnte nicht aufhören zu lesen. Ich musste wissen, wie es weitergeht.“