Vom Schicksal geschlagen
Samuel W. Gailey im Gespräch mit Carsten Germis
Im US-amerikanischen Feuilleton wirst Du oft als »literarischer« Krimiautor bezeichnet. Welche Autoren sind Deine großen Vorbilder?
Sehr stark Larry Brown, aber auch Russell Banks, John Steinbeck, Lewis Nordan, Donald Ray Pollock.
Wann kam Dir die Idee, einen Krimi zu schreiben?
Zu Beginn meiner schriftstellerischen Laufbahn war ich Drehbuchautor und ich war von Hollywood frustriert. Meine Frau, die Schriftstellerin Ayn Gailey, schlug mir vor, es mit dem Schreiben eines Romans zu versuchen. Die literarische Idee für Deep Winter, meinen Debütroman, war dann schnell geboren. Ich habe die Hauptfigur Danny einem Freund aus meiner Kindheit nachempfunden, der eine schwere Lernbehinderung hatte. Mein Freund war still und größer als die anderen Kinder, und aufgrund seiner besonderen Umstände war er ein Einzelgänger. Ich war schon immer ein Fan des literarischen Noir und von Krimis und habe mich gefragt, was mit jemandem wie meinem Freund passieren würde, wenn er an einem Tatort entdeckt würde. Wie würde er sich verteidigen? Wie könnte er seine Unschuld beweisen? Von da an entwickelte sich die Geschichte.
Das klingt, als wären Charaktere für Dich beim Schreiben das Wichtigste?
Nach meiner Überzeugung ist die Figur im Roman immer der König (oder die Königin). Ich bin ein geduldiger Leser, wenn ich mich auf eine Reise mit einer fesselnden und einzigartigen Figur einlasse. Ich kann kein Buch herausbringen, bevor meine Figuren nicht voll ausgeprägt sind. Die Leser sollen sich nicht nur ein Bild von ihnen machen, sondern auch den Klang ihrer Stimme, die Art, wie sie gehen, ihre Ticks oder Eigenheiten kennen. Ich versuche, eine Dynamik zwischen den Figuren und den Lesern zu schaffen, damit die Leser an der Reise meines Helden teilhaben können. Sowohl der Protagonist wie auch der Antagonist müssen eine umfangreiche Hintergrundgeschichte haben – Schwächen und herausragende Eigenschaften. Ich mag es, wenn meine Charaktere Schwächen haben, die sie vor Herausforderungen stellen, und wenn sie einen Kampf zwischen Wollen und Brauchen führen.
Was reizt Dich, immer wieder Außenseiter zu Protagonisten zu machen, die am Rande der Gesellschaft stehen?
Marginalisierte Personen faszinieren mich besonders. Ich fühle mich zu Menschen am Rande hingezogen, die oft übersehen und unterschätzt werden. Aufgrund der Vorurteile und Voreingenommenheit anderer haben sie im Leben viel größere Hindernisse zu überwinden. Einige meiner Figuren sind Mischungen von Freunden, Familienmitgliedern und Feinden, mit denen ich im Laufe der Jahre zu tun hatte. Ich sitze in der Regel 3 bis 5 Jahre an einem Roman, daher ist es wichtig, dass meine Figuren attraktiv sind – was nicht unbedingt sympathisch bedeutet –, da ich sie über einen sehr langen Zeitraum hinweg sehr intensiv begleite.
Wie wichtig bleibt da noch der Plot?
Der Plot ist entscheidend für eine fesselnde Geschichte, die den Leser neugierig macht und ihn raten lässt, was als Nächstes kommen könnte. Für mich kann aber vor allem die Stimme eines Autors – oder sein Stil – einen Roman ausmachen oder brechen. Manche behaupten, jede Geschichte sei schon einmal erzählt worden – darüber kann man streiten –, aber ich denke, es ist die Stimme des Autors, die die meisten großartigen Geschichten auszeichnet. Manche Romane mögen eine faszinierende Handlung haben, aber ohne Stil verliere ich das Interesse und lege das Buch weg.
In DIE SCHULD erleiden Deine Figuren Schicksalsschläge, die ihr ganzes Leben aus der Bahn werfen. Stehen wir alle näher am Abgrund als wir meinen?
In der Tat. Ich bin oft erstaunt darüber, wie ein einziger Fehler, eine Wendung des Schicksals, das Leben eines Menschen für immer verändern kann. Ich fiebere mit Charakteren, die nach so einem Schicksalsschlag oft eine Fehlentscheidung nach der anderen treffen, die immer wieder an den Abgrund gedrängt werden und irgendwie dennoch ihre gewaltigen Hindernisse überwinden. Geschichten aus dem wahren Leben über tragische Schicksalsschläge faszinieren und ängstigen mich zugleich. Ohne einen Therapeuten hinzuzuziehen, der mich analysiert, ist es für mich wahrscheinlich kathartisch, Charaktere zu erschaffen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich abmühen und kämpfen wie die Hölle und schließlich einen Weg finden, zu triumphieren.
Und in so einer Lage ist jeder in der Gefahr, kriminell zu werden?
Niemand von uns ist ein Engel. Und die Definition von »kriminell« ist subjektiv, je nachdem, in welchem Land oder Regime oder zu welcher Zeit man lebt. Ich bin mir also nicht sicher, ob jeder dazu fähig ist, ein Krimineller zu werden, aber wir alle sind anfällig dafür, Opfer zu werden, manchmal einfach dadurch, dass wir zur falschen Zeit am falschen Ort sind.
Der Teufel Alkohol spielt eine große Rolle in Deinen Romanen. Gleichzeitig schaffen es Deine Figuren, die Sucht aus eigener Kraft zu bewältigen. Bist Du ein optimistischer Romantiker?
Ich bin vielleicht eher ein Realist. Alkohol und Sucht sind ein wiederkehrendes Thema in meinen Romanen. Das kommt auch aus eigener Erfahrung, denn die Sucht hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Viele in meiner Familie haben mit der Sucht zu kämpfen. Einige von uns haben sie besiegt. Andere haben es nicht geschafft. Es gibt viele Erscheinungsformen der Sucht, und ich glaube, dass viele von uns von dieser Krankheit betroffen sind oder einen geliebten Menschen kennen, der mit dieser Krankheit kämpft. In Die Schuld greift Alice zum Alkohol, um den Schmerz zu betäuben. Es ist ihre vorübergehende Flucht vor dem Kummer und dem Verlust, den sie erlebt hat. Und wie es im Leben so ist, beeinträchtigt dieser Zwang ihr Urteilsvermögen. Alices Reise wird sowohl von inneren als auch von äußeren Dämonen herausgefordert. Ich persönlich habe mehr Triumphe als Niederlagen erlebt, daher bin ich mit mir im reinen.
Du treibst die Handlung stark durch Dialoge voran. Gibt es ein Vorbild, an dem Du dich orientiert hast?
Meine Erfahrung und meine Ausbildung als Drehbuchautor haben mich mit dem Handwerkszeug ausgestattet, einen aussagekräftigen, aber realistischen Dialog zu schreiben. In einem Drehbuch ist der Dialog die treibende Kraft. Ein Drehbuchautor kann nur über das schreiben, was man sieht – also das Setting und die Umgebung – und wie eine Figur spricht. Realistische Dialoge spiegeln wider, wie wir im Alltag sprechen. Selten führen wir im wirklichen Leben einen »sprachähnlichen« Dialog. Wir werden unterbrochen. Wir schweifen ab. Wir benutzen Slang. Ich habe gelernt, dass eine Figur nicht immer in ganzen Sätzen antworten muss. Umgekehrt sind die wirkungsvollsten Dialoge auch diejenigen, die nicht laut gesagt werden. Körpersprache oder Schweigen haben großes Gewicht. In meinem Folgeroman (Come Away From Her) zu DIE SCHULD gehe ich diesem Konzept auf den Grund, indem ich meine Hauptfigur taub mache.
Du bist im ländlichen Pennsylvania aufgewachsen und lebst mit Deiner Familie jetzt auf einer abgelegenen Insel. Wie stark beeinflusst das Dein Schreiben?
Ich glaube, meine Erziehung hat nicht nur mein Schreiben, sondern meine gesamte Lebensperspektive geprägt. Ich bin in den 1980er Jahren in einer kleinen Stadt im Nordosten Pennsylvanias mit weniger als vierhundert Einwohnern aufgewachsen. Das Leben in dieser Art von Gemeinde ist anders. Besonders damals. Wir lebten in einer abgelegenen Gegend mit harten Wintern und hart arbeitenden Menschen. Damals gab es noch keine Computer, Handys und andere Technologien. Das machte unsere Welt viel kleiner. Wir waren isoliert. Und wir waren nicht gerade eine eng verbundene Gemeinschaft. Die meisten Leute blieben unter sich. Wir waren Farmer und Jäger. Wir fuhren Lastwagen mit Gewehren und Schrotflinten auf Gewehrständern. Wir tranken Bier und Whiskey. Wir haben entweder Tabak gekaut oder geraucht. Das Leben auf dem Land ist eine Subkultur innerhalb einer breiteren Gesellschaft. Ich schreibe gerne über dieses Umfeld und die Menschen, die darin leben.
Hat es Dich nie gereizt, einen Kriminalroman in einer Großstadt spielen zu lassen?
Niemals. Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte. Meine Geschichten werden tief im Land bleiben. Ich habe im Laufe der Jahre in vielen großen Städten gelebt. Ein paar Mal in Chicago, viele Male in Los Angeles. Und ich schätze viele Aspekte des Stadtlebens – das Essen, die Kunst, die Kultur und die Vielfalt, um nur einige zu nennen –, aber es bringt auch Ermüdung mit sich. Alles ist schnelllebig und konstant. Oft hatte ich das Gefühl, durch die Gegend zu hetzen, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich wollte. Oft fühlte ich mich buchstäblich und im übertragenen Sinne verloren. Vor ein paar Jahren zog meine Familie auf die abgelegene Insel Orcas Island, die zwischen Vancouver und Seattle liegt. Die Einwohnerzahl liegt bei etwa 3 500, und um hierher zu gelangen, braucht man eine Fähre oder ein Wasserflugzeug. Die Abgeschiedenheit bringt ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl mit sich, wenn man sich darauf einlassen möchte. Orcas ist kreativ, hilfsbereit, integrativ und ziemlich schrullig. Hier habe ich ein Zuhause gefunden.
Wie wichtig sind diese persönlichen Erfahrungen für Dich als Schriftsteller?
Ein guter Geschichtenerzähler muss auf persönliche Erfahrungen, einen offenen Geist und Neugierde zurückgreifen. Obwohl die meisten meiner Geschichten in einer ländlichen Umgebung spielen, sind meine Figuren sehr vielseitig. Ich habe Geschichten aus der Perspektive von Frauen, Farbigen, Schwulen, Heterosexuellen, Männern Gottes und Männern und Frauen mit körperlichen und geistigen Behinderungen geschrieben. Ich schreibe also nicht unbedingt über das, was ich weiß, sondern eher über das, was ich wissen will.
Ermittler spielen in Deinen Kriminalromanen keine Rolle. Warum eigentlich?
Um ehrlich zu sein, habe ich mich nie zu dieser Art von Kriminalromanen hingezogen gefühlt. Ich bin nicht der Typ für Polizei, Detektive, Ermittler oder Privatdetektive. Stattdessen ziehe ich es vor, meine Protagonisten mit dem Dilemma, in dem sie sich befinden, zu konfrontieren und es lösen zu lassen. In Deep Winter habe ich einen Sheriff und einen Hilfssheriff in der Geschichte, aber ihre beruflichen Rollen werden nicht dazu benutzt, ein Verbrechen aufzuklären. Sie sind lediglich Akteure in einer sinnlosen Tragödie.
Was sind Deine nächsten Projekte?
Mein dritter Roman, Come Away From Her, wurde gerade in den USA veröffentlicht. Die Geschichte dreht sich um die Ankunft von Tess, einer tauben Frau, die vor ihrer Vergangenheit davonläuft und unwissentlich eine Kette von beunruhigenden Ereignissen in Gang setzt, als sie gezwungen ist, ihre Geheimnisse mit Fremden in einer Kleinstadt zu teilen. Und ich schreibe einen Roman, der im späten 17. Jahrhundert im Nordosten Pennsylvanias spielt und in dessen Mittelpunkt eine deutsche mennonitische Siedlerfamilie steht, die sich mit einem Mord auseinandersetzt, der von einem ihrer eigenen Kinder begangen wurde. Es ist eine Mischung aus Bad Seed und The Revenant.