Mein Interesse gilt der Überwindung der Genregrenzen
David L. Ulin im Gespräch mit Chris Harding Thornton
Um mit der Entstehungsgeschichte des Romans zu beginnen – wie ist er zustande gekommen?
Das ist eine lange Geschichte. Vor etwa fünfunddreißig Jahren begann ich mir Gedanken über dieses Buch zu machen. Ich war Ende zwanzig und hatte jede Menge Noir-Stoffe gelesen, und da hatte ich diese Idee, über die grundlegende Konstellation, die darin bestand, dass eine Tochter und ihre Stiefmutter in einen Erbschaftsstreit verwickelt sind und ein nichtsnutziger Erzähler darüber berichtet, der glaubt, mehr zu wissen, als es tatsächlich der Fall ist. Er gerät zwischen die Fronten und trifft die falsche Wahl.
Aber ich hatte noch keine Geschichte dazu, lediglich die Idee. Zu schreiben angefangen habe ich dann 2015. Ich hatte in der Zwischenzeit bereits einiges an Belletristik verfasst, aber weil ich hauptsächlich Sachbuchautor war, hatte ich mit der Entwicklung eines Plots nicht viel Erfahrung. Ich schrieb ungefähr 74 Seiten und manövrierte den Erzähler in eine Situation, in der ich nicht mehr weiterwusste. Es war der zentrale Wendepunkt in der Mitte des Romans, und ich brach die Arbeit daran ab, weil ich einfach nicht weitermachen konnte. Also begann ich, an einem anderen Buch zu arbeiten, einem Memoir, einem Buch mit Erinnerungen. Die Seiten, die ich geschrieben hatte, mochte ich allerdings weiterhin und beabsichtigte, darauf wieder zurückzukommen.
Doch dann kam die Pandemie, und plötzlich war alles sehr auf die Gegenwart fixiert. „Du kannst jetzt kein Memoir schreiben“, sagte ich mir. „Die Vergangenheit existiert nicht, auch die Zukunft nicht, und ich bin hier in der Gegenwart, also lege ich dieses Sachbuch beiseite, vielleicht für immer, jedenfalls bis das hier vorbei ist, oder … wir werden ja sehen, was passiert.“ Und dann schrieb ich Essays, kurze Essays über die Erfahrung des Lockdowns. Anfang August 2020 wollte ich dann etwas anderes machen. Etwas Eindringlicheres.
Ich las diese ersten 74 Seiten noch einmal, und mir ging ein Licht auf: „Aah, so könnte es gehen.“ Und sobald ich tat, was notwendig war, erschloss sich mir das Ende des Romans. Den letzten Teil habe ich dann in ungefähr fünf Monaten geschrieben. Ich meine die erste Fassung, ohne die Überarbeitungen. Auf merkwürdige Weise war dieser Roman also meine Rettung, weil die Welt, in der wir lebten, plötzlich so unbekannt und außer Kontrolle war. Es fanden Wahlen statt, dann kam die Sache mit George Floyd, und alles fühlte sich an wie das Ende der Welt. Auf eigenartige Weise war dieses Versinken in der Welt des Romans, jeden Tag vier oder fünf Stunden lang, wie ein: „Toll! Ich werde eine Zeitlang in dieser Welt leben und mich dann wieder herausbegeben.“ Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum es dann so schnell ging. Später, als ich die Überarbeitungen vornahm, wurde mir dann klar, dass sich die Isolation, die Paranoia und die Ungewissheit des Lockdowns – obwohl ich daraus keineswegs ein „Lockdown-Buch“ machen wollte – bereits in den Roman hineingeschlichen hatten und tatsächlich recht nützlich für die Gestaltung der Hauptfigur waren, die bereits entsprechend lebte. Im Wesentlichen nämlich in einer selbstgewählten Lockdown-Welt. Es hatte also wirklich etwas Interessantes und sein Gutes, als ich daran schrieb.
Diese Hauptfigur ist faszinierend, und ich denke, sie ist das, was viele wohl einen „unzuverlässigen“ Erzähler nennen würden. Nicht dass wir alle zuverlässig wären. Doch die meisten Autoren, die mit einem unzuverlässigen Erzähler arbeiten, machen dem Leser die Außenwelt bewusst, die die Erzählung untergräbt. Diesen Spielraum geben Sie uns nicht. Wir müssen die Welt mit den Augen dieses Menschen sehen.
Müssen Sie. Das war zum Teil intuitiv, zum Teil beabsichtigt. Er ist ein unzuverlässiger Erzähler, der immer unzuverlässiger wird, je weiter der Roman fortschreitet. Aber wie Sie schon sagen: Jeder ist ein unzuverlässiger Erzähler, weil jeder von uns seine Geschichte mit einer Agenda versieht.
Ebenso wollte ich mit der Frage spielen, ob eine Figur sympathisch sein muss – weil ich mich darum nicht schere. Je nach den Umständen kann jeder von uns äußerst liebenswert sein oder völlig unsympathisch. Ich war eher daran interessiert, mit Komplexität zu spielen, vielleicht auch daran – ein Ansinnen, das mir erst später in den Sinn kam –, bei den Lesern ein Unbehagen hervorzurufen, was die Identifikation mit dem Erzähler betrifft.
Wenn ich Geschichten mit einem Ich-Erzähler lese, mit einem starken Ich-Erzähler, ganz unabhängig davon, was diese Figur tut, kann ich gar nicht anders, als mich bis zu einem gewissen Grad zu identifizieren, denn es heißt ja „Ich“, „Ich“, „Ich“, „Ich“. Ein merkwürdiger Vergleich, weil ich nicht davon ausgehe, dass er dem Erzähler von Lolita gleicht (außer in dieser Hinsicht), doch als ich diesen Roman in der Highschool oder im College zuerst las, verleitete mich die Ich-Erzählung zu einer Art Sympathie. Doch dann legte ich das Buch weg und dachte: „Was? Moment mal. Wie bitte?“ Und war schockiert, weil ich einfach mitzog, aus halber Sympathie, meine Skepsis hintanstellte. Also legte ich das Buch erneut weg, dachte darüber nach, was ich da in Wirklichkeit las, und war erschrocken – weil ich auf diese Weise mitschuldig wurde. Damit wollte ich ebenfalls spielen.
Diese Erzählhaltung aus nächster Nähe ermöglicht uns Streifzüge durch das weit verzweigte Bewusstsein des Erzählers, das Buch selbst hingegen ist jedoch kurz und straff gehalten.
Ja, in mancherlei Hinsicht ist es ein Stück mit drei Figuren. Ich wollte, dass der Erzähler nur über eine begrenzte Außenwelt, zugleich aber über diese wirklich seltsame, uferlose Innenwelt verfügt. Weil mich immer interessiert, was Menschen nach außen zeigen, im Gegensatz zu dem, was sich in ihnen abspielt. Die Bücher dieses Genres, die ich am liebsten mag, fassen sich tatsächlich kurz, siehe etwa die Werke von Simenon und David Goodis. Auch die Werke der für mich maßgeblichen Autoren – Charles Willeford, Dorothy B. Hughes, Patricia Highsmith – sind eher kurz gehalten und haben Drive.
Ich wollte eine wirklich fokussierte Geschichte, weil ich wollte, dass die Innen- und die Außenschau sich in gewisser Weise ausbalancieren sollten. Das klingt jetzt rationaler, als es war, aber es war immer mein Ziel, tatsächlich ein prägnantes, straffes Buch zu schreiben, mit klar umrissenen Figuren, einer klar definierten Zeitspanne – die ganze Chose umfasst nur wenige Wochen – und einem ebenso klaren Schauplatz, damit Raum blieb für was auch immer im Kopf des Protagonisten vor sich ging.
Ich möchte den Originaltitel und die Formulierung der Kapitelüberschriften ansprechen. Sie beziehen sich auf Chuck Berrys Song „Thirteen Question Method“, was mir eine Art poetische Ausdrucksform zu sein scheint. Was halten Sie von der Verwendung von Formen? Manche Autoren dürften sich davon eingeschränkt fühlen.
Ich mag Formen. Was seltsam ist, denn als ich jünger war, habe ich ihre Verwendung strikt abgelehnt, Ich wollte nicht mit diesen „etablierten Formen“ arbeiten. Das ist wirklich interessant: Als ich Ende zwanzig war, hatte ich diesen Freund, einen Dichter, zehn, zwölf Jahre älter als ich, der anfing, mit der klassischen Form des Sonetts zu arbeiten, mit Reimschemata, iambischen Parametern und all dem. Und ich sagte zu ihm: „Warum tust du das? Findest du nicht, dass es deine Kreativität einschränkt, wenn du bestimmte Regeln einhalten musst?“ Er entgegnete mir: „Nein. Genau genommen zwingt es mich dazu, kreativer sein zu müssen. Es geht darum, herauszufinden, wie ich das, was ich sagen will, innerhalb dieser Strukturen ausdrücken kann.“
Damals war ich daran nicht interessiert, aber ich habe es immer im Kopf behalten und bin deshalb auf diese Weise lange Zeit ein Formalist geblieben. Speziell in diesem Buch, in der englischsprachigen Originalausgabe mit ihren dreizehn Kapiteln. Jedes Kapitel umfasste dreizehn Seiten. Mit diesem Motiv der Dreizehn wollte ich unbedingt spielen, und dessen formale Natur wirkte genauso, wie mein Freund es lange Jahre zuvor gesagt hatte. Dreizehn Seiten – das ist ein knapper erzählerischer Rahmen für ein Kapitel. Ich hatte ein Gespür dafür, wie viele Szenen dort hineinpassen würden, und deshalb hatte diese formale Struktur etwas wahrhaft Befreiendes. Und der Song hat natürlich auch dazu beigetragen. Ich meine die Kapitelüberschriften, die aus dem Song stammen. Sie stehen in keiner direkten Verbindung mit dem Geschehen in den Kapiteln, aber sie geben einen Ton vor. Und diese Vorstellung mochte ich. Die Vorstellung, dass es eine äußere Struktur gab, in deren Rahmen all dieses interne Zeug stattfand. Was im Kopf des Erzählers vor sich geht – seine Phantasien oder Erinnerungen, sein Bewusstsein –, wird im Verlauf des Buches immer formloser und chaotischer. Deshalb fand ich, dass es ein hilfreicher Kontrast war, diese formale Struktur zu haben, die es zuließ, den Zerfall seines Bewusstseins zu schildern, wie auch immer er sich gestalten mochte.
Und dann noch der Song. Der Erzähler gesteht dies eloquenter ein, als es mir möglich ist, aber der Song scheint mir doch sehr ungewöhnlich für Berry zu sein.
Absolut. Zuerst ist er mir durch das Cover von Ry Cooder aufgefallen, das der Erzähler ebenfalls beiläufig erwähnt. Cooder reininterpretiert ihn im Wesentlichen als Delta Blues, mit Fingerpicking auf der akustischen Gitarre, und das wirklich kraftvoll. Das war Jahre, bevor ich die Version von Chuck Berry zum ersten Mal gehört habe, und es gibt da etliche Versionen. Es ist auch wirklich ein eigenartiger Song, insbesondere für Chuck Berry, der… Wo wir gerade von Form und Struktur sprechen. Den Großteil seiner Songs, die bekannten jedenfalls, kennt man hauptsächlich von den Gitarrenriffs her, die eindeutig seine Signatur tragen. Und dann ist da dieser Song, den es irgendwie so nebenbei gibt. Aus diesem Grund habe ich mich gleich in ihn verliebt.
Der Begriff des Ungewöhnlichen scheint mir eine gute Überleitung zu sein. Lassen Sie uns über Genres sprechen. Ich habe den Eindruck, dass „Genre-Literatur“ oft als etwas Neuartiges angesehen wird, wobei „Noir“ meist von „literarisch“ abgegrenzt wird. Was halten Sie davon?
Ich wollte diesen Rahmen sprengen. Ich habe schon immer „Noir“ gelesen, eigentlich schon als Jugendlicher. Und eines der Themen, mit denen ich mich als Erwachsener, als professioneller Buchkritiker, erneut beschäftigen wollte, war unser Verhältnis zur Genreliteratur. Buchkritiken zu schreiben hatte wiederum Auswirkungen auf mein eigenes Werk, weil ich mich dauernd mit Ästhetik befasste.
Es gibt ein großartiges Zitat von Raymond Chandler aus den Vierzigern, aus seinem Essay Die simple Kunst des Mordes, wo er sagt (mal sehen, ob ich das hinkriege, ohne es zu verdrehen): „Es gibt keine Kunstformen, sondern nur Kunst, und davon herzlich wenig“. Diese Worte sind meine Richtschnur. Er schrieb diesen Essay für The Atlantic Monthly, ein wirklich interessantes Faktum mit einigem Hintergrund. Chandler schrieb Hardboiled-Krimis und war dafür von Edmund Wilson in The New Yorker runtergemacht worden. Wilson hatte die Lektüre von Kriminalromanen als minderes Laster bezeichnet, ähnlich wie das Lösen von Kreuzworträtseln oder Zigarettenrauchen. Chandler reagierte darauf, und ich glaube, er hat völlig recht. Einen großen Teil meines Daseins als Autor und Kritiker habe ich der Dekonstruktion der Genre-Hegemonie gewidmet. Ich meine damit mein Interesse als Sachbuchautor (um es mal so zu nennen) an Autofiktion und daran, die Unterscheidung von fiktionalem und nonfiktionalem Erzählen abzuschwächen.
Mein Interesse gilt der Überwindung der Genregrenzen, dem Schreiben in unterschiedlichen Genres. Auch ich arbeite in mehreren. Ebenso interessiert bin ich, nicht als Mann vom Fach, sondern eher als Beobachter oder Teil des Publikums, an multimedialem Arbeiten. Ich bin mal gespannt, ob sich dieses Genre, jenseits eines restriktiven Formats, in Richtungen entwickelt, die sich aufsprengen lassen.
Was dieses Buch betrifft, ich meine, betrachten Sie doch mal ein Buch wie Camus‘ Der Fremde (1942) als, in gewisser Weise, Noir-Roman. Er war unter anderem beeinflusst von James M. Cain. Der Fremde hatte großen Einfluss auf mein Buch, ich habe viel daran gedacht. Für mich ist DIE FRAU, DIE SCHRIE definitiv ein Noir-Roman, weil ich mit dem Tableau und den Konventionen der Form spielen wollte, aber ich wollte auch im Territorium dessen operieren, was ich als „Literatur der Entfremdung“ bezeichnen würde, wie bei Camus, Huysmans oder Dostojewski – diese ganze Geschichte des Schreibens aus der Warte einer tiefgreifenden Entfremdung –, weil sie alle auf derselben Linie liegen. Ich meine, Schuld und Sühne, sechshundert Seiten lang, würde ich nur mit einiger Zurückhaltung einen Noir-Roman nennen, aber andererseits ist er das auf seine Weise.
An dieser Ähnlichkeit war ich natürlich interessiert. Ich glaube nicht, dass Bücher abqualifiziert werden, nur weil sie einem bestimmten Genre angehören. So manches von Highsmith ist ein gutes Beispiel dafür. Ich war in Italien, spät im Frühling, und während ich dort war, las ich noch einmal Der talentierte Mr. Ripley, zum Teil weil es dort spielt, wo ich mich gerade befand. Und während ich das Buch las, dachte ich immer, was für ein großartiger Kriminalroman es doch ist. Doch ebenso ist es an sich ein großartiger Roman. Diese Figur ist faszinierend, desgleichen die Psychologie des Romans. Die Entwicklung der Erzählung, die Sprache, die Metaphorik, schlicht alles. Und deshalb spreche ich, was diese Bücher anbelangt, eher von ihrer Qualität, unabhängig von einem kulturellen Kontext, der sie in eine Hierarchie einordnet. Als ich Highsmith erneut las, und ich weiß nicht, ob es daran lag, dass ich lange nichts von der Autorin gelesen hatte oder ob ich einfach vergessen hatte, wie gut sie war, faszinierte mich, was für ein Kunstwerk dieser Roman darstellt. Als ich ihn jemandem als Geschenk überreichte, sagte ich deshalb einfach nur: „Das ist der beste Roman, den ich dieses Jahr gelesen habe.“
Das ist ja lustig. Wir haben Highsmith zur gleichen Zeit gelesen, und gerade habe ich ihren ersten Roman noch einmal gelesen, aber mir will der Titel einfach nicht einfallen.
Zwei Fremde im Zug.
Einfach umwerfend.
Oh ja, ein großartiger, phantastischer Roman. Und sie ist eine wahre Poetin der Entfremdung – oder des soziopathischen Charakters. Es ist wirklich bemerkenswert, wie sie ihre Figuren dimensioniert, sie wirklich werden lässt, sie entwickelt, und das schwebte mir definitiv auch bei meinem Erzähler vor.
Ich wollte, ganz offenkundig, dass er der Noir-Protagonist schlechthin würde, zugleich wollte ich aber auch, dass er all diese anderen Merkmale aufweist, die ausschließlich seine eigenen sind. Die Musik, die der Erzähler hört und über die er im gesamten Roman nachdenkt, zählt dazu, ebenso all diese Fragen hinsichtlich unserer Sterblichkeit, über die er nachgrübelt, die existenziellen Fragen eben. Das schien mir sehr, sehr wichtig für diese Figur zu sein, und das wollte ich erforschen.
Sie beziehen sich auf Camus, und ich habe den Eindruck, viele werfen Existenzialismus und Nihilismus oft in einen Topf. Was denken Sie darüber?
Eine sehr gute Frage. Ich persönlich glaube nicht, dass es dasselbe ist, doch obwohl sich meine Hauptfigur als Existenzialist betrachtet, bin ich mir nicht sicher, ob er nicht doch ein Nihilist ist. Aber ich habe auch das Gefühl, dass es da, was den Aufbau des Buches angeht, eine Menge Sachen gibt, die ich gar nicht so genau wissen wollte. Ich wollte das wissen, was notwendig war, aber da gibt es auch vieles, was er einfach nicht weiß, und
ich wollte viele dieser Fragen offen lassen.
Ich denke, dass ich, was mich betrifft, eher zu Camus‘ Auffassung in Der Mythos des Sisyphos neige, die den Existenzialismus in die Nähe des Absurden rückt. Als ich angefangen habe, Camus zu lesen – da war ich neunzehn oder zwanzig –, fühlte ich mich zu den eher nihilistischen Aspekten des Existenzialismus hingezogen. Doch als ich ihn dann immer wieder las, dass ist interessant, wissen Sie – ich habe diesen Gedanken bis zu dieser Sekunde eigentlich nie gehabt. Aber letzte Woche habe ich gerade eine Lehrveranstaltung zu James Baldwins Nach der Flut das Feuer (Originaltitel: The Fire Next Time) abgehalten, und das Verblüffende an Baldwins Vision, das mich nach wie vor beeindruckt, ist dieses rigorose Beharren auf der Liebe als moralischem Imperativ. Wenn man bedenkt, woher Baldwin politisch kommt, und auch angesichts der Themen, über die er schreibt, Bürgerrechte in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, ist es erstaunlich, dass er zu dieser
Haltung in Sachen Liebe gelangen kann. Dasselbe gilt meiner Meinung nach auch für Camus am Ende von Der Mythos des Sisyphos, wenn er sagt, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen müssen. Er nimmt den Existenzialismus –vielleicht sogar auch den Nihilismus oder was sich davon im Nihilismus finden könnte – und verwandelt ihn wenn nicht in Freude, so doch in Verantwortlichkeit. Wenn wir in einem sinnlosen Kosmos leben, dann ist es unsere Verantwortung, ihm einen Sinn zu verleihen.
Die Vorstellung, befreit zu sein, dass der Existenzialismus einen zur Übernahme von Verantwortung veranlassen kann, ist von hohem Interesse. Für mich eine wahrhaft befreiende Idee.
Natürlich ist das eine grobe Vereinfachung, aber schließlich ist es besser, ein guter Mensch zu sein als ein schlechter, oder? Es ist besser, sich anderen gegenüber gut zu benehmen, als sie auszunutzen – auch wenn dafür keine Belohnung winkt. Man tut es, weil es das Richtige ist. Ich liebe diese Vorstellung. Schreiben wollte ich jedoch über eine Figur, die eine andere Wahl getroffen und einen anderen Weg beschritten hat.
Zum Begriff der „Wahl“: Als Belletristikautorin habe ich den Eindruck, dass die Herausforderung darin besteht, die Figuren gewissermaßen organisch handeln zu lassen, zu zeigen, dass ihre Handlungen davon abhängen, wer sie in einem bestimmten Augenblick der Entscheidung sind. In welcher Hinsicht halten Sie dies für eine „Wahl“ oder einen Ausdruck „freien Willens“?
Ich denke, das können wir niemals wissen. Wir glauben, dass wir einen freien Willen besitzen, doch ich meine, wenn wir den göttlichen Willen oder das Schicksal einmal beiseitelassen, dass ich davon bestimmt bin, wer mich aufgezogen hat. Wie ich aufgezogen wurde. Und auch davon, wie ich darauf reagiert habe. Ich bin konditioniert von meiner DNA, von allen möglichen Dingen, über die ich absolut keine Kontrolle habe. Deshalb, freier Wille? Ja, vielleicht, aber innerhalb der Grenzen all dieser Einflüsse, seien sie nun biologischer, genealogischer oder ökologischer Natur – Natur versus Umwelt –, denen ich über Generationen hinweg ausgesetzt war.
Was meinen Roman betrifft, ist der freie Wille tatsächlich eine interessante Frage. Robert Stone, ein Autor, den ich sehr bewundert habe, wurde katholisch erzogen und fiel nie wirklich vom Glauben ab. In einem Interview, ich glaube, es war in der Paris Review, befragte man ihn über den Katholizismus und ob er an Gott glaube. Seine Antwort bestand aus einer Variante von: „Ja, tue ich, aber ich glaube, dass Gott das Universum geschaffen und sich dann von uns abgewandt hat. In meinem Universum ist es schlimmer, dass es Gott gab und er gegangen ist, als dass es ihn nie gegeben hätte.“ Die Vorstellung, dass wir das sind, Gottes verlassene Kinder, die liebe ich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich vollkommen dieser Meinung bin, aber ich denke gerne darüber nach. Und eine der Ideen, denen ich gerne nachgegangen bin, war diese Hauptfigur, die man als jemanden begreifen kann, der sich stets nach allen Seiten absichert, indem er die Frage nach der Existenz Gottes aufwirft, obwohl er Gott für böswillig hält. Er glaubt, dass es da draußen einen Gott gibt und dass Gott mit ihm spielt. Absichtlich.
Und da irrt er sich nicht, denn in einem Roman übernimmt der Autor die Rolle Gottes. Und ich, als Autor des Romans, hatte definitiv ein Interesse daran, mit ihm zu spielen, ihn voranzutreiben und abzuwarten, was geschieht.
Und „abwarten, was geschieht“ meine ich ernst, denn ich folge beim Schreiben keinem Plan. Plane es jedenfalls nicht im Detail. Ich entdecke es in der ersten Fassung, und dann überarbeite ich es natürlich. Aber ich wollte tatsächlich, dass er sich Gedanken über diesen böswilligen Gott macht – nicht weil daran glaubt, sondern weil ich es für wichtig hielt, dass er daran glaubte. Dann konnte ich nämlich diese Rolle für ihn ausfüllen.
Sie sagen, dass Sie keinen Plan verfolgen. Für mich gleicht das Schreiben eher dem Lesen. Der Autor ist immer mit dabei, weil er derjenige ist, der es niederschreibt.
Genau. Die Idee der Tulpa habe ich beispielsweise das erste Mal in einem Roman verwendet, den ich in meinen Zwanzigern zu schreiben versuchte. Damals war ich wirklich interessiert an dieser Idee, und es war überhaupt nicht geplant, dass ich in diesem Buch darauf zurückkommen würde, aber das Konzept der Tulpa taucht dann gleich im ersten Kapitel des Buches auf. Ich schrieb vor mich hin, und plötzlich dachte der Ich-Erzähler an Tulpas. Und ich dachte: „Okay, ich hab’s nicht kommen sehen, aber warten wir doch mal ab, wohin das führt.“ Dieser Teil des Schreibprozesses interessiert mich wirklich sehr.
Heute morgen habe ich in der New York Times Book Review gerade einen Artikel über Philip Roth gelesen. Den Autor des Artikels hatte immer erstaunt, dass Roth 1995 Sabbaths Theater veröffentlichte und dann zwei Jahre später einen weiteren dicken Wälzer, Amerikanisches Idyll, herausbrachte. Doch dann sichtete der Autor Roths Papiere und Notizen in der New York Public Library und begriff, dass Roth sein Amerikanisches Idyll schon Jahre vorher in Angriff genommen hatte, es aber einfach nicht zu einem Abschluss bringen konnte. Er hatte die Hauptfigur einfach noch nicht, arbeitete sich aber immer wieder daran ab.
Dann zitierte der Autor aus einem Interview oder Vortrag von Roth aus dem Jahr 1999, wo er sagte, er wisse nicht, warum er die Seiten nicht wegwerfe. Er wusste nicht, warum er sie behalten hatte. Er schloss einen neuen Roman ab, beugte sich dann wieder über die Seiten und dachte: „Das hat was. Ich weiß nicht, was, aber das hat einfach was.“ Roth brauchte ungefähr zwanzig Jahre, in denen er sich in den Pausen zwischen anderen Büchern immer wieder mit diesen Seiten herumschlug. Und dann kam er auf die Idee mit dem Schweden. Ich will nicht behaupten, dass sich dann alles fügte, weil dieser Prozess nicht so geradlinig ist, aber auf einmal dachte er: „Ah, ich verstehe, was ich hier tue.“
Das hat wirklich etwas sehr Interessantes. Romane, auch die kurzen wie meiner, erfordern eine Menge Zeit, und der Großteil davon ist eine Art unterbewusste Inkubation. Meine Bücher sind meist schnell geschrieben, sobald das Schreiben richtig in Gang gekommen ist, aber damit verbunden ist jede Menge hin und her und Grübeln – Fehlschläge und Seiten, die geschrieben und schon wieder verworfen wurden, bevor sie genug geliert waren, um geschrieben zu werden.
Das klingt ermutigend, auch wenn dieser Prozess entmutigend sein kann.
Mitunter sage ich zu meinen Studenten: „Wenn alle von uns gesunde Ego-Strukturen hätten, würden wir nicht in diesem Seminar sitzen, weil wir dann auch nicht schreiben müssten. Es sind die Beschädigungen, die uns zum Schreiben bringen.“
Übersetzung von Peter Hammans