Wessen Verantwortung?

Malin Thunberg Schunke im Gespräch mit Sonja Hartl
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Wie ist dieser Kriminalroman entstanden?
Vor einigen Jahren habe ich ein juristisches Fachbuch mit dem Titel Whose Responsibility geschrieben. In dem Buch gehe ich der Frage nach, wer eigentlich die Verantwortung für den Schutz der Rechte der Verdächtigen trägt, wenn mehrere Staaten gemeinsam über die Grenzen hinweg in Verbrechen ermitteln. Ich habe festgestellt, dass jeder von uns bei Strafverfahren im Ausland, auf sich gestellt in ernste Schwierigkeiten geraten kann. Nachdem das Fachbuch veröffentlicht wurde, habe ich weiter über die menschlichen Schicksale in grenzüberschreitenden Fällen nachgedacht. Ich malte mir ein Szenario aus, was passieren könnte, wenn man einfach irgendwohin in den Urlaub in ein europäisches Land reist und dort in Verdacht gerät, ein schweres Verbrechen begangen zu haben … Es wurde zur Keimzelle meines Debütromans.

Warum bist Du dann von einem Fachbuch in die Fiktion gewechselt?
Das Thema hat mich einfach nach dem Fachbuch nicht mehr losgelassen und ich habe bedauert, dass es nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, die es verdient hätte. Und eines Tages war dann die Geschichte einfach da. Über einen Mann, der im Urlaub verhaftet wird und verzweifelt behauptet, dass er unschuldig ist. Lange wusste ich aber nicht, was ich mit dieser Idee anfangen sollte. Bis dahin hatte ich ja nur Fachbücher geschrieben. Aber mein kluger Mann hat gesagt: „Das klingt wie ein Roman. Mach einen Versuch!“

Und warum ist es ein Kriminalroman geworden?
Als ich das Manuskript geschrieben habe, war mir nicht so richtig bewusst, in welches Genre das Buch passt. Aber weil es sich um eine schwere Straftat und die Ermittlungen dazu dreht, hat sich die Form des Kriminalromans ergeben.

Helfen juristische Fachkenntnisse beim Schreiben von Kriminalromanen? 
Ich finde schon. Als Autor*in fühlt man sich in der Darstellung des Strafprozesses sicher. Ich mag selbst Kriminalromane, die möglichst authentisch und glaubwürdig sind. Als Juristin und Staatsanwältin irritiert es mich manchmal, wenn Romane die Ermittlungen oder das Strafverfahren fehlerhaft schildern.

Ich war bei so einigen juristischen Details fassungslos, vor allem als ich gelesen habe, welche Befugnisse in Frankreich einzelne Personen (hier der Richter Duvernoy) in so einem Verfahren haben – wohlwissend, dass das französische Rechtssystem einige Besonderheiten hat. Aber im Roman steht auch, dass es in Schweden und anderen europäischen Ländern nicht anders aussieht, sobald es um Terrorismus geht. Kannst Du dazu etwas mehr sagen? 
Nach dem Terroranschlag in den USA am 11 September 2001 haben viele Staaten neue Gesetze geschaffen, um solche Verbrechen effektiver aufzuklären oder sogar zu verhindern. Viele von diesen Maßnahmen bedeuten eine erhebliche Einschränkung der strafprozessualen Rechte des Einzelnen. Personen, die verdächtigt werden, eine Terrortat begangen zu haben, können z.B. länger in Untersuchungshaft gehalten werden, das Recht auf einen Anwalt kann in gewissen Fällen hinausgezögert werden und besonders avancierte Ermittlungsmethoden werden erlaubt. Der Schutz der Gesellschaft vor Terrortaten kollidiert hierbei manchmal mit dem Recht auf ein faires Verfahren.

In meinem Nachwort schreibe ich, dass es in dem Kriminalroman auch um die Frage geht, wie es um den Rechtsstaat in Europa steht. Deshalb möchte ich auch Dir gerne diese Frage stellen: Wie steht es um den Rechtsstaat in Europa? 
Um den Rechtsstaat in Europa steht es grundsätzlich – gerade im Vergleich zu vielen anderen Teilen der Welt – sehr gut. Jedoch bin ich mir sicher, dass es Amir Yasin in der Wirklichkeit noch viel schlimmer hätte ergehen können! Wie schon gesagt, gibt es heutzutage sehr repressive Tendenzen in der Strafverfolgung im Bereich des Terrorismus. In EIN HÖHERES ZIEL  geht es aber nicht nur um die Rechtssicherheit von Personen unter Terrorverdacht, sondern auch um die allgemeine Rechtssicherheit von Verdächtigen in grenzüberschreitenden Ermittlungen. Natürlich gibt es Rechte, die uns in solchen Fällen schützen, aber selbst in ausgeklügelten Rechtssystemen gibt es Lücken. Genau deshalb habe ich Amir Yasin nach Frankreich geschickt, eine der modernsten Demokratien der Welt und ein Staat mit einer sehr weit entwickelten Rechtsordnung. Besonders in der EU wird seit längerem viel gemacht, um den Schutz von Einzelnen, die Ermittlungen ausgesetzt sind, zu verstärken. Das ist momentan besonders wichtig, weil es in der Welt gerade eine politische Tendenz Richtung populistischer und repressiver Gesetze gibt. Wir müssen deshalb immer die Gefahr für die Rechtssicherheit im Blick behalten.

Dieser juristische Teil ist sehr faszinierend – wie ist es Dir gelungen, so darüber zu schreiben, dass auch Nicht-Juristen es verstehen können? 
Wenn mir das gelungen ist, bin ich sehr zufrieden. Als ich das Manuskript geschrieben habe, wollte ich nur die Geschichte von Amir Yasin und seiner Familie erzählen. Ich dachte nicht so sehr über Stil oder Sprache nach. Aber ich habe natürlich viel mit dem Text gearbeitet, bevor es dann veröffentlicht wurde.

Wie helfen Dir Deine Erfahrungen als Staatsanwältin beim Schreiben von Kriminalromanen? 
In meinen Büchern benutze ich meine Berufserfahrung bei der Staatsanwaltschaft Stockholm sehr viel. Mir ist der Gang der Ermittlungen in der Praxis vertraut und auch die Denkweise und das Zusammenspiel von Polizisten und Staatsanwälten.

Viele Passagen Deines Kriminalromans spielen auch im Gefängnis in Frankreich. Wie hast Du dazu recherchiert?
Zum Glück habe ich hier keine eigene Erfahrung vor Ort … Ich habe aber viele Artikel und Bücher über das Gefängnissystem und das Leben als Inhaftierte in Frankreich gelesen. Es gibt auch mehrere interessante Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über die teilweise schwierigen Zustände in europäischen Gefängnissen.

Das Buch ist sehr europäisch, ja, international angelegt. Warum? 
Wahrscheinlich liegt es daran, dass meine Familie und ich seit Jahren ein sehr internationales Leben führen. Ich wohne seit über 25 Jahren in Deutschland, aber habe immer auf Distanz in Schweden gearbeitet. Mein Mann ist Deutscher und meine drei Kinder sind zweisprachig aufgewachsen. Seit einiger Zeit haben wir ein Ferienhaus auf Sardinien und haben dort auch ein Jahr gelebt. Ich fühle mich in allen Ländern sehr wohl. Vielleicht hat dieses Leben mit einem Bein in mehreren Ländern dazu geführt, dass ich die internationale oder europäische Perspektive der strikt nationalen Perspektive vorziehe.

Ich finde es erstaunlich, dass nicht viel mehr Kriminalromane bei Eurojust spielen – ständig ist ja zu lesen, dass Verbrechen, dass Kriminalität internationaler wird. Hast Du dort auch gearbeitet? Falls nicht, woher kommen die Einblicke in ihre Arbeitsweise?
Gerade die internationale Perspektive hat mir als Leserin manchmal in dem Genre gefehlt. Bei den Ermittlungen, die von Polizei und Staatsanwaltschaft verschiedener Länder gemeinsam durchgeführt werden, entwickelt sich eine ganz besondere Dynamik. Unterschiede in Sprache, Kultur und nicht zuletzt in den Rechtssystemen inspirieren und erschweren die Ermittlungen zugleich. Diese natürliche Dynamik konnte ich in meiner Buchreihe gut benutzen, um Spannung zu erzeugen. Ich selbst habe nicht bei Eurojust gearbeitet, aber bei Besuchen vor Ort in Den Haag habe ich von Kollegen und Kolleginnen wertvollen Input und Inspiration bekommen.

In Schweden sind bereits vier weitere Teile erschienen. Hattest Du von Anfang an eine Reihe im Sinn? (Falls ja, wieso?)
Am Anfang ging es mir nur um die Geschichte von Amir Yasin in Frankreich. Mitten im Schreibprozess fiel mir dann ein, dass ich auch Ermittler brauche. Weil es ein internationaler Fall war, kam ich auf die Idee mit Eurojust. Das hat dann so einen Spaß gemacht, über diese Staatanwälte in Den Haag zu schreiben, dass es mir schwergefallen ist, Abschied zu nehmen. Als ich das Manuskript an die Verlage geschickt habe, habe ich deshalb erstmal behauptet, dass es der erste Teil einer Romanserie ist …

Nun habe ich auf Deiner Homepage schon gelesen, dass in den weiteren Teilen Esther Edh und Fabia Moretti im Mittelpunkt stehen werden. Warum hast Du zwei Frauen als Hauptfiguren gewählt?
Vom ersten Moment an wusste ich, dass ich eine schwedische Staatsanwältin an Bord haben wollte. Das war vielleicht für mich eine Möglichkeit, meinen Traumjob bei der Staatsanwaltschaft – zumindest in meinen Gedanken – weiterhin auszuleben. Aber es war eigentlich nicht geplant, dass es zwei Frauen sein müssen. Es hat ein bisschen gedauert, bevor die Hauptfigur Fabia Moretti zu mir kam. Aber als sie da war, erkannte ich sofort, dass dieses dynamische Duo von Frauen meine Romanserie gut tragen kann.

Wie würdest Du sie beschreiben? 
Esther Edh und Fabia Moretti sind sehr unterschiedliche – aber starke – Frauen. Esther ist in vieler Hinsicht typisch schwedisch. In der Arbeit ist sie eher schüchtern, vorsichtig und gesetzestreu. Sie wird dann konfrontiert mit ihrem kompletten Gegensatz. Fabia Moretti ist eine knallharte ehemalige Anti-Mafia Staatanwältin aus Rom. Sie ist eine farbenfrohe Frau voller italienischer Lebensfreude. Für Fabia haben die Gesetze nicht immer Vorrang.

Ich musste beim Lesen einige Male an die Serienproduktion „Das Team“ denken – Gibt es schon Pläne für eine Verfilmung?
Nein, leider nicht, aber das wäre natürlich ein Traum! Wenn jemand Interesse hat, bitte sofort melden …

Obwohl Dein Kriminalroman so europäisch ist, liest er sich doch auch sehr schwedisch. Liest Du selbst Kriminalromane? Gibt es Autor*innen, die Dich besonders beeinflusst haben? 
Ich lese gerne Kriminalromane. Ich weiß nicht, ob es Autor*innen gibt die mich beim Schreiben beeinflusst haben, aber meine Favoriten unter den schwedischen Krimiautoren sind Arne Dahl und Håkan Nesser.

Wie geht es denn weiter in der Reihe, würdest Du einen kurzen Ausblick geben?
In Schweden sind fünf Bücher über Esther Edh und Fabia Moretti veröffentlicht worden.In jedem Buch geht es um einen abgeschlossenen Fall und einen Typ von grenzüberschreitender Kriminalität. In den anderen Teilen der Romanserie sind die Themen: „Die Rechtslosen“: internationale Zwangsarbeit auf den Gemüsefeldern vor Neapel, „Nur ein Spiel“: illegale Machenschaften in der Welt des Profifußballs in London, „Blinde Wut“: politischer Aktivismus und Gewalt und in „Der Preis eines Lebens“: um den skrupellosen Handel mit Menschenleben.