Außenseiter sein
Samuel W. Gailey im Gespräch mit Marcus Müntefering
Hi Sam, nach DIE SCHULD, Ihrem zweiten Roman, erscheint jetzt mit TIEFER WINTER auch Ihr Erstlingswerk auf Deutsch. Lassen Sie uns ein wenig darüber sprechen.
Gern – soweit ich mich daran erinnere, es ist ja schon ein bisschen her (lacht). Aber ich denke, ich kann die Spinnweben wegwischen und mich erinnern.
Ihr Debüt als Schriftsteller gaben Sie 2014, mit Ende Vierzig. Was hat so lange gedauert?
Ach, ich und meine Frau haben für etwa 30 Jahre in Los Angeles gelebt und in der Filmindustrie gearbeitet.
Mit Erfolg?
Na ja, wir haben einige Jahre für Roland Emmerich gearbeitet, den dürften Sie ja kennen. Aber wie das in Hollywood so ist, man verwirklicht ein Projekt, und aus zehn anderen wird nichts. Meine Frau hat aber ein erfolgreiches Buch über die Pornoindustrie geschrieben in dieser Zeit. Es wurde verfilmt, und ich glaube, es ist auch auf Deutsch erscheinen.
Stimmt, es hieß „Pornology: Der Pornoführer für anständige Mädchen“. Aber lassen Sie uns das sündige Hollywood verlassen und schauen, welche Verfehlungen in US-amerikanischen Kleinstädten passieren. Denn hier spielen Ihre Romane, weitgehend in Pennsylvania, wo Sie auch aufgewachsen sind.
Und zwar in einer Kleinstadt mit drei- oder vierhundert Einwohnern, die sich nicht groß von Wyalusing unterscheidet, dem Ort, in dem TIEFER WINTER spielt.
Sie erzählen von einer mörderischen Winternacht, in der eine junge Frau ermordet und der Falsche – ein geistig Behinderter – als Täter gejagt wird. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Eines Tages dachte ich wieder an Dave, einem Jungen, mit dem ich in der Schule befreundet war. Er war groß, größer als alle anderen, und er hatte eine Lernschwäche. Und ich fragte mich: Was würde es nach sich ziehen, wenn jemand wie Dave eines Mordes bezichtigt würde. Jemand, der Schwierigkeiten hat, Menschen einzuschätzen und damit, zu unterscheiden, was wahr ist und was Einbildung. Das war der Ausgangspunkt, und dann entwickelte sich die Geschichte. Viele der Figuren im Roman tragen Merkmale der Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin.
Sie leben inzwischen auf Orcas Island im Nordwesten der USA. Haben Sie den Weg nach Pennsylvania auf sich genommen, um für Ihr Buch zu recherchieren?
Ich bin ohnehin ab und an da, also war das nicht nötig. Zuletzt übrigens erst vor ein paar Wochen, und ich kann Ihnen sagen: Dort verändert sich nie etwas. Alle jagen, alle trinken, fast jeder arbeitet in einem der Schlachthäuser.
Wollten Sie so schnell wie möglich weg von dort?
Ja, wahrscheinlich. Aber jetzt lebe ich noch abgeschiedener, auf einer Insel. Schon ironisch. Aber natürlich ist es hier auf Orcas Island ganz anders als in Pennsylvania. Progressiv, liberal und kreativ. Viele Künstler leben hier und tauschen sich aus. Wenn du in den Achtzigern im ländlichen Pennsylvania aufgewachsen bist, lange bevor es das Internet gab, weißt du, was es wirklich heißt, von der Welt abgeschnitten zu sein. Ich wusste nicht, was da draußen auf mich wartete und dachte: Das hier, das ist die ganze Welt. Und um eins klarzustellen: Ich bin trotz allem gern dort aufgewachsen, es ist eine landschaftlich sehr schöne Gegend, und in den Wäldern spazieren zu gehen kann eine magische Erfahrung sein.
Im Buch bekommt man davon nicht viel mit: Es ist dunkel und eiskalt und verschneit. Und so gut wie niemand ist nett oder sympathisch.
Die Winter sind hart in Pennsylvania. Der Schnee, die Stürme, das führt zu weiterer Isolation, also die idealen Voraussetzungen für einen Kriminalroman.
In TIEFER WINTER geht es auch darum, ein Außenseiter zu sein. Dave ist einer, aber es gibt auch andere Figuren, die fürchten, ignoriert zu werden. Waren Sie ein Außenseiter?
Wir sind erst dorthin gezogen, als ich fünf oder sechs war, also war ich ein Außenseiter oder fühlte mich zumindest so. Aber ich habe Freunde gefunden, einige von Ihnen sehe ich heute noch. Anfang des Jahres hatte ich Besuch, und wir erinnerten uns an unsere Kindheit, an Geschichten von Mord, Selbstmord, Menschen, die lebendig begraben wurden, Menschen, die gesteinigt wurden. Für eine Kleinstadt hatten wir sehr viel Gewalt und Kriminalität.
Der Bösewicht in Ihrem Roman heißt Mike Sokowski. Er ist ein Polizist, aber auch ein Krimineller und drogensüchtig.
Ich finde ihn faszinierend. Aber er ist böse, drogensüchtig und ein Frauenfeind und für ihn wird es keine Erlösung geben, weil er sie weder sucht, noch verdient hat. Aber auch er muss mit den Verwundungen der Vergangenheit umgehen, hatte eine schlimme Kindheit. Ich bin übrigens mit einem Jungen namens Mike Sarnovsky aufgewachsen und wollte meinen Bösewicht eigentlich so nennen. Aber mein Verleger meinte, der Name tauge nichts. Mike war einer der Typen, die mich als Kind gebullied haben. Ich war künstlerisch interessiert und eher klein, also das ideale Opfer.
Wann wussten Sie, dass sie wegwollten?
In der Highschool, meine Eltern waren viel unterwegs und ich lernte, dass es eine Welt da draußen gab und sie ganz anders war, als alles, was ich kannte. Mir wurde klar: Ich bin ein country boy. Ich wollte aber weder Farmer werden, noch im Schlachthof arbeiten. Ich wollte studieren.
Auch die Familien in TIEFER WINTER sind ziemlich kaputt.
Ja, das stimmt, eine Familie so glücklich wie in amerikanischen Sitcoms wird es bei mir nicht geben. Was ich schreibe, basiert auf persönlichen Erfahrungen. Ich selbst komme aus einer kaputten Familie, beide Elternteile haben mehrfach geheiratet, und ich habe sehr viele Stiefgeschwister, in meiner Familie gibt es viel Drogensucht. Ich selbst habe lange damit zu kämpfen gehabt. Deshalb ist Sucht ein Thema in allen meinen Büchern, vor allem in TIEFER WINTER.
Warum spielt ihr Roman im Jahr 1984?
Es war die Zeit, als ich mit der Highschool fertig wurde, und ich wollte, dass der Roman in einer Zeit spielt, die viel mit mir zu tun hat. Außerdem gab es keine Handys und keine Computer damals, was gut zu meinem Thema der Isolation passt.
Ihre Romane, vor allem Ihre Figuren erinnern mich an die Romane von Larry Brown, an „Fay“ oder „Joe“. Gehört er zu Ihren Vorbildern?
Ich bin von vielen Schriftstellern inspiriert, aber von Larry Brown besonders. Seine Romane haben mir gezeigt, in welche Richtung ich gehen, welche Art von Geschichten ich erzählen will. Seine Figuren sind kaputt und verwundet und machen unendlich viele Fehler, aber vor allem sind sie sehr authentisch. Das ist auf eine ganz spezielle Art wunderschön. Übrigens hat Alice aus DIE SCHULD Ähnlichkeiten mit Larry Browns Fay, beide sind Opfer ihrer Vergangenheit, beide sind eine Zeit lang obdachlos.
Auch bei Larry Brown geht es um Frustration und Wut. Das Leben seiner Figuren ist aus den Fugen geraten. Hat Sie das angesprochen?
Als ich mit TIEFER WINTER angefangen habe, war ich schwerer Alkoholiker. Ich hasste mich selbst und war außer Rand und Band. Ich war frustriert von mir selbst. Und viel von diesem Gefühl, von meinen Erfahrungen als Alkoholiker, aber auch davon in einer Familie aufzuwachsen, in der es häusliche Gewalt gab, hat TIEFER WINTER geprägt.
Klingt als wäre das Schreiben für Sie eine Art Exorzismus gewesen:
Ja, stimmt, ein Exorzismus, oder eine Katharsis.
Die Männer in TIEFER WINTER sind nicht nur kaputt, viele von ihnen scheinen auch ein Problem mit Frauen zu haben.
Oh ja, in den Achtziger gab es viel Frauenhass in Pennsylvania. Aber das ist heute teilweise immer noch so. Gerade die Kleinstädte sind politisch sehr rot, heißt: Sie leben in der Welt von Donald Trump. Viele der Frauen in TIEFER WINTER sind vor allem Opfer, das war auch ein Grund, warum ich in meinem nächsten Roman unbedingt eine Frau in den Mittelpunkt stellen wollte. Alice aus DIE SCHULD hat zwar auch mit ihren Dämonen zu kämpfen, aber sie kontrolliert die Geschichte, das Narrativ. Nach TIEFER WINTER hatte ich das Gefühl, einen Ausgleich schaffen zu müssen. Denn dort gab es ja vor allem viele Männer, viele Waffen, viel Whiskey.