Über die Schockwirkung
Peter Farris im Gespräch mit Jon Bassoff
Im Zentrum des Romans steht für mich eine Vater-Sohn-Beziehung, obwohl ja nie ganz klar wird, ob die beiden wirklich Vater und Sohn sind. Wie wirkt sich diese Unbestimmtheit auf die Beziehung aus?
Bei den ersten Romanentwürfen war mir noch vieles unklar, aber diese Unbestimmtheit war von Anfang an beabsichtigt. Ich wollte, dass diese Spannung in die Beziehung zwischen Kidnapper und Geisel mit einfließt, wenn sich Charlie mit einem Anflug von Stockholm-Syndrom (auf seine Weise aber auch Hicklin) wünscht, sie wären wirklich Vater und Sohn. Obwohl das nie aufgelöst wird, eröffnet die schicksalhafte Begegnung beiden die Chance, eine Leerstelle in ihrem Leben auszufüllen – bei Charlie eine Kindheit ohne Vater, bei Hicklin die Vorstellung eines normalen Lebens mit väterlicher Verantwortung. Ich war noch nie ein großer Fan davon, dass sich am Ende alles glatt und sauber auflöst, und möchte den Lesern lieber noch etwas zum Rumkauen geben. Ich krieg heute noch Anfragen, ob Hicklin denn Charlies Vater war oder nicht.
Ich weiß, dass du mal bei einer Bank gearbeitet und einen Überfall erlebt hast. Kannst du ein bisschen davon erzählen? Ich vermute, dass Details dieses Erlebnisses in den Roman eingeflossen sind.
Ich war gerade mit dem College fertig und habe in einer Band gespielt, da brauchte ich noch einen Brotjob. Ich war nach der Ausbildung erst ein oder zwei Wochen in meiner Zweigstelle, da kam ein Mann namens Thomas Shearer reinspaziert, kritzelte was auf einen Zettel und gab ihn meinem Chef. Dann lief er durch die Lobby zurück zum Ausgang und verschwand schnell zur Tür hinaus. Später haben wir erfahren, dass er am selben Vormittag schon eine Bank überfallen hatte und betrunken war. Er hatte einen kleinen Revolver einstecken, aber den hat er zum Glück nicht gezogen. Er rannte einfach raus und steuerte eine Bar in der Nähe an, wo er festgenommen wurde. Ein Detective nahm mich mit dem Auto mit, um ihn zu identifizieren, und dabei rutschte Shearer die Hose runter, weil er das ganze Geld in seine Unterhose gestopft hatte.
Das war ein verrücktes Erlebnis, das mir lange nachging. Ich hatte nicht nur unmittelbar mitbekommen, wie die Polizei reagierte, sondern auch die bankinternen Verfahren kennengelernt. Ich bin froh, dass niemand verletzt wurde, weil die Sache sehr schnell hätte aus dem Ruder laufen können. Als ich anfing, ernsthaft über einen Roman nachzudenken, wusste ich sofort, dass darin ein Banküberfall vorkommen würde, und bei der Beschreibung in Letzter Aufruf habe ich natürlich auf meine Erinnerungen an den Überfall in einer Zweigstelle auf dem Land zurückgegriffen.
In diesem Roman wird auffällig viel geraucht. Das ist also offenbar symbolisch zu verstehen, nur wofür? Steht das für ein gewisses Ideal von Männlichkeit? Für Todessehnsucht?
Darin drückt sich natürlich Hicklins Nihilismus aus, den Charlie am Ende übernimmt – ob das gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Aber es stellt eine symbolische Verbindung zwischen den beiden dar, und als neu angenommene Gewohnheit weist es darauf hin, dass Charlie etwas von Hicklin mit in die Zukunft nimmt.
Die Geschichte enthält viele drastische, brutale Momente. Zum Beispiel die verstörende Szene, in der ein Mann seine Tochter an der Leine herumführt und tief im Wald versteckt hält. Oder eine bestialische mit der Bärenfalle. Entspricht das deiner Sicht auf die Menschheit? Dass Menschen Bestien sind? Schlimmer als Tiere?
Die Brutalität von Letzter Aufruf ist etwas überzogen und ein krasser Gegensatz zu Charlies braver Existenz. Das hat schon eine gewisse Schockwirkung, aber im Nachhinein, wenn ich es jetzt überarbeiten könnte, würde ich ein paar Sachen entschärfen. Die spiegeln vor allem meine damalige intensive Beschäftigung mit dem Gefängnisleben und insbesondere mit Gefängnisgangs wider, die nach eigenen Regeln leben und die (ähnlich wie Drogenkartelle) Gewalt nicht nur dazu nutzen, um ihren Willen durchzusetzen, sondern auch als Kommunikationsmittel.
Ich kämpfe mein ganzes Erwachsenenleben mit einer negativen, zynischen Haltung, und in Anbetracht der jüngsten Schrecken ist es schwer, von der Menschheit nicht von Zeit zu Zeit enttäuscht zu sein. Aber das Vaterwerden hat vieles abgemildert, und wenn man sich die Mühe macht und die Augen offenhält, entdeckt man, dass es der Welt eigentlich nicht an Freundlichkeit, Fürsorge und Menschlichkeit mangelt.
Beim Lesen deiner Romane komme ich nicht umhin, einen Southern-Gothic-Einfluss zu bemerken. Gibt es denn Schriftsteller – egal ob Vertreter des Southern Gothic oder nicht –, die du dir bewusst oder unbewusst zum Vorbild genommen hast?
Den ersten Entwurf zu Letzter Aufruf habe ich mit ungefähr 26 geschrieben, und das war mein zweites „Schlamassel“ in Romanlänge, während meiner jahrelangen Lehrzeit, die aus dem Lesen großartiger Literatur (inklusive Krimis) und dem Schreiben von absolutem Mist bestand. Um diese Zeit habe ich auch die reiche literarische Tradition der Südstaaten und die Stärke von Regionalliteratur kennengelernt. Larry Brown und Harry Crews, dann Cormack McCarthy, Ron Rash und Tim McLaurin, und von da weiter zu Flannery O’Connor, Eudora Welty und Erskine Caldwell. Es war eine Entdeckungsreise, aber an ihrem Ende habe ich begriffen, dass ich keine Geschichten schreiben wollte, die irgendwo anders spielen als hier in Georgia. Schreib über das, was du kennst, eifere deinen Vorbildern nach, und mit etwas Glück und viel Arbeit fängt auf dem Papier vielleicht auch mal deine eigene Stimme an zu sprechen.
Bei Letzter Aufruf – und speziell bei den Outlaw-Figuren – habe ich mich vor allem auf O’Connors Idee gestützt, Figuren sollten „gut erkennbar und erschreckend“ gezeichnet werden, und auf ihre Story „Ein guter Mensch ist schwer zu finden“, weil das sehr gut zu Hicklin als einem humorlosen Misfit passte, wenn er auf Charlie trifft und ihn als Geisel nimmt.
Dein Vater John Farris ist ja selbst eine Größe in der literarischen Welt. Wie stark beeinflusst das deine eigene Arbeit? Ist es schwer, in seinem übermächtigen Schatten zu schreiben?
Kind eines Romanautors zu sein, war eine interessante Erfahrung, und er hat mich sehr stark, aber in positiver Hinsicht beeinflusst. Er hat mich ermutigt, als ich Aufmunterung brauchte, aber sein Rotstift war wirklich gnadenlos, als ich ihm – in meinen frühen 20ern – meine ersten schriftstellerischen Versuche gezeigt habe.
Ich erinnere mich sehr gut, wie oft ich als kleiner Junge die Treppe runter zu seinem Büro ging und die Schreibmaschine klappern hörte (er schrieb auf einer alten Smith Corona), und dann spähte ich immer durch die Tür und sah ihn am Schreibtisch arbeiten. Ich scheine damals keine Manieren gehabt zu haben, denn ich bin immer einfach reingeschneit, ohne zu klopfen, und habe gefragt, wo meine G.I.-Joe-Comics sind oder ob wir Baseball spielen können. Da fuhr mein Dad von seinem Stuhl auf, total erschrocken, weil er plötzlich in die Realität katapultiert wurde. Er hatte unglaublich viel Geduld, und diese Unterbrechungen haben ihm anscheinend nie was ausgemacht. Noch heute können wir darüber lachen.
Doch je älter ich wurde, desto mehr begriff ich, dass die Momente, in denen ich ihn unterbrach und erschreckte, nur zeigten, wie tief er in der Arbeit versunken war. Was ich sah, war die totale Konzentration, die volle Aufmerksamkeit für die kleinsten Details eines Romans. Und ich habe gelernt, dass man, wenn einem das gelang, wenn man in diesen Bereich kam – und sei es nur für ein, zwei Stunden –, dann würde das Werk wirklich ein Eigenleben entwickeln. Das war die Magie, der er mit jedem Buch aufs Neue nachjagte – dass die eigenen Figuren lebendig werden und ihr Reden und Handeln aus ihnen selbst zu kommen scheint.
Die Szene, die sich vermutlich am stärksten ins Gedächtnis brennt, spielt in einer Kirche, in der Schlangen eine Rolle spielen. Da scheint das Religiöse mit einer kräftigen Dosis des Grotesken gewürzt zu sein. Wie ist dein Verhältnis zur Religion?
Ich war auf einer katholischen Schule, und meine Mutter geht regelmäßig in die Kirche, aber ich bin völliger Agnostiker und habe große Schwierigkeiten, einen Sinn darin zu sehen, dass wir auf einem Planeten durch ein riesiges gleichgültiges Universum kugeln. Beim Schreiben von Letzter Aufruf war ich von den Pfingstgemeinden in den Appalachen fasziniert, die im Gottesdienst Schlangen verwenden. Das kam mir schon immer dubios und seltsam vor. Ich wollte eine Michael-Mann- oder Peckinpah-artige Schießerei in einer möglichst irren Situation beschreiben.
Abgesehen davon, dass das Anfassen von Giftschlangen gefährlich ist, mag ich mich mit zunehmendem Alter immer weniger über den Spaß anderer ärgern. Wenn einen ein gewisser Glaube zum besseren Menschen macht und das Leben dadurch einen Sinn, ein Ziel und einen Zweck bekommt – und wenn man damit niemandem schadet –, dann von mir aus …
Im Buch scheinen viele Männer den Gefängnisregeln zu folgen, obwohl sie eigentlich frei sind. Dadurch hatte ich den Eindruck, dass diese Figuren echte Freiheit gar nicht kennen oder empfinden. Im Grunde erwarten sie alle, dass sie entweder sterben oder zurück ins Gefängnis müssen. Wie sehr prägt das Gefängnisleben diese Figuren?
Die entlassenen Häftlinge in Letzter Aufruf haben natürlich alle eine sehr kurze Lunte, wenn es um Gewalt geht, und sie benutzen Waffen und Zeug, die zivilisierte, gesetzestreue Menschen nicht haben oder sich beschaffen würden. Ich habe sie als Verlorene geschildert, die nur aus nacktem Überlebenswillen handeln, ohne Interesse an einem Leben als verantwortungsvolle Erwachsene. Es sind kriminelle Soziopathen, die alles nach dem Schema von Jäger und Beute einteilen, die nur ihren Instinkten folgen und auf materielle Vorteile aus sind und jeden Tag mit dem Gedanken aufwachen, wie sie ihrer Umwelt den eigenen Willen aufzwingen können.
Gerade ist in den USA ein neues Buch von dir erschienen. Magst du etwas dazu erzählen?
Mit einem Abstand von zehn Jahren ist in diesen Mai The Devil Himself rausgekommen. Angesichts dieser langen Zeit hatte ich mich schon damit abgefunden, dass ich ein Opfer der „Ein-Buch-und-Schluss“-Haltung im US-Buchgeschäft bin. Aber mit etwas Glück (und dank eines großartigen Verlegers) hat The Devil Himself in Frankreich sein Publikum gefunden, und dieser Erfolg hat einen Literaturagenten aufmerken lassen, der zuversichtlich war, das Buch auch in den USA platzieren zu können. Ich bin wirklich stolz auf diesen Roman und hoffe, dass er gut ankommt.
Jetzt wird in Los Angeles versucht, The Devil Himself für den Film zu adaptieren, auf der Grundlage eines Drehbuchs, das ich geschrieben habe. Aber da heißt es abwarten, das Filmbusiness ist ja völlig unberechenbar.
Und was steht für Peter Farris selbst an?
Mit dem Filmemacher hinter der angedachten Adaption von The Devil Himself entwickle ich gerade ein Fernsehprojekt, und mit etwas Glück erscheint auch ein anderes Buch von mir, das in Frankreich gut lief, nämlich The Clay Eaters, noch auf Englisch.
Außerdem kommt nächstes Jahr in Frankreich ein weiterer Roman von mir raus. The Bone Omen ist, glaube ich, mein bisher bestes, düsterstes, verzweifeltes Buch.
Übersetzung: Sven Koch