„MANCHMAL IST ES SCHWER, AUS DEM AUGE DES STURMS HERAUS ZU SCHREIBEN!“
Die amerikanische Schriftstellerin Attica Locke über ihr Selbstverständnis als Autorin, Labeling, politische Botschaften und weshalb ihre Übersetzungen ins Deutsche besonders viel bedeuten.
Interview: Peter Henning
Polar Verlag: Inzwischen sind drei Ihrer Bücher auf Deutsch erschienen – so nun auch ihr Debüt „Black Water Rising“. Was bedeuten Ihnen diese Übertragungen ins Deutsche – und welches Verhältnis haben Sie zur deutschen Literatur?
Attica Locke: Es bedeutet mir sehr viel, in anderen Sprachen veröffentlicht zu werden, da es mich rührt, von Lesern zu hören, die meine Bücher schätzen und aus Ländern und Kulturen kommen, die sich von meiner unterscheiden. Es ist eine Erinnerung an die tieferen Verbindungen, die das gemeinsame Menschsein durchziehen, Verbindungen, die über die Unterschiede in Ethnie, Sprache und Land hinausgehen. Das ist Teil des Versprechens der Literatur, dass wir womöglich alle einander besser verstehen lernen. Was Deutschland im Besonderen betrifft, so habe ich ein Faible für das Land, denn mein Mann ist Halbdeutscher, und wir haben Familie, die in Münster lebt.
Polar Verlag: Ihre Bücher sind tief verwurzelt in der Tradition sogenannten „Schwarzen Erzählens“. Wie würden Sie sich selbst klassifizieren? Und unterscheiden Sie überhaupt zwischen schwarzer und weißer Literatur?
Attica Locke: Ich betrachte meine Bücher als „black writing“, weil ich eine schwarze Person mit einer schwarzen amerikanischen Weltsicht bin – zudem betrachte ich die Bezeichnung „black author“ nicht als abwertend. Fast jede Literatur hat irgendeine Art von Label. Ich bin Autorin. Ich bin eine schwarze Autorin. Ich bin Krimiautorin. Ich bin eine Kurzgeschichten Autorin (ha!).
Polar Verlag: Ihr Schreiben ist stark politisch motiviert. Während der Trump-Ära hatte man hierzulande mit Blick auf die amerikanische Literatur-Szene das Gefühl, dass die dortigen sogenannten Intellektuellen schweigen und sich verstecken statt sich zu Wort zu melden. Täuscht dieser Eindruck?
Attica Locke: Manchmal ist es schwer aus dem Auge des Sturms heraus zu schreiben. Ich möchte jetzt keine Bücher lesen oder Fernsehsendungen über die Pandemie sehen, aber vielleicht werde ich in ein paar Jahren bereit dafür sein. Ich weiß nicht, ob man außerhalb des Landes verstehen kann wie sehr der tägliche Ansturm von Abscheu und Verstößen gegen den allgemeinen Anstand des Trump-Lagers emotional erschöpfend und verwirrend waren. Einige von uns versuchen immer noch zu verstehen, was passiert ist.
Ich glaube, Menschen am Rande der Gesellschaft – Schwarze, Einwanderer, people of color – haben schneller als andere erkannt, was passiert ist. Wir sahen sofort, dass „white sipremacy“ die Wurzel von allem ist, was Trump tut und wofür er steht. Einige weiße Amerikaner brauchten Jahre, um dies klar zu erkennen. Es brauchte George Floyd und die Black-Lives-Matter-Bewegung, um vielen weißen Amerikanern zu offenbaren, wie rassistisch Amerika noch immer ist. Aber wir „brown folks“ konnten es von dem Tag an sehen, an dem Trump seine Präsidentschaft verkündigte.
Polar Verlag: „Black Water Rising“ ist eine Art „Drei-in-Eins“, nämlich Krimi, Gesellschaftsroman und ein tiefenscharfes Porträt der Öl-Stadt Houston mit ihren dunklen gesellschaftlichen Unterströmungen.
Was war damals ihre Intension, als Sie beschlossen, dieses Buch zu schreiben?
Attica Locke: „Black Water Rising“ ist ein besseres Buch, als ich es zu schreiben geglaubt hatte. Ich wollte etwas schreiben, von dem ich dachte, es wäre ein „glatter, kleiner Thriller“. Erst als ich mit dem Schreiben begann, stellte ich fest, dass es tiefere Themen gab, die ich erforschen wollte, und dass dieses Buch ein Teil des „storytelling“ Genres sein könnte – dass ich mit einem Krimi sowohl eine fesselnde Geschichte erzählen konnte und gleichzeitig tiefere politische und philosophische Fragen stellen.
Polar Verlag: Ihr Schreiben ist zudem höchst filmisch. Welche Rolle spielt der Film als Medium und Impulsgeber für Ihr Schreiben?
Attica Locke: Nun, ich war eine professionelle Drehbuchautorin, bevor ich Romanautorin wurde, also sicherlich hatte dies Einfluss.
Polar Verlag: Können Sie etwas zu den Einflüssen Dritter auf Ihre Arbeit sagen? Wie haben Sie damals angefangen? So wie die meisten heute bekannten US-Autoren, nämlich mit Short Stories? Oder starteten Sie gleich mit der Großen Form?
Attica Locke: Inspiriert wurde ich vor allem von Pete Dexter, Larry Brown, Toni Morrison, Dennis Lehane, Walter Mosely, J. California Cooper, Jane Smiley, und der Blues Tradition in der Musik.
Schon als Kind schrieb ich Geschichten, aber nie professionell. Ich denke, die Kunstformen – Kurzgeschichten und Romane – sind sehr unterschiedlich und erfordern verschiedene Fähigkeiten. Ich habe immer geschrieben, aber ich habe nie daran gedacht eine Romanautorin zu werden. Ich kam zum Buch, nachdem ich jahrelang als Drehbuchautorin gearbeitet hatte und das Gefühl bekam, in einer Kunstform zu sein, die zu viele Schichten von um Erlaubnis oder Geld bitten benötigte, um diese Kunst ausüben zu können: Agenten, Produzenten, Studiobetreiber. Ich wollte einfach Geschichten schreiben für Menschen, die es lieben zu lesen. Bücher sind die Kunstform, in der ich meine wahre Stimme gefunden habe, da sie mich von den Zwängen Hollywoods befreite, die ich damals fühlte. Ich schrieb „Black Water Rising“ im Jahr 2005, Jahre nachdem ich professionell in Hollywood gearbeitet hatte – und dafür bezahlt wurde, Drehbücher zu schreiben, die nie verfilmt wurden.
Polar Verlag: Würden Sie sagen, Ihre Bücher transportieren eine bestimmte – zum Beispiel politische Botschaft? Und wenn ja, welche?
Attica Locke: Ich denke, dass meine Bücher eher Fragen aufwerfen, als dass sie eine klare Botschaft vermitteln. Ich glaube, in ihnen stellt sich vor allem die Frage, was es bedeutet, als schwarzer Mensch in Amerika wirklich frei zu sein. Ist eine schwache rechtliche Freiheit genug? Oder sind wir nicht frei, bis wir psychologisch frei sind? Und was ist nötig, damit sich Schwarze psychologisch frei fühlen können, nach Generationen von Rassentrauma?
Polar Verlag: Wie sehen Sie „Black Water Rising“ heute – aus der Distanz der seither vergangenen Zeit?
Attica Locke: Ich werde dieses Buch immer lieben, weil es so pur aus meinem Herzen kam. Als ich es schrieb, wusste ich nicht einmal, ob es veröffentlicht werden würde. Ich wusste nur, dass ich es schreiben musste. Ich kann die junge Autorin auf den Seiten sehen. Aber ich sehe auch die Themen, die auf unterschiedliche Weise in meinen späteren Büchern wiederkehrten.
Polar Verlag: Betrachtet man den Protagonisten in „Black Water Rising“ genauer, so hat man Eindruck, dass Jay sich Don Quichotte oder Sisyphos, so wie Albert Camus es einst mit Blick auf letzten formulierte, durchaus „als glückliche Geschöpfe“ denken kann, die Sinn sehen in dem, was sie tun. Wie sehen Sie ihn heute?
Attica Locke: Ich glaube, dass Jay jemand ist, der nicht anders kann, als sich in rechtschaffende Kämpfe verwickeln zu lassen, selbst wenn er dies gar nicht will. Das ist für mich sein fundamentaler Widerspruch als Figur: Er denkt, er will in Ruhe gelassen werden, dass seine Zeit als Aktivist vorbei ist, aber er kann nicht anders. Im ersten Kapitel springt er ins Wasser, um die Frau zu retten … und am Ende stürzt er sich in einen größeren, in mancher Hinsicht gefährlicheren Kampf, als er versteht, in was diese Frau verwickelt ist. Im Kern ist er jemand, der für die Rechte der Menschen kämpft.
Polar Verlag: Es ist gut, zu wissen, dass da draußen Leute wie Jay unterwegs sind, um für uns die Dinge zu klären – und manchmal auch die Kohlen für uns aus dem Feuer zu holen. Würden Sie sich an ihn wenden, wenn Sie juristische Hilfe bräuchten?
Attica Locke: Ich liebe Jay dafür, dass er so grundlegend gut ist. Fragen Sie mich, ob ich, wenn ich in Schwierigkeiten stecken würde, Jay Porter anrufen würde? Oh ja, ich würde!