»Ich will die Leser in die Lage eines Einbrechers versetzen«
Doug Johnstone im Interview mit Hanspeter Eggenberger
Der schottische Autor Doug Johnstone, 50, über seinen Roman »Der Bruch«, die Inspirationen und Einflüsse, seinen Werdegang vom promovierten Kernphysiker und Radar-Ingenieur zum Schriftsteller, seine Aktivitäten als Musiker und Fußballer und über die Unzufriedenheit der Schotten mit der Regierung in London.
Das Aufwachsen in prekären sozialen und familiären Verhältnissen ist eines der Themen Ihres Romans »Der Bruch« (Original: »Breakers«). Wie sind Sie selbst aufgewachsen?
Meine Erziehung war zum Glück ganz anders als die von Tyler in »Breakers«. Ich wuchs in einer kleinen Stadt namens Arbroath auf, die sowohl reiche als auch arme Viertel hatte, und ich war irgendwo dazwischen mit zwei Lehrern als Eltern. Die Dinge waren sehr stabil und langweilig, was mit Sicherheit viel besser ist als Tylers Situation. Als ich die Schule verließ, ging ich an die Universität in Edinburgh, und seitdem lebe ich dort.
Ihr Werdegang ist für einen Schriftsteller außergewöhnlich. Sie haben Physik studiert, haben einen Doktor in Kernphysik und haben als Ingenieur in der Luft- und Raumfahrtindustrie gearbeitet. Wie kamen Sie zum Schreiben? Oder wie haben Sie Naturwissenschaften und Kunst unter einen Hut gebracht?
Ich habe in der Schule immer Geschichten geschrieben, aber ich interessierte mich auch sehr für Wissenschaft, vor allem für Physik. Während meines Studiums an der Universität schrieb ich weiter Fiction, und ich fing auch an, als Musikjournalist zu schreiben, weil ich in vielen Bands war und zu Gigs ging. Ich arbeitete als Ingenieur für Radarsysteme, aber das machte mir keinen Spaß, also versuchte ich, Vollzeit-Journalist zu werden. Erst da begann ich, meine eigene Fiction ernst zu nehmen, und versuchte, Romane zu schreiben. Das war in meinen frühen Dreißigern.
Welche Literatur, welche Autoren schätzten Sie in jungen Jahren?
Als ich noch sehr jung war, dachte ich, Literatur würde von alten, toten Weißen geschrieben, die vor Jahrhunderten an vornehme englische Universitäten gegangen waren. Aber als ich ein Teenager wurde, begann ich, zeitgenössische Kurzgeschichten von Autoren wie Raymond Carver zu lieben. Ich las sehr viel, aber besonders mochte ich zeitgenössische schottische Schriftsteller: alle, die Geschichten erzählten, die in einer Welt angesiedelt waren, die ich kannte.
Gibt es Autoren, die Sie beeinflusst haben?
Es sind natürlich so viele; wie jeder Schriftsteller, war ich zuerst ein Leser. Aber diejenigen, die mich am meisten geprägt haben, waren wahrscheinlich die jungen schottischen Schriftsteller in den 1980er und frühen 1990er Jahren. Iain Banks war von Anfang an ein Held von mir, als ich »The Wasp Factory« (Deutsch: »Die Wespenfabrik«) las. Ich liebte sowohl seine Mainstream- als auch seine Science-Fiction-Romane. Auch Irvine Welsh war ein großer Einfluss, als ich »Trainspotting« las, war das ein massiver Schock für mein System.
Welche Autoren von Kriminalliteratur mögen Sie besonders?
Auch hier: es sind so viele! Schottland hat eine großartige Krimi-Szene mit so großen Namen wie Val McDermid und Ian Rankin natürlich. Einige weitere meiner Favoriten in Schottland sind Chris Brookmyre und Helen FitzGerald. Ich wurde auch sehr von amerikanischen Krimiautoren wie Megan Abbott, Sara Gran, James Sallis und Laura Lippman beeinflusst. Und natürlich auch von Klassikern wie James M. Cain und Dashiell Hammett.
»Der Bruch« ist bereits Ihr zehnter Roman, aber im deutschen Sprachraum sind Sie bisher kaum bekannt. Können Sie uns Ihre Entwicklung als Schriftsteller kurz schildern?
Tatsächlich wurden drei meiner früheren Bücher vor Jahren ins Deutsche übersetzt – »Smokeheads«, »Hit & Run« und »Gone Again« (Deutsch: »Wer einmal verschwindet«). Mein erster Roman, »Tombstoning«, wurde 2006 in Großbritannien veröffentlicht, und seither ist es fast ein Buch pro Jahr geworden. Es sind alles Standalone-Thriller, die im modernen Schottland spielen und in denen es um gewöhnliche Menschen geht, die mit außergewöhnlichen Umständen konfrontiert sind. Sie behandeln viele sehr dunkle Themen, aber, wie ich hoffe, mit etwas schwarzem Humor.
»Der Bruch« ist kein konventioneller Kriminalroman, sondern eine düstere Geschichte um unterprivilegierte Menschen, vor allem Jugendliche. Sind Ihre anderen Werke ähnlich?
Ja, »Der Bruch« ist wahrscheinlich ziemlich typisch für meine Romane, obwohl es hier nicht viel Gelegenheit für düsteren Humor gibt, weil die Thematik so ernst ist. Meine Romane sind alle recht kurz, grimmig, knallhart und behandeln sehr ernste Themen wie Suizid, Gewalt, Trauer und psychische Probleme. Und hoffentlich sind sie auch alle temporeich, ich möchte die Leser nicht langweilen.
Wir kennen Edinburgh vor allem von der touristischen Seite her und sehen es als eine bürgerliche, wohlhabende Stadt. In unserer Wahrnehmung ist in Schottland eher Glasgow die Stadt der sozialen Brennpunkte und Auseinandersetzungen. Sehen wir das falsch?
Nein, Glasgow ist wahrscheinlich immer noch die sozial am stärksten benachteiligte Stadt in Schottland, aber Edinburgh ist die zweitgrößte Stadt und hat auch eine Menge sehr unterprivilegierter Gebiete. Ich glaube, die Leute sind von der Burg und den Touristenorten geblendet, so dass sie nicht so viel über die Wohnbauprogramme und die heruntergekommenen Gebiete nachdenken. Da ich schon lange in Edinburgh lebe, kenne ich sie ziemlich gut, und ich wohne nicht weit von da, wo ein Großteil von »Der Bruch« spielt.
Wie kamen Sie auf die Geschichte von Jugendlichen, die als Einbrecher durch die besseren Viertel ziehen? Was hat Sie inspiriert?
Bei mir ist eingebrochen worden. Das war vor acht Jahren, sie raubten uns aus, als wir zum Geburtstag unseres Sohnes unterwegs waren. Ein Detail blieb bei mir hängen: Jemand war durch ein kleines Fenster eingestiegen und hatte die anderen hereingelassen; das Fenster war so klein, dass es ein Kind sein musste. Ich habe mich immer gefragt, wie es ist, in dieser Situation ein Kind zu sein, in einer Bande oder in einer Familie von Einbrechern. Es hat lange gedauert, bis ich darüber schreiben konnte, aber am Ende habe ich es dann doch geschafft. Ich wollte die Leser in die Lage eines Einbrechers versetzen, ihnen dieses Leben wirklich verständlich machen.
Der Roman handelt von Ursachen für Kriminalität. Von prekären Familienverhältnissen, von benachteiligten Quartieren. Es ist eine dunkle Geschichte, sehr Noir. Betrachten Sie die Situation als hoffnungslos?
Nein, ich glaube nicht, dass es hoffnungslos ist, und ich denke gerne, dass es am Ende von »Der Bruch« noch Hoffnung für Tyler gibt. Und die Dinge können auch in der realen Welt verbessert werden, aber das erfordert politischen Willen und Geld, was schwierig sein kann. Aber wenn wir versuchen wollen, die sozialen Probleme in unserem Land zu lösen, müssen wir diese Probleme auch ehrlich benennen, und »Der Bruch« trägt hoffentlich dazu bei.
Ihre Hauptfigur Tyler, der in armen Verhältnissen lebt, freundet sich mit einem Mädchen aus wohlhabenden Verhältnissen an. Das setzt einen Kontrapunkt, aber sie ist ebenfalls nicht glücklich mit ihren Lebensumständen, auch sie kommt aus kaputten Familienverhältnissen, wenn auch auf eine andere Art. Wie wichtig ist Ihnen der Familienaspekt im Roman?
Ich wollte auch zeigen, dass nur weil jemand Geld hat, ihn das nicht unbedingt glücklich macht. Es ist sehr einfach, wenn man arm ist, sich die Reichen anzusehen und sie zu hassen, natürlich scheinen sie alles zu haben, was man nicht hat. Aber ich glaube, es ist interessanter, einen armen Jungen und ein reiches Mädchen einander wirklich kennenlernen zu lassen. Am Ende des Buches haben sie hoffentlich ein besseres Verständnis für die Probleme des anderen. Und die Familie ist für beide sehr wichtig und sicher auch die Ursache für ihre Ängste.
Sie haben selber Kinder?
Ja, ich habe einen Sohn, der fünfzehn Jahre alt ist, und eine Tochter, die zwölf ist. Bisher haben sie sich, soweit ich weiß, keiner Einbrecherbande angeschlossen.
Auch die Musik, die Ihre Protagonisten hören, spielt eine Rolle. Überlegen Sie sich ein Art Soundtrack für Ihre Hauptfiguren? Oder ergibt sich das eher beiläufig beim Schreiben?
Musik ist sehr wichtig für mich, sowohl in meinem Leben als auch in meinem Schreiben. Ich war schon Musiker, lange bevor ich Schriftsteller wurde. Ich überlege mir bei Figuren sehr oft die Art von Musik, die sie mögen, das hilft mir, ein bisschen in ihre Köpfe hineinzukommen. Für Tyler wollte ich nicht, dass er Chartmusik oder Hip-Hop hört, was unter Teenagern sehr verbreitet ist. Er macht in seinem Leben so viel Stress durch, dass ich wollte, dass er fast Ambient Electronica hört und versucht, sich zu entspannen und eine friedliche Kopffreiheit zu bekommen.
Sie haben es eben erwähnt, Sie sind selbst auch Musiker, haben ihn Bands gespielt und Platten veröffentlicht. Jetzt spielen Sie mit anderen bekannten Krimiautoren zusammen in einer Band namens Fun Lovin’ Crime Writers. Wie kam es dazu?
Ein paar von uns standen an einem Krimi-Kongress in New Orleans auf der Bühne, und das kam zu unserer großen Verblüffung sehr gut an. Als wir nach Großbritannien zurückkehrten, beschlossen wir, eine richtige Band zusammenzustellen. Es sind ich, Val McDermid, Mark Billingham, Chris Brookmyre, Stuart Neville und Luca Veste. Wir spielen Coverversionen von Songs über Verbrechen, Mord und Tod, und wir haben schon auf vielen Buch- und Musikfestivals gespielt, wo wir sehr gut ankommen. Wir haben sogar schon am Glastonbury Festival gespielt!
Sie sind auch als Fußballer aktiv.
Ich bin Spieler und Manager beim Scotland Writers Football Club. Wir spielen gelegentlich internationale Spiele gegen Teams anderer Nationen und auch Freundschaftsspiele gegen schottische Wohltätigkeitsteams. Das geht schon seit Jahren so, und es ist eine wirklich gute Möglichkeit für uns, Kontakte zu knüpfen, da das Schreiben ein so einsamer Job ist. Danach gehen wir immer in die Kneipe, und darum geht es eigentlich. Wir sind nicht gerade Weltklasse im Fußball, aber feiern können wir.
Wie erleben Sie die aktuelle Zeit in Großbritannien mit Covid-19 und dem Brexit?
Es ist, ehrlich gesagt, fucking furchtbar! Ich meine, die Pandemie ist natürlich überall schlimm, aber sie wurde von der äußerst unfähigen konservativen Regierung in London so schlecht gehandelt. Und Brexit ist die größte politische Schweinerei im Vereinigten Königreich seit einer Generation, das ist schändliche Fremdenfeindlichkeit und britischer Exzeptionalismus der übelsten Art. Eine totale Dummheit, für die Schottland nicht gestimmt hat.
Werden solche Ereignisse in Ihre nächsten Romanen einfließen?
Nein, das glaube ich nicht. In meinen Büchern gibt es ein bisschen Politik, aber sie steht eher im Hintergrund dessen, was ich schreibe und über wen ich schreibe und ist nicht Hauptthema. Ich habe die Schnauze voll von Covid und Brexit, also will ich sicher keine Zeit damit verbringen, darüber zu schreiben – ich würde mich zu sehr aufregen.
Die Schotten scheinen nicht immer sehr glücklich zu sein mit den Entscheidungen in London. Befeuert die aktuelle Situation schottische Unabhängigkeitsbestrebungen?
Ja, ich glaube schon. Ich bin seit langer, langer Zeit ein Befürworter der Unabhängigkeit Schottlands, und wie die Dinge im Moment in London laufen, zeigt klar, dass die britische Regierung sich nicht um die Schotten kümmert. Umfragen deuten darauf hin, dass sich zum ersten Mal eine Mehrheit für die Unabhängigkeit ausspricht, so dass es hoffentlich bald geschehen wird.
Sie haben als Ingenieur für Radar- und Raketenleitsysteme gearbeitet. Wird das auch einmal Stoff für einen Roman?
Vielleicht – sag niemals nie. Ich habe meine Erfahrung in der Physik lange Zeit nicht genutzt, aber sie ist in meinen letzten Büchern aufgetaucht. Aber im Moment habe ich nicht vor, über Radar oder Raketensteuerung zu schreiben.
Sie haben nach »Der Bruch« (2019) bereits einen weiteren Roman veröffentlicht. Im Mittelpunkt von »A Dark Matter« steht eine Familie von Bestattern und privaten Ermittlern. Wird das eine Serie?
Ja, es ist zumindest der Beginn einer Trilogie. Der zweite Roman ist »The Big Chill«, der in Großbritannien auch bereits erschienen ist. Es gibt drei Hauptfiguren, Frauen unterschiedlichen Alters aus ein und derselben Familie, und ich habe es wirklich geliebt, sie zu beschreiben und Zeit mit ihnen zu verbringen. Sie beschäftigen sich mit der Trauer, der Trauer anderer und der eigenen, und sie lösen dabei Kriminalfälle. Es ist düster-humorvoll, so dass es den Lesern hoffentlich gefällt. »A Dark Matter« wurde kürzlich als Scottish Crime Novel of the Year nominiert, also muss ich wohl etwas richtig machen.
Wird Tyler aus »Der Bruch» in einem weiteren Roman auftreten? Es könnte interessant sein, seinen Weg ins Erwachsenenleben zu verfolgen.
Auch hier: sag niemals nie. Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Ich habe keine Fortsetzungen zu meinen Standalones geschrieben, aber ich habe Tylers Geschichte geliebt, und es wäre interessant zu sehen, was mit ihm und Flick nach den letzten Seiten passiert ist. Vielleicht werde ich das eines Tages tun.