Interview Sonja Hartl mit Felicity McLean zu „Cordie“

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Sie haben lange als Ghostwriterin gearbeitet, nun ist mit „Cordie“ ihr erster Roman erschienen. Wie ist es dazu gekommen?

Im Jahr 2016 wurde ich eingeladen, an einer Podiumsdiskussion des Sydney Writers Festival teilzunehmen, die von dem berühmten australischen Schauspieler Bryan Brown moderiert wurde. Das Thema der Veranstaltung war Kreativität und Ort: Wie hat die Landschaft meiner Kindheit mein Schreiben beeinflusst? Was hat der Ort mit meinem kreativen Prozess zu tun? Interessante Themen, aber schwierig zu beantworten, wenn man – wie ich – beruflich die Geschichten anderer Leute schreibt.

Damals hatte ich schon ein halbes Dutzend Titel für verschiedene Leute als Ghostwriter geschrieben, aber ich hatte noch nie etwas veröffentlicht, in dem sich meine Erfahrungen mit einem „Ort“ auf die Seite eingeschlichen haben. Ghostwriter sind per definitionem unsichtbar.

Und so fand ich mich auf der Bühne des Bryan Brown Theatre wieder, wo ich vor mehreren hundert Leuten aus meinem „Roman“ vorlas – einem Roman, der fast ausschließlich in meinem Kopf existierte und etwa 5.000 Wörter umfasste. Er war, wie ich erklärte, sehr lose von der Umgebung meiner Kindheit inspiriert – einem Buschvorort am Rande von Sydney.

Im Anschluss an die Podiumsdiskussion stand als erstes eine große Person in der ersten Reihe auf, um mir Fragen zu stellen. Wie laute der Titel meines Romans, wollte er wissen. Könne ich ihm mehr darüber erzählen? Was geschehe als nächstes? Das war Bryan Brown.

Ich stellte mir die etwa zweihundert leeren Seiten vor, die auf den Prolog folgten. „Gute Frage, Bryan“, gab ich zu. Und so begann ich am nächsten Tag mit der Arbeit an „Cordie“, um die Geschichte der Schwestern Hannah, Cordelia und Ruth und ihres mysteriösen Verschwindens im Sommer 1992 weiter auszubauen. Schließlich wollte Bryan Brown wissen, wie es weitergeht!

Der Ort und die Landschaft sind ja auch sehr wichtig in dem nun fertigen Roman. Wie würden Sie das Tal, in dem Tikka aufwächst, beschreiben?

Tikka wächst auf dem Bergrücken über einem unheimlichen Flusstal mit einem unerklärlichen Gestank auf. Wichtig ist, dass das Tal in meinem Roman eine Umkehrung von Joan Lindsays hoch aufragendem Hanging Rock aus dem kultigen australischen Roman „Picnic At Hanging Rock“ (dt. Titel: „Picknick am Valentinstag“) ist. Dort, in dem Tal, findet meine Geschichte ihr verschwommenes Dazwischen, ihr Gefühl, an der Schwelle zu existieren. Wo die Kindheit zum Erwachsensein wird. Wo Mangroven auf den Fluss treffen. Wo es möglich ist, dass Kinder für immer verschwinden, ihre Fußspuren von der Flut weggespült werden.

Hat diese Landschaft Ähnlichkeit mit der Ihrer Kindheit?

Ja, das fiktive Tal in meinem Roman ist dem Tal, in dem ich aufgewachsen bin, geografisch sehr ähnlich. Beides sind Randbezirke am Stadtrand von Sydney in Australien, umgeben von ausuferndem Buschland – aber meine Heimatstadt hat keinen unheimlichen, unerklärlichen Gestank.

Während ich an „Cordie“ arbeitete, besuchte ich oft das Haus meiner Eltern, um hoch oben auf dem westlichen Bergrücken, der das Tal überblickt, zu schreiben. Und doch stellte ich fest, dass ich nicht dort sein musste, um diese Landschaft heraufzubeschwören. Diese Landschaft, die Ansichten, die Geräusche waren für mich in der Topographie meiner Vorstellung praktisch lebendiger als in der Realität.

Viele australische Krimis spielen entweder in der Stadt oder in einer ländlichen Gegend. Tikka wohnt jedoch in einem Randbezirk. Wie ist ihr Leben dort?

Das Leben in Tikkas Heimatstadt ist wunderbar gewöhnlich, aber gleichzeitig unheimlich. Ich habe eine große Ehrfurcht vor Vorstädten und vor gewöhnlichen Kindheiten. Für die Freundschaften, Rivalitäten und Geheimnisse, die in kleinen Gemeinschaften existieren. Diese Dinge fühlen sich echt an, und es gibt so viel Schönheit, die in diesen alltäglichen Umgebungen zu finden ist.

Gleichzeitig können sich kleine Vorstädte aber auch sehr bedrückend anfühlen, und ich wollte erforschen, wie schwierig es ist, in einer solchen Umgebung ein Außenseiter zu sein. Aus diesem Grund habe ich mehrere Charaktere geschaffen, die „Außenseiter“ sind, entweder weil sie sich durch ihren religiösen Glauben abheben oder weil sie vielleicht neu in der Stadt sind. Denn ich wollte auch einen universellen Vorort schaffen. Er ist australisch, aber hoffentlich können sich die Leser überall mit dem Setting einer Kleinstadt identifizieren.

Warum spielt der Roman in den frühen 1990er Jahren?

Zum Teil wegen der Nostalgie, die ich für meine eigenen Kindheitssommer in den späten 1980ern und frühen 1990ern empfinde. Zum anderen, weil die Vorstadt der 1990er Jahre eine unwiderstehliche Kulisse für eine so seltsame Geschichte bot. Die Figuren in „Cordie“ spielen mit Game Boys und rennen unter Rasensprengern. Sie rezitieren Zeilen aus dem Film „Beetlejuice“. Am wichtigsten ist jedoch, dass 1992 für die meisten australischen Familien eine Welt ohne Internetanschluss zu Hause war. Und vielleicht ist es diese Vor-Google-Sensibilität, die es so vielen Menschen in Tikkas Gemeinde ermöglicht, einfach zu akzeptieren, dass sie nie erfahren werden, was mit den Van-Apfel-Mädchen passiert ist, während Tikka es nicht loslassen kann.

Der Fall Chamberlain ist immer im Hintergrund von Tikkas Kindheit. Wissen Sie noch, wie Sie das erste Mal etwas von diesem Fall erfahren haben?

Ich erinnere mich, dass meine Eltern und Großeltern Mitte der 1990er Jahre die dritte Untersuchung in den Fernsehnachrichten verfolgten. Er wird mittlerweile als tragischer Justizirrtum angesehen – und das zu Recht.

Mir hat sehr gut gefallen, wie der Roman erzählt wird, vor allem Tikka als Erzählerin – als ich den Roman gelesen habe, habe ich gemerkt, dass sie das perfekte Alter für diese Art Geschichte hat. Wie würden Sie dieses Alter beschreiben?

Elf ist dieses trübe Gebiet – dieses verschwommene Land dazwischen – gefangen zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein. Ich wollte die Geschichte durch die Augen eines 11-jährigen Mädchens erzählen, weil elf das Alter ist, in dem man zwischen Wissen und Nichtwissen balanciert.

Sie haben es geschafft, dieses Alter perfekt einzufangen, finde ich. Allein wie sehr Tikka zu den älteren Mädchen gehören will und es schafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie auch dazugehört.

Tikkas Stimme war das erste, was in diesem Roman Gestalt annahm. Sie existierte fast vor allem anderen. Sie ist eine unzuverlässige Erzählerin in dem Sinne, dass sie sich oft auf Informationen aus zweiter Hand oder Nachbarschaftsklatsch verlassen muss. Aufgrund ihres Alters gibt es Dinge, die ihr zum Zeitpunkt des Verschwindens vorenthalten werden, weil man sie für zu jung hält, um sie zu wissen. Und doch weiß sie aufgrund ihrer Beziehung zu den verschwundenen Mädchen viel mehr darüber, was vor sich geht, als viele der Erwachsenen um sie herum. Außerdem steht Tikka den vermissten Mädchen zu nahe, um deren Verschwinden jemals objektiv betrachten zu können. Sie sind ihre Freundinnen, sie ist mit ihnen aufgewachsen, und das trübt natürlich ihre Wahrnehmung der Geschehnisse. Letztlich repräsentiert Tikka die Idee des Sehens versus Nicht-Sehen. Wer sagt denn, dass das, was wir nicht sehen, weniger mächtig oder wichtig ist als die Dinge, die wir tatsächlich sehen?

Dabei hat Tikka zu jedem anderen Mädchen eine andere Beziehung.

Ja, ich wollte auch die Bedeutung weiblicher Freundschaften – und die Vielfältigkeit dieser Freundschaften – in dem Roman erkunden. Die Beziehungen von Tikka und Laura zu den drei Van-Apfel-Schwestern zum Beispiel reichen von Intimität bis zu Verachtung, von Bewunderung bis zu Feindseligkeit. Ihre Loyalitäten richten sich nach der Familie oder dem Alter oder der Stimmung oder Laune, je nach Situation. Sie verbünden sich gegeneinander und stehen füreinander ein. Und weil sie sich gebrauchte Kleidung teilen, laufen sie buchstäblich in den Kleidern der anderen herum.

Diese Beziehungen waren für mich faszinierend. Vielleicht, weil ich mit Brüdern und vielen männlichen Cousins aufgewachsen bin. Vielleicht kompensiere ich das, also habe ich mir ein paar Schwestern geschrieben!

Es gibt eine ganze Reihe von Beispielen für verschwundene Mädchen in der Literatur, in Filmen, in Serien … Was ist so reizvoll an dem Verschwinden?

Eigentlich entstand mein Roman aus der Idee heraus, einen australischen Gothic-Roman zu schreiben und nicht speziell eine Geschichte über das Verschwinden von Personen.

Das Konzept der Gothic-Literatur – man denke an Wasserspeier und Dachböden – scheint so sehr im Widerspruch zu unserem strahlenden Sonnenschein und unserem strahlend blauen Himmel hier in Australien zu stehen. Und doch, vielleicht verstärkt all dieses Sonnenlicht die Schatten? Ist der Alptraum nicht schlimmer, wenn er sich tagsüber abspielt?

Gothic Writing ist eine so interessante Art der Subversion, bei der das Fremde und Unheimliche in sehr vertraute Umgebungen eingeführt wird und die Möglichkeit eröffnet, diese Welt zu hinterfragen.

Sie haben es eingangs schon erwähnt, dass „Picnic at Hanging Rock“ sehr wichtig für Ihren Roman ist. Es war auch eine der ersten Referenzen, die mir in den Kopf gekommen sind. Ist sie in Australien weiterhin populär?

Ja! Tatsächlich glauben viele Australier, es ist eine wahre Geschichte! Und „Picnic at Hanging Rock“ war ein großer Einfluss für mich. Ich bewundere Joan Lindsay und ihre Fähigkeit, unsere Fantasie zu beschäftigen. Daher habe ich mich gefragt: Was hat es mit diesem Roman auf sich, dass wir mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen immer noch darüber denken und darüber sprechen, obwohl er ein offenes Ende hat? Das wollte ich mit „Cordie“ erforschen – und etwas von der mysteriösen Qualität von „Picnic at Hanging Rock“ einfangen.

Ich vermute, dass gerade das offene Ende die Faszination am Leben hält. Hatten Sie darüber nachgedacht, das Verschwinden der Van-Apfel-Mädchen aufzulösen?

Ja, das vermute ich auch. Aber das Ende von „Cordie“ sollte immer offen sein. Für mich war es wichtig, dass das Verschwinden der Van Apfel Girls nie endgültig aufgeklärt wird. Andererseits ist Tikkas Geschichte der eigentliche Erzählbogen, und dieser Handlungsstrang ist sehr wohl aufgelöst. Der Leser kann sich sicher sein, dass er am Ende erfährt, was mit Tikka passiert!

Eine zweite Referenz, die mir in den Sinn kam, ist nicht nur ein Buch, sondern ein Film – diese verträumte, flüchtige, luftige Atmosphäre Ihres Romans erinnerte mich an Sophia Coppolas Verfilmung von The Virgin Suicides. Ich konnte mir die junge Kirsten Dunst in der Verfilmung Ihres Romans durchaus vorstellen. Hatte dieser Film einen Einfluss auf Sie oder Ihr Schreiben? (Oder auch das Buch?)

Oh, ich liebe diesen Film! Und ja, “Cordie” wurde von Jeffrey Eugenides‘ „The Virgin Suicides“ beeinflusst. Ich war sehr inspiriert von Eugenides verträumter, tödlicher Vorstadt. Insbesondere sein Hitchcock-artiger Ansatz, bei dem die drohende Gefahr immer präsent ist, aber sie scheint nur am Rande zu schweben.

Die ganze Geschichte hat etwas Düsteres – allein Herr Van Apfel. Aber es gibt auch Momente, in denen ich beim Lesen lachen musste.

Es freut mich sehr zu hören, dass Sie beim Lesen gelacht haben! Ich würde gerne glauben, dass die Leser während des ganzen Romans unpassend lachen könnten. Der Humor hat sich gezwungenermaßen eingeschlichen. So wie ich versucht habe, eine gruselige, spannungsgeladene Geschichte zu schreiben, war da noch Mrs. McCausley, die neugierige Nachbarin, die versucht, Tupperware zu verkaufen. Obwohl „Cordie“ also einige düstere Gebiete und Themen durchquert, ist auch schwarzer Humor dabei.

Wenn Sie sich etwas aussuchen könnten: Welche Reaktionen würden Sie sich von den Lesern auf Ihr Buch wünschen?

Letztendlich wollte ich mit „Cordie “ eine Geschichte schaffen, die traumartig und unheimlich ist. Beklemmend für das, was sie nicht offenbart.

Vielen Dank für das Gespräch!

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