„Der Teufel hat eindeutig die Kontrolle übernommen.“

Jake Hinkson im Gespräch mit Günther Grosser
© duqimages / Adobe Stock

Religion und Kirche spielen in mehreren Ihrer Romane und insbesondere in „Verdorrtes Land“ eine zentrale Rolle. Gibt es dazu einen biographischen Hintergrund? Sind Sie in einer ähnlichen Familie wie die Weatherfords in den Ozark Mountains in Arkansas aufgewachsen?

Ich bin zwar nicht der Sohn eines Pastors, wuchs jedoch in einem sehr stark religiös geprägten Elternhaus in den Ozarks von Arkansas auf (in genau dem Van Buren County, in dem das Buch spielt). Mein Onkel war Pastor und betrieb ein christliches Camp in den Bergen; eine Zeit lang lebte und arbeitete meine Familie dort. Mein Vater ist Diakon (ein religiöses Amt für angesehene kirchliche Laien) in der Southern Baptist Church, wie schon sein Vater und sein Großvater. Mein älterer Bruder ist Pastor. Meine Mutter führte die Bücher der Kirche. Man kann zu Recht sagen, dass das Christentum für meine Familie das Zentrum der menschlichen Existenz war.

Von großer Bedeutung im Roman ist die Institution des „Dry County“ – das Verbot des Alkoholverkaufs in bestimmten Landkreisen der USA. Wie wird das entschieden, und spielen die jeweiligen Kirchen bei der Entscheidung eine zentrale Rolle?

Es gibt nicht mehr so viele „Dry Countys“ wie früher, aber immer noch eine ganze Reihe, vor allem im Süden. Interessanterweise gibt es in Arkansas mehr „Dry Countys“ als in jedem anderen Bundesstaat der USA. Dies hat viel mit dem Einfluss der Southern Baptist Church in Arkansas zu tun, die lehrt, dass Alkoholkonsum eine Sünde ist. Die Kirchen spielen tatsächlich eine zentrale Rolle bei der Einflussnahme auf die Gesetzgebung für „Dry Countys“. Die Dinge ändern sich jedoch langsam (sehr langsam). Ich habe mein Buch genau zum richtigen Zeitpunkt geschrieben, denn im vergangenen Jahr, im November 2020, wurde Van Buren County zum ersten Mal „nass“. Davor gab es eine jahrzehntelange Auseinandersetzung, eigentlich mein ganzes Leben lang, und jetzt ist es endlich soweit. Man hat auch medizinisches Marihuana legalisiert – der Teufel hat eindeutig die Kontrolle übernommen.

Die USA befinden sich in einem schwierigen, gefährlichen Prozess der Spaltung zwischen, einfach ausgedrückt: Liberalen und Konservativen. Das spiegeln Sie im Roman – der kurz vor der Trump-Wahl 2016 spielt – mit ein paar Gesprächsfetzen am Frühstückstisch der Weatherfords wider. Warum nicht mehr davon?

Oh, weniger ist meiner Ansicht nach mehr, wenn es um Politik in einem Roman geht. Politik ist wichtig, aber der Durchschnittsbürger ist mehr mit seinen eigenen Ambitionen, Wünschen, Hoffnungen und Ängsten beschäftigt als mit dem, was ein Politiker im Fernsehen von sich gibt. Ich hatte keine Lust, einen Roman über Trump oder Trumpismus zu schreiben, habe ihn allerdings im Schatten seiner Wahl geschrieben. Jemand sagte zu mir, der Roman handle vom Triumph des Bösen. Dem kann ich nicht widersprechen.

Derzeitige Entwicklungen nagen an traditionellen Institutionen, auch in Ihrem Roman: Familie, Kirche, soziale und demokratische Strukturen sind in Gefahr. Bricht die klassische Gesellschaft auseinander, und wehren sich vor allem die ländlichen Gebiete mit erbittertem Elan?

Es ist eine Menge los. Ich denke, es war schon immer viel los, allerdings haben die beiden Faktoren Technologie und demografischer Wandel das Tempo der Veränderungen beschleunigt. In Amerika gab es eine alte Spannung zwischen dem Norden und dem Süden; im Laufe meines Lebens (ich bin jetzt 46) hat sich die Spannung eher zwischen Stadt und Land entwickelt, zwischen einer Lebensweise, die wie die Zukunft aussieht, und einer, die ihr Bestes tut, um an der Vergangenheit festzuhalten. Der so genannte „Kulturkampf“ war früher ein Nebenschauplatz in der amerikanischen Politik, ein Faktor unter vielen, heute ist er jedoch zum zentralen Schlachtfeld geworden. Trumps Wirtschaftspolitik war ein bisschen verhuscht, seine zentrale Botschaft war allerdings gar keine wirtschaftliche, sondern eine kulturelle, dieses simple „Wir gegen die anderen‘-Zeugs. Deshalb fand seine Botschaft Anklang, und darum blieb sie konsistent, während alles andere, was er tat (seine eigentliche Politik) chaotisch war.

Penny, die Mutter der Familie und Ehefrau des Pastors, nimmt im Roman eine zentrale Rolle ein. Sie ist so etwas wie das Auge des Wirbelsturms. Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen viel Spaß gemacht hat, sie von der Kette zu lassen?

Ich liebe sie. Wenn man einen Roman schreibt, hat man all diese Theorien, all diese Pläne, was man machen wird. Am Anfang hatte ich nichts mit Pennys Perspektive vor. Sie sollte ein Rätsel bleiben, dieses Mysterium, bei dem sich der Leser fragt: „Was weiß sie?“ Als ich das Buch überarbeitete, wurde mir jedoch klar, dass ein bedeutender Teil der Geschichte fehlen würde, wenn ich sie nicht zu Wort kommen ließe. In gewisser Hinsicht könnte man sogar sagen, dass sie das Herzstück der Geschichte ist. Ich dachte, na ja, ich schreibe mal eine Szene aus ihrer Sicht und schaue, was passiert. Von da an wuchs ihre Figur und hat die ganze Geschichte verändert. Sie ist tatsächlich meine Lieblingsfigur im Buch.

Sie haben viel über das Genre des Film Noir geschrieben; zu spüren ist das in „Verdorrtes Land“ zum Beispiel an der sich unerbittlich drehenden Spirale der Gewalt. Sehen Sie sich selbst in einer Noir-Tradition? Country Noir?

Ich nehme an, dass ich das tue. Und ja, ich habe eine Menge Essays über Noir geschrieben, mehr als über jedes andere Thema. Aber ich muss zugeben, dass ich als Romanautor nicht allzu viel über die Tradition des Noir nachdenke. Ich bin von ihr durchdrungen, so wie ich von der Bibel durchdrungen bin. Beide beeinflussen mich, beide haben mein Verständnis von Geschichten, Charakteren, Konflikten und so weiter geprägt, aber ich denke nicht wirklich darüber nach, wenn ich schreibe.

In einem Ihrer Essays über den Film Noir weisen Sie auf „die einzigartige subversive Religionskritik des Film Noir“ hin. Richard Weatherford aus „Verdorrtes Land“ ist jedoch ein ganz anderer „bible-totin´ son of a bitch“ als der Reverend Harry Powell aus Charles Laughtons Meisterwerk „Die Nacht des Jägers“. Weatherfords einmaliger Seitensprung setzt die Abwärts-Spirale in Gang, ein Riss öffnet sich und heraus strömen „Heuchelei, Frauenfeindlichkeit und Selbstgerechtigkeit“. Ihre Kritik an der Religion ist nicht subversiv, sie ist stark und liegt auf der Hand. Ist die organisierte Religion in den USA nicht mehr so stark und einflussreich wie vor 60, 70 Jahren? Oder müsste Hollywood, wenn es die Rechte an Ihrem Roman kaufen würde, viel an diesem kritischen Impuls ändern?

Dies ist eine sehr komplizierte Frage, oder vielleicht sollte ich sagen, dass sie eine sehr komplizierte Antwort erfordert. In mancher Hinsicht hat die Macht der organisierten Religion in Amerika stark abgenommen. Zum einen gehen viel weniger Menschen in die Kirche. (Die Kirchenmitgliedschaft ist vor kurzem zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen unter 50 % gefallen.) Die Zahl der Menschen, die keiner Religion angehören, hat stark zugenommen, und unter den Menschen, die noch an Gottesdiensten teilnehmen, gibt es eine größere Vielfalt als je zuvor. Das relative Einfluss-Monopol, das die christliche Kirche früher auf die amerikanische Kultur und Moral hatte, hat also abgenommen. Aber genau dieser Verlust an kultureller Vorherrschaft hat innerhalb der Kirche eine existenzielle Panik ausgelöst und sie weiter in den politischen Bereich gedrängt, vor allem rechts, um die Macht wieder zurückzugewinnen. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen bis in die 1920er Jahre zurück und gewannen in den 50er, 60er und 70er Jahren an Boden, aber so richtig zusammengewachsen ist die Entwicklung erst in den 1980er Jahren mit dem Aufstieg des Reaganismus und der religiösen Rechten. Die Verschmelzung von rechten angebotsorientierten Wirtschaftskreisen und reaktionärem Fundamentalismus setzte sich in den Jahren der Clintons und der Bushs fort, erreichte unter Obama eine Art Fieberhöhe und hat heute in Form des Trumpismus einen Höhepunkt erreicht, der so weit geht, dass `weißer evangelikaler Christ´ Synomym ist für Republikaner . Das Verrückte an Trumps Beitrag zu diesem Zusammenhang ist, dass er vermutlich der weitaus unchristlichste Mann ist, der je im Weißen Haus saß. Hätte man 1980 jemandem gesagt, dass ein bankrotter Kasinobesitzer, der zum Gameshow-Host wurde und fünf Kinder von drei Frauen hat, dass der zum Bannerträger der christlichen Kirche werden würde, man hätte ihn in eine Gummizelle gesteckt. Aber genau da stehen wir heute. Es gab einmal eine Zeit, in der die Trennung von Kirche und Staat beide Institutionen schützte und beiden Macht und Einfluss verlieh. Ihre implosionsartige Verschmelzung ist Teil der größeren Krise amerikanischer Institutionen, wie der Presse oder des akademischen Bereichs, die ihre einstige Macht nun verlieren. Das ist besorgniserregend, weil zu Hauptnutznießern dieser Verschmelzung die großen Unternehmen und die Bundesregierung, insbesondere das Amt des Präsidenten, wurden. – Das alles wird nicht gut gehen.

Sehen Sie Einflüsse bestimmter Filme – alter oder neuer – auf Ihre Arbeit, insbesondere auf „Verdorrtes Land“

Hmm, ich bin mir da nicht sicher. Zumindest war ich mir solcher Einflüsse nicht bewusst, als ich schrieb. Es ist möglich, dass sich etwas aus Orson Welles‘ „The Stranger“ („Die Spur des Fremden“ / 1946) oder Harold Ramis‘ „The Ice Harvest“ (2005) eingeschlichen hat, denn ich mag diese beiden Filme sehr, und in beiden geht es um kriminelle Machenschaften, die sich in den Schatten der amerikanischen Kleinstadt abspielen.

Gibt es neben den offensichtlichen Einflüssen auf Ihr Schreiben – Woolrich, Jim Thompson, Cain usw. – auch Einflüsse aus der reichen Kriminalliteratur der letzten Jahrzehnte?

Ein Buch, das mir durch den Kopf ging, als ich „Verdorrtes Land“ schrieb, war der 2012 erschienene Roman „Dare Me“ von Megan Abbott, ein Noir über Highschool-Cheerleader. Eine Truppe von Highschool-Cheerleadern ist ein eher unwahrscheinlicher Schauplatz für einen Noir (und ein unwahrscheinliches Thema für mich als Leser), aber Abbotts meisterhafter Umgang mit Sprache fesselt einen so sehr in der Perspektive dieser Mädchen, dass man in ihre Ängste, ihre Eifersüchteleien und schließlich ihre Verbrechen hineingezogen wird. Mein Buch hat nichts mit Megan Abbotts Buch zu tun; ich wollte jedoch den Leser auf die gleiche Art und Weise faszinieren, so dass er auch ohne Beziehung zu der Welt der fundamentalistischen Religion dort hineingezogen wird.

Für „Verdorrtes Land“ haben Sie eine schwierige Form gewählt, nämlich die Geschichte vollständig in der ersten Person Singular der fünf Hauptfiguren und darüber hinaus im reinen Präsens zu erzählen. Warum diese besondere Form?

Drei verschiedene Ideen verschmolzen am Anfang zum Grundkonzept des Buches. Die erste Idee war die, eine Geschichte zu erzählen, die am Schwarzen Samstag spielt, dem Tag zwischen Karfreitag und Ostersonntag. (Dieser Tag hat mich schon immer fasziniert, denn Jesus war tot und alle Hoffnung verloren. Na ja, fast alle Hoffnung.) Die zweite war die, eine Geschichte über den Kampf zu erzählen, aus einem `Dry County´ ein `Wet County´ zu machen. Und die dritte Idee war die, eine Geschichte aus verschiedenen Ich-Perspektiven zu erzählen. Das könnte Spaß machen, dachte ich. Das floss alles problemlos zusammen, die Sache mit der Gegenwartsform kam jedoch erst, nachdem ich ein paar Kapitel geschrieben hatte und mir etwas falsch vorkam. Es fehlte eine gewisse Dringlichkeit, die ich für nötig hielt. Da sich fast alles an einem Tag abspielt, dachte ich: „Warum nicht im Präsens?“, und sobald ich es ausprobiert hatte, machte es klick.

–> zurück