Die Welt in verschiedenen Stadien des Zerfalls
Jon Bassoff im Gespräch mit Marcus Müntefering
Auf Ihrer Website nennen Sie sich selbst einen “gothic noir author”. Was meinen Sie damit?
Als Schriftsteller haben mich die Noir-Autoren der Vierziger- und Fünfzigerjahre stark geprägt, darunter James Cain, Dashiell Hammett und Jim Thompson. Aber auch die Autorinnen und Autoren des “southern gothic” wie William Faulkner und Flannery O’Connor sind ein wichtiger Einfluss für mich. Wenn Sie diese beiden Welten kombinieren, bekommen Sie einen ersten Eindruck davon, was meine Art zu schreiben ausmacht. Doch mit den Jahren haben mich auch die Schriftsteller des Surrealen wie Kafka, Bruno Schulz und Alfred Kubin in ihren Bann gezogen. Ich denke, dass ich versucht habe, diese unterschiedlichen Einflüsse zu kombinieren und dabei so krachend gescheitert bin, dass daraus mein ganz eigener Stil erwachsen ist.
Sie haben gerade Jim Thompson erwähnt. An ihn musste ich besonders denken, als ich “Factory Town” gelesen habe. Vor allem an “Savage Night”, einen seiner bizarrsten Romane, oder an das infernalische Ende von “The Getaway”. Wie groß ist der Einfluss Thompsons auf Ihre Romane?
In vielerlei Hinsicht ist Jim Thompson dafür verantwortlich, dass ich Schriftsteller geworden bin. Als ich das erste Mal “Der Mörder in mir” gelesen habe, änderte sich alles für mich. Ich kannte bis zu diesem Zeitpunkt nie etwas Vergleichbares. Ich war daran gewöhnt, sich bei Romanen auf die Erzähler verlassen zu können, und hier war der Ich-Erzähler ein totaler Psychopath. Ich bin mir nicht sicher, was das über mich aussagt, aber ich habe mich sofort in dieses Buch verliebt. Innerhalb des nächsten Jahres las ich sieben oder acht weitere seiner Romane und beschloss dann: Warum zur Hölle sollte ich nicht selbst schreiben! Und so fing ich einfach an. Zunächst habe ich Thompson kopiert, seine Plots, seine Erzählstrukturen, seinen Humor. Und auch wenn sich mein Stil mit den Jahren stark verändert hat, glaube ich, dass der Einfluss Jim Thompsons in jedem meiner Bücher spürbar ist. Lesen Sie “The Disassembled Man” , und Sie verstehen, was ich meine.
Neben Thompson musste ich bei “Factory Town” auch an andere Vorbilder denken, zum einen an Ambrose Bierce und seine Kurzgeschichte “An Occurrence at Owl Creek Bridge”, zum anderen an Adrian Lynes Film “Jacob’s Ladder” aus dem Jahr 1990. Mit einem Unterschied: Sie verraten von Anfang an, dass Ihre Geschichte in der Fantasie Ihres sterbenden Protagonisten Russell Carver spielt, setzen also anders als Bierce und Lyne nicht auf den plot twist am Ende. Kennen Sie den Film und die Kurzgeschichte?
Ja, beide. Aber ich denke, dass die Ähnlichkeit zu “Jacob’s Ladder” eher ein Zufall ist, während Bierce’s Geschichte tatsächlich ihre Spuren hinterlassen hat. Einen Twist, wie wir ihn zum Beispiel aus M. Night Shayamalans Horrorfilm “The Sixth Sense” kennen, wollte ich vermeiden. Zum einen, weil es schwer ist, damit durchzukommen, zum anderen, weil solche Twists oft sehr gewollt wirken, sehr ausgedacht. Für mich repäsentiert die Stadt in meinem Roman die Psyche des Protagonisten, und mit jedem Ereignis versteht der Leser (und Russell) mehr über seine finstere Vergangenheit. Es ist zwar möglich, denke ich, den Roman als relativ straighte Geschichte über einen Mann zu lesen, der auf der Suche nach einem verschwundenen Mädchen in einer Art Hölle landet, aber wenn man das Buch von Anfang an unter der Prämisse liest, dass Factory Town nichts anderes ist als eine Manifestation von Russells Bewusstsein, wird die Lektüre noch interessanter.
Factory Town ist total abgefuckt, die Stadt wirkt wie eine postapokalyptische Vorhölle. Als wäre es eine verdrehte und düstere Version der Welt von “Alice im Wunderland”.
Die meisten meiner Romane zeigen die Welt in verschiedenen Stadien des Zerfalls, aber so weit wie in “Factory Town” bin ich vorher noch nicht gegangen. Der Vergleich mit “Alice in Wunderland” ist aber sehr treffend. Mir ging es darum, eine Geschichte zu erzählen, die der Logik von Träumen folgt. Oder besser gesagt: von Albträumen. Gebäude tauchen auf und verschwinden. Figuren erscheinen aus dem Nichts und lösen sich ebenso schnell wieder auf. Mich reizen solche vagen, windschiefen Voraussetzungen, weil sie den verrottenden Seelen entsprechen, über die ich immer wieder schreibe. Um mich dafür in Stimmung zu bringen, habe ich mich intensiv mit den Kunstwerken der Surrealisten und der deutschen Expressionisten beschäftigt.
Tatsächlich besitzen viele Szenen in Ihrem Roman die Anmutung von großer, finsterer Malerei, auch Hieronymus Bosch und sein Triptychon “Der Garten der Lüste” oder Goya kamen mir des Öfteren in den Sinn.
“Factory Town” ist mein bildhaftester Roman – und vielleicht auch mein merkwürdigster. Viele Menschen finden ihn unentschlüsselbar, aber ich glaube, dass alle Teile vorhanden sind, um das Puzzle zu lösen. Tatsächlich war es eher ein Buch mit Fotografien, das mir, kurz bevor ich das Buch begonnen habe, in die Finger gekommen war, das mir den Weg gewiesen hat. Es heißt “Beauty in Decay” und zeigt psychiatrische Einrichtungen, ehemalige Zirkusse oder verlassene Industrieanlagen in verschiedenen Stadien des Verfalls. Die unheimliche Macht dieser Bilder hat mich umgehauen, und mir wurde klar, dass mein Roman in solch einer Welt spielen sollte. Und wenn wir schon auf Spurensuche sind: Kazuo Ishiguro hat mir mit “Die Ungetrösteten” gezeigt, dass man einen Roman schreiben kann, der konsequent einer Traumlogik folgt.
“Factory Town” ist nicht nur ein bildstarker, sondern auch ein sehr verstörender Roman. Es gibt Szenen voller Gewalt, die teilweise schwer zu ertragen sind. Wie hart war es, so etwas zu schreiben wie das Massaker an den Kindern – auch wenn es nur einen Teil der Psyche des Protagonisten repräsentieren mag?
Ich hatte einen anderen Schriftsteller um ein Zitat für das Cover von “Factory Town” gebeten. Er las das Buch und schrieb mir daraufhin eine Mail, in der er seiner Sorge um meine geistige Gesundheit Ausdruck gab. Er meinte das nicht als Scherz, er glaubte wirklich, ich sei auf dem Weg in die Dunkelheit. Zum Glück bin ich in der Lage dazu, meine Kunst von meiner geistigen Gesundheit zu trennen. Ich weiß, dass einiges, das meiner Fantasie entspringt, die Leser schockieren könnte, und deshalb halte ich mich beim Schreiben immer wieder selbst im Zaum. Gewalt gegen Kinder, dessen bin ich mir bewusst, kann bei Menschen etwas auslösen. Und es wird Leser geben, denen manche Szene in “Factory Twon” auf den Magen schlägt. Aber ich glaube nicht, dass die Gewalt im Roman Selbstzweck ist, sie ist immer aus der Geschichte heraus motiviert.
Also ist die Gewalt in Ihren Romanen nicht dazu da, den Lesern einen Kick zu verschaffen?
Die Welt ist ein gewalttätiger und grotesker Ort. Es hilft nicht, davor die Augen zu verschließen. Ich hoffe, dass die Leser sich von der Gewalt in meinen Büchern nicht abstumpfen lassen und dass sie ihnen keinen Spaß macht. Stattdessen möchte ich, dass sie eine Form von Empathie für die Opfer weckt und vielleicht ein besseres Verständnis dafür, was die Täter antreibt.
Inwiefern kann fiktionale Gewalt Menschen dabei helfen, mit dem Tod in der Realität klarzukommen?
Puh, eine große Frage. Ich weiß nicht, ob das der Fall ist. Aber ich denke, dass Horrorfilme oder Noirs Menschen dabei helfen können, sich mit größerer Ernsthaftigkeit und mehr Mitgefühl mit Themen wie Gewalt und Tod zu beschäftigen. Aber ich schreibe niemals, um eine Moral unter die Leute zu bringen, ihnen etwas beizubringen oder ihnen gar vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Mir geht es darum, dass sie sich mit der Geschichte auseinandersetzen, mit den Themen und den Symbolen. Ich möchte, dass meine Leser denken und fühlen. Und vor allem: Gott bewahre, wenn meine Protagonisten jemals zu Vorbildern für meine Leser werden.
Glauben Sie, dass jeder Mensch fähig ist, zu Gewalt zu greifen?
Ja, die Umstände können auch einen sanftmütigen Charakter in einen verzweifelten, gewalttätigen Menschen verwandeln. Wenn jemand die Verbindung zur Welt verliert und das Gefühl entwickelt, er habe nichts mehr zu verlieren, dann wird es gefährlich.