„Der Menschheit steht ein harter Job bevor“
Pascal Dessaint im Interview mit Ute Cohen
Klischees über die Menschen aus dem Norden gibt es viele. Enrico Macias‘ Lied „Les Gens du Nord“ oder der Film „Les Sch’tis“ sind überfrachtet mit Stereotypen. Inwiefern unterscheiden sich Ihre Protagonisten davon?
Klischees verwende ich überhaupt nicht. Im Roman Noir geht es um vom Leben gezeichnete Menschen. Meine Figuren hat das Leben nicht geschont. Sie leiden unter gesellschaftlichen Strukturen, die sich in emotionalen Schmerz verwandeln. Obschon das Buch von den Menschen im Norden handelt, könnte sich die Geschichte aber genauso gut im Süden zutragen oder in Deutschland, überall, wo Menschen vom System gebrochen sind. Der Norden, von dem ich erzähle, ist darüber hinaus alles andere als stereotyp. Es ist eine eher ungewöhnliche Region Frankreichs, nahezu exotisch.
Anatole, Loïc und Lucille sind Außenseiter. Welche besondere Kraft sprechen Sie Ihnen zu?
Außenseiter ja, aber nicht im Sinne von Aussteigern. Ihr Schicksal haben sie nicht selbst bestimmt. Sie wurden an den Rand der Gesellschaft gedrängt wider Willen. Im Gegensatz zu Aussteigern begehren sie nicht gegen die Gesellschaft auf und unterscheiden sich auch hinsichtlich ihres Werdegangs. Anatole hat eine Art „Karriere“ vorzuweisen, Lucille Schwäche ist ihre Stärke. In ihr spürt man eine Resilienz, die Fähigkeit auch zum Neubeginn. Loïc freilich startete bereits unter extrem ungünstigen Bedingungen ins Leben. Er besitzt einen unerschütterlichen Glauben an Erlösung. Bei allen stellt sich die Frage, ob ein neues Leben trotz widriger Umstände möglich ist.
Trotz prekärer Lebensbedingungen wirken sie nicht wie Opfer …
Ja, aber … Ab wann gilt man als Opfer? Das ist kompliziert. Meine Figuren sind gewiss stark, aber auch gebrochen. Wenn diese Figuren Opfer sind, dann nicht mehr als jeder andere, denn gesamtgesellschaftlich und global gesehen, befinden wir uns auf einem Irrweg. Während Lucille aber eine Chance hat, dass sich alles noch zum Guten wendet, befinden sich die Migranten, denen sie half, in einer weit misslicheren Lage. Diese sind zweifellos Opfer.
Deutet die Wohngemeinschaft der drei Hauptfiguren eine utopische Gesellschaftsform an?
Utopisch? (überlegt) Diese kleine Gruppe bildet ja nicht eine Gesellschaft ab mit Anwälten, Ärzten, einer Infrastruktur. In meinem Buch tun sich ein paar einfache Leute zusammen und bleiben unter sich. Vielleicht aber drückt diese Geschichte tatsächlich meinen Wunsch aus nach Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung. Höchstwahrscheinlich sogar wurde ich beim Schreiben von einer Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit getrieben. Nur in der Gemeinschaft kann man gesellschaftliche Herausforderungen bestehen. Wissen Sie, ich bin Naturforscher, insbesondere liebe ich Vögel. Die Vogelwelt ist für mich auch eine Metapher für Migration. Adler ziehen allein durch die Lüfte und überfliegen ganze Gebirge. Schwalben dagegen gelingt das nur im Schwarm. Biologisch gesehen ist es für eine Schwalbe unmöglich, diese natürlichen Hindernisse alleine zu überwinden. Zusammen aber sind Schwalben stark; gemeinsam gelingt ihnen scheinbar Unmögliches. Vielleicht ist es das, wovon ich träume. Die Menschheit kann sich nicht weiterentwickeln ohne gegenseitige Unterstützung. Wir sind angewiesen auf eine positive Wechselwirkung der Individuen innerhalb unserer Gesellschaft.
Steht Ihr Buch, was das Thema „Klasse“ betrifft, in der Tradition von Annie Ernaux oder Edouard Louis?
Meine Herkunft spielt gewiss eine entscheidende Rolle beim Schreiben. Ich bin und bleibe ein Nordlicht, ein Junge des Nordens, auch wenn ich lange schon in Toulouse lebe. Ich stamme aus der Arbeiterklasse, ich bin der Sohn eines Proletariers. Ich kenne dieses Milieu, die Bierbrauer, die Hafenarbeiter … Ich schreibe aus der Perspektive des Arbeiterkinds über Arbeiter, ja. Ich hoffe aber doch, dass das nicht militant wirkt! Ich selbst sehe mich als Roman-Noir-Autor, der den Schwächsten unter uns eine Stimme verleiht. Mit diesem Ansatz gehöre ich eher zu einer Minderheit unter den französischen Schriftstellern. Ich bin ein gesellschaftskritischer Autor. Mit dem Begriff der Klasse würde ich jedoch vorsichtig umgehen. Behutsamkeit und Menschlichkeit sind für mich entscheidend.
Die Situation der Flüchtlinge im „Dschungel“ von Calais beschäftigt Sie sehr. Wie geht Frankreich mit diesem menschlichen Drama um?
Unerträglich! Die Situation betrübt mich sehr. Dass ausgerechnet Frankreich, das Land der Menschenrechte, diese Menschen so schlecht behandelt, ist entsetzlich. Diese Situation bringt das Schlechteste aus dem Menschen hervor, da alle Beteiligten von der Situation überfordert sind. Die schlechte Kommunikation rund um Migration ist der Humus für die schlimmsten Ideologien. Viele Arbeiter sind nach rechts gewandert. Auch in Calais, wo sich das Lager befindet, gewinnen die Rechten an Stimmen. Man spielt mit dem Feuer dort. Wir dürfen diese Migranten, die der Traum von einem besseren Leben zu uns geführt hat, nicht entmutigen!
Gier ist omnipräsent in unserer Gesellschaft. Ist sie Teil der menschlichen Natur oder systembedingt?
Gier gehört wohl leider zur Wesensart des Menschen. Gier pflanzt sich von selbst fort und wird immer mehr Schaden anrichten. Auch die Natur ist dieser Gier ausgesetzt durch den Drang, immer mehr zu bauen, dem Meer immer mehr Land abzutrotzen. Wissen Sie, welches Wort ich verabscheue? (Pause) Wachstum. Als müsste man, könnte man unendlich wachsen! Wir gehören zu den Wirbeltieren. Wachstum ist da von Natur aus begrenzt.
Umweltschutz, Migration und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind nicht immer kompatibel. In ihrem Buch führt diese Spannung auf menschlicher Ebene bis in den Tod. Gibt es keinen anderen Ausweg?
Ich weiß nicht. Einerseits neige ich diesbezüglich zum Fatalismus, andererseits bewahre ich mir einen gewissen Optimismus. Ich neige dazu, zu glauben, dass ein tödliches Ende nicht unvermeidlich ist. Trotz Anatoles tragischem Schicksal ist das Buch von einer Helligkeit getragen. „No future“, dieser punkigen Haltung, einem Nihilismus kann ich allein deshalb schon nicht zustimmen, weil mein Sohn an der Schwelle zum Erwachsenenalter steht. Der Menschheit steht ein harter Job bevor. Der Zerstörungsprozess ist im Gange. Wir müssen gemeinsam den Todestrieb abwehren. Wir haben keine andere Wahl, auch wenn wir den Hoffnungsschimmer kaum mehr zu erkennen glauben.
Humor ist eine Kraftquelle … „Gabinerien treiben“ ist eine französische Redewendung, die sich auf den Schauspieler Jean Gabin bezieht. Ihre Protagonisten sind Fans von Gabin. Was fasziniert die Franzosen so sehr an Gabin?
Jean Gabin ist nach wie vor sehr populär. Er war ein außerordentlicher Schauspieler und ein geradliniger Mensch, jemand, der sich immer wieder aufgerappelt hat, der zu lieben wusste! Sein Verhalten auch im Zweiten Weltkrieg war exemplarisch. Gabin war ein Held! Mein Vater war ein großer Fan Gabins wie viele Arbeiter übrigens. Gabin machte den Leuten nichts vor. Das war sein großes Talent: Gabin war einer von ihnen. Was den Humor betrifft: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Man wird verrückt, wenn man seinen Humor vergisst – selbst in der schlimmsten Lage. Humor rettet uns.