Interview mit Ron Corbett zu „Preisgegeben“

Geführt von Ulrich Noller

 

© duqimages / Adobe Stock

Ihr Held, Frank Yakubuski, wer ist er eigentlich? Können Sie ihn uns kurz vorstellen?

Frank ist ein Polizist, der für die Springfield Regional Police in der Region Northern Divide arbeitet. Das ist eine Gegend, die von Nordkanada in die Great Plains in den USA führt. Meine Northern Divide ist eingebildet, ein Ort der Fiktion. Die Landschaft ist die gleiche – aber es gibt dort in der Realität keine Stadt namens Springfield. Frank ist im späten mittleren Alter und in der Gegend aufgewachsen.

Wie kam´s dazu, dass er ausgerechnet polnische Wurzeln hat?

Ungefähr zwei Stunden nördlich von Ottawa liegt die Stadt Wilno, die älteste polnische Siedlung in Kanada. Es gibt viele Polen im Ottawa Valley, und ich habe Sachbücher über Frank Kuiack geschrieben, einen alten Angelführer, dessen Familie aus Polen stammt. „Ragged Lake“ ist Frank Kuiack gewidmet. Er ist auch derjenige, der mich zum ersten Mal am Ragged Lake angeln ließ – es gibt tatsächlich einen See mit dem Namen, nicht weit von Wilno entfernt.

Die Handlung wird durch den Mord an einer „Squatter“-Familie ausgelöst. Was sind das für Leute? „Squatter“, den Begriff kennen wir hier in Deutschland nicht …

Kanada ist ein so großes Land, und so viel davon ist so spärlich besiedelt, dass man immer Menschen findet, die auf Land leben, das sie nicht besitzen. Diese Leute „hocken“ auf dem Land, daher kommt der Begriff „Squatter“. Wie Hausbesetzer in Deutschland, nur dass die Leute hier in Kanada halt ein Zelt auf freiem Land aufstellen, nicht eine Wohnung besetzen.

Wie sind Sie denn auf die Idee zu „Ragged Lake“ gekommen?

Die Idee war, einen Noir-Roman auf dem Land und vor allem: in Naturkulisse anzusiedeln. Ich habe einige Jahre drüber gebrütet – und weiß heute gar nicht mehr, was mich ganz am Anfang dazu gebracht hat, darüber nachzudenken.

Wem gehört das Land, das scheint mir das zentrale Thema Ihres Romans zu sein.

In Kanada ist das ein extrem wichtiges Thema; wie auch in Australien, Mexiko, den Vereinigten Staaten und jedem anderen Land mit einer Geschichte der Kolonialisierung. Wenn Sie Kolonisatoren und indigene Völker haben, haben Sie Konflikte, und der Konflikt dreht sich immer ums Land – sein Eigentum und seine Nutzung.

Ihr Roman ist ein wirklich tiefschwarzer Noir, würde ich sagen. Gibt es überhaupt Hoffnung?

Darf ich mit einem Songtext antworten:

Versteh´ ich Deine Frage richtig, Mann?
Alles hoffnungslos und verlorn?
Komm rein, sagte sie.
Ich schütz Dich vor dem Sturm.

Bob Dylan. Es ist niemals hoffnungslos. Sieht nur so aus.

Warum haben Sie denn den Noir für Ihre Geschichte gewählt? Es hätte ja auch jede andere Art von (Kriminal-) Literatur sein können …

Ich liebe den Noir. Jim Thompson ist einer meiner Lieblingsautoren. Raymond Chandler ist weiterhin eine Inspiration. Ich komme aus dem Bereich Journalismus/ Sachbücher, und ich denke, Noir ist ein realistisches Genre, das ehrlicher und wahrer ist als die meisten anderen Arten zu erzählen. Ich halte Detektivgeschichten nicht für sonderlich wahrhaftig. Cormac McCarthy – für mich einer der größten lebenden englischsprachigen Schriftsteller – sagte mal über magischen Realismus, dass er das Genre schätze, er bewundere Schriftsteller wie Garcia Marquez, aber gutes Schreiben müsse „realer als magisch“ sein. Chandler hat sich ähnlich geäußert, er schrieb die Erfindung des Noir dem „Wunsch bestimmter Schriftsteller zu, den Mord aus dem Salon herauszunehmen und ihn den Menschen zurückzugeben, die es am besten können“. Kurz gesagt: Noir rockt.

Die Geschichte führt auch nach Afghanistan und in den Bosnienkrieg. Warum das?

Frank hat beim Militär gedient. Kanada war an Militärkampagnen in Afghanistan und Bosnien beteiligt. Kanadische Truppen waren die ersten UN-Truppen in Sarajevo. Das gehört zu seinem Hintergrund.

Ja, aber warum hat Sie das interessiert? Hat das was mit der Universalität von Gewalt zu tun? Denn die Gewalt ist ja ein weiteres ganz zentrales Thema, das der Roman auch reflektiert, oder?

Ja, es hat etwas mit der universellen Natur von Gewalt oder der alltäglichen Natur von Gewalt zu tun. Ich wollte einen Protagonisten, der mit Gewalt vertraut ist und diese schon einmal erlebt hat. Ein militärischer Hintergrund schien für einen solchen Charakter selbstverständlich. Dass sein Werdegang Jahre in Afghanistan und Bosnien umfasst, sagt nichts über diese Kriege an sich aus, ob gut oder schlecht, ob richtig oder falsch. Es spiegelt wider, wo kanadische Soldaten in den 90er und frühen 2000er Jahren waren. Die Geschichte der Nervenheilanstalt in Bosnien war für mich allerdings ziemlich einfach zu schreiben, weil ich als Journalist in dieser Klinik recherchiert habe. Die Geschichte des folternden Mörderprofessors, der eine Revolte in der Psychiatrie angeführt hat, ist wahr. Größtenteils wahr. Ich habe ihn interviewt. Ich war ziemlich froh, dass der Professor dabei Handschellen trug. Ein gruseliger Mann.

Ihr Roman bietet eine sehr gut durchdachte Mischung aus Action und Reflektion. Was ist wichtiger?

Beides ist gleichermaßen wichtig. Ich denke, eine Geschichte muss sich bewegen. Eine wahre und ehrliche Geschichte wird das immer tun. Wenn sich eine Geschichte zu sehr mäandert oder zu sehr abschweift, hat der Autor letztlich wohl gar keine Geschichte zu erzählen. Gute Geschichten haben Action und gute Geschichten bewegen sich. Ich denke, Sie bekommen eine bessere Geschichte, wenn Sie über die Handlung nachdenken, den Plot, wenn Sie so wollen – und Meinungen, Beobachtungen usw. dazu montieren, wie auch immer. Intelligente Action ist für einen Schriftsteller, finde ich, auf jeden Fall ein lohnendes Ziel. Eins ohne das andere haben zu wollen, das funktioniert für mich nicht wirklich.

„Nature Writing“ ist im Moment ein großes Thema. Was bedeutet die Natur für Ihr Schreiben?

Ich habe immer Schriftsteller bewundert, die einen starken Sinn für Orte haben – Raymond Chandlers Los Angeles, James Lee Burkes Louisiana, Hemingways Cuba oder Nord-Michigan. Dies kann das Schreiben so bereichern! Das führt auf ein anderes Level – wenn es gut gemacht ist. Da ich ein kanadischer Schriftsteller bin, sind es bei mir Wälder und Seen und Wildnis, die sich über Hunderte von Kilometern erstrecken, Städte, die weniger als ein Jahrhundert alt sind, Meere, die sich bis zu unbekannten Horizonten erstrecken. Also ja, klar, die Natur ist wichtig für mein Schreiben.

Und für Sie persönlich, sind Sie viel draußen, eine Quelle der Inspiration?

Ich gehe raus so viel ich kann. Ich habe Boote und Anhänger und lebe an einem Fluss. Einer der größten Naturparks Kanadas – der Algonquin Park – ist drei Autostunden von meinem Haus entfernt. Ich fahre dorthin, um zu campen, Forellen zu angeln und die Gegend zu erkunden. Es ist ein schöner Park. Ich war immer wieder da, seit meiner Kindheit.

Wie prägen die Härte, die Kälte, die Einsamkeit Ihr Schreiben? Und wie viel kanadische Realität steckt in Ihrer Geschichte?

Viel. Das hat auch mit dem Argument zu tun, dass der Ort ein wichtiger Bestandteil des guten Schreibens ist. Die Frank Yakabuski-Geschichten sind kanadische Geschichten. Genauer gesagt: Es handelt sich um „nordische“ Geschichten. Ich denke, in meinem Schreiben kann man eine nordische Sensibilität erkennen. Magischer Realismus macht als lateinamerikanische Erfindung sehr viel Sinn. Diese Literatur ist exaltierter, wortreicher, lauter – es ist, wie in eine Disco zu gehen. Was natürlich Spaß macht, klar. Aber Schriftsteller aus dem Norden gehen nicht in Diskotheken. Sie verwenden kürzere Sätze, kommen schneller auf den Punkt und gehen immer davon aus, dass die schwierigsten Tage noch bevorstehen. Noir ist als literarisches Medium für nordische Schriftsteller absolut sinnvoll.

Wie haben Sie denn recherchiert für diese Geschichte?

Das meiste der Recherche habe ich schon früher erledigt, in den journalistischen Arbeiten. Als ich das erste Mal zur Northern Divide kam, war das für einen Magazintext, den Ragged Lake habe ich bei der Arbeit für einen Zeitungsartikel kennengelernt. Ich war also schon mit dem Material vertraut. Aber, ehrlich gesagt, ich frage mich sowieso, zu wie viel Recherche ein Romanautor überhaupt verpflichtet ist. Es ist Fiktion, richtig? Sollte man Stunden damit verbringen, den Namen eines Baumes richtig zu verstehen? Dazu noch eine letzte Raymond Chandler-Anekdote – in „The Long Goodbye“ wird ein Chauffeur ermordet, aber wir finden nie heraus, wer es getan hat. Der Mord wird mehr oder weniger vergessen. Ein Journalist fragte Chandler mal, wer denn nun der Mörder sei, und Chandler antwortete: „Himmel, ich habe keine Ahnung!“ Als er den überraschten Ausdruck auf dem Gesicht des Journalisten bemerkte, fügte er schnell hinzu: „Wieso? Finden Sie das wichtig?“

Die Handlung ist SEHR knifflig inszeniert. Wie wichtig ist Ihnen die Konstruktion für einen solchen Roman?

Diese Handlung entwickelte sich eigentlich während des Schreibens. Das erste, was ich schrieb, war der Epilog. Einige Geschichten sind so. Einige sind von Anfang an mehr geplottet. Ich weiß, dass dies eine mehrjährige Schreibkursfrage ist – planen Sie Ihren Roman im Voraus oder springen Sie von einer Klippe und hoffen, ein Flugzeug zu bauen, bevor Sie den Boden erreichen? Ich glaube nicht, dass es eine richtige Antwort gibt. Obwohl ich feststelle, dass ich weniger springe als früher.

Was hat es eigentlich mit den „Crazy Krauts“ auf sich?

Das ist eine wahre Geschichte: Während des Zweiten Weltkriegs hatte Kanada ein Kriegsgefangenenlager auf der Northern Divide. Dieses Lager befand sich neben einem Holzlager, und Männer aus beiden Lagern arbeiteten im Wald zusammen. Die Männer aßen in derselben Küche und arbeiteten auf denselben Holzständern. Erst nachts gingen sie in eine andere Schlafbaracke. Die Geschichte wird in „Ragged Lake“ erwähnt, um zu betonen, wie abgelegen das Land ist. Es gab keine Zäune im Kriegsgefangenenlager, nur ein paar Wachen. Zu entkommen hätte bedeutet, Hunderte von Kilometern durch unbewohnte Wildnis zu wandern, und niemand war verrückt genug, das zu versuchen. Nach dem Krieg heirateten einige der Gefangenen übrigens einheimische Frauen und ließen sich in der Gegend nieder. Scheint, dass es da einiges an „Verbrüderung“ gab …

Und was können wir noch von Ron Corbett und Frank Yakabuski erwarten?

„Cape Diamond“, die Fortsetzung von „Ragged Lake“ erschien letztes Jahr, „Mission Road“, der dritte Teil“, kommt jetzt im Frühjahr raus. Die beiden Bücher erzählen die Geschichte eines Diamantenraubes in Springfield – Diamanten, die später verschwinden, so dass alle möglichen Leute in den Norden kommen, um nach ihnen zu suchen. Ein paar großartige Bösewichte warten da auf die Leser, und man erfährt natürlich mehr über Frank Yakabuski und seine Familie.

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